Mir gehen viele Berichte unter die Haut. Aber selten so stark, wie der Brief von meiner Leserin Rebekka Schroth aus Weißrussland, wo sie als Lehrerin arbeitet. Er hat mich regelrecht aufgewühlt. Sie hat mir geschrieben auf meine Bitte hin, aus anderen Ländern über den Corona-Alltag dort zu berichten. Ihre Schilderung ist so stark und steht derart für sich alleine, dass ich das tue, was mir schwer fällt, und was ich öfter machen sollte: Mich einfach einmal jeden Kommentars enthalten und ihr Werk – ich benutze bewusst dieses Wort – für sich stehen lassen. Ich finde: Es ist ein beeindruckendes Dokument der Zeitgeschichte.
Ich schreibe Ihnen aus einer kleineren Stadt im Nordosten von Weißrussland an der Grenze zu Russland. Kürzlich las ich in Ihrem Telegramkanal den Erfahrungsbericht einer Leserin aus Polen. Ihre Bitte darum auch aus anderen Ländern zu berichten, brachte mich auf die Idee, von meinen persönlichen Eindrücken aus Weißrussland zu erzählen. Ich lebe und arbeite hier seit Ende August 2020 als Deutschlehrerin an einer weißrussischen Schule.
Das Leben läuft hier trotz Corona überwiegend normal weiter. Seit letztem November gibt es zwar eine Maskenpflicht in geschlossenen öffentlichen Räumen, sowie im Nah- und Fernverkehr, diese wird aber weder kontrolliert noch sanktioniert. Nicht alle Belorussen nehmen die Regel daher sehr ernst. So kann es durchaus vorkommen, dass die Maske unterm Kinn getragen wird, am Ohr hängt, ganz fehlt oder einfach so getragen wird, dass die Nase zum Atmen frei bleibt. Meine belorussische Kollegin erklärte mir die Regel so: „Man muss eine Maske dabei haben.“ Als ich kürzlich mit einer belorussischen Bekannten ein Einkaufszentrum besuchte und ich, wie gefordert, die Maske aufsetzte, schaute sie mich an und fragte völlig erstaunt: „Du trägst Maske?“ „Ja, ich bin wohl ziemlich deutsch.“ An der Kasse im Supermarkt oder vom Schaffner im Zug wurde ich allerdings auch schon an die Maskenpflicht erinnert. Niemals aber würden einen belorussische Mitbürger belehren. Eher noch würden sie einem ihre Maske anbieten, wenn sie sehen, dass man selber keine hat. So zumindest die Behauptung meiner belorussischen Kollegin. Tatsächlich aber wurde mir einmal in einem Restaurant, welches ich ohne Maske betrat, freundlich eine angeboten, anstatt mich zu unterweisen.
Ganz normaler Schulbetrieb
Ansonsten gibt es hier keine weiteren coronabedingten Einschränkungen, alles ist offen, alles findet statt, ohne Sperrstunde. Ich war in Minsk sowohl in einem Nachtclub mit Livemusik, in einigen Bars und Kneipen, als auch im Ballett. In meiner etwas hellhörigen Plattenbauwohnung kann ich zudem akustisch am Besuchs- und Partyleben meiner Nachbarn teilnehmen. Der Schulbetrieb läuft ungestört weiter. Zwar gibt es auch hier eine Maskenpflicht, aber nur für Lehrer und für diese nur im Flur und im Lehrerzimmer, nicht während des Unterrichts. Auch hier wird die Regel individuell ausgelegt, es kann also vorkommen, dass die Schulleitung selbst ohne Maske durchs Schulhaus läuft oder diese lediglich unterm Kinn trägt. Wenige Lehrer und Schüler tragen die Maske jedoch freiwillig während des Unterrichts. Das sind aus meiner Sicht meistens diejenigen, die sich an „Europa“ orientieren.
Bei den Kindern konnte ich jedoch häufig beobachten, dass sie diese nach einer gewissen Zeit wieder abnehmen. Vom ständigen Lüften im Klassenzimmer ist bei Temperaturen bis zu minus 20 Grad, wie wir sie dieses Jahr schon hatten, nicht die Rede. Manchmal ist die Luft in den Klassenzimmern sogar so abgestanden, dass ich dann schon mal die Fenster aufreiße. Coronafälle gab es an der Schule einige, sowohl unter den Lehrern, als auch unter den Schülern. Nicht alle Fälle waren getestete Fälle. Wer krank war, blieb zu Hause und kam wieder, wenn er gesund war oder frühestens nach 14 Tagen. Corona ging eben rum, wie sonst zu dieser Zeit die Grippe rum geht. In letzter Zeit hörte ich nicht mehr so häufig von Coronafällen, vielleicht ist inzwischen die Herdenimmunität eingetreten oder ich habe es einfach nicht mehr mitbekommen.
Es ist mehr die politische und die wirtschaftliche Situation des Landes, die die Menschen hier belastet. So zumindest die Aussage meiner belorussischen Schulleitung. Über Corona wird nicht besonders viel gesprochen, nicht wie in Deutschland, es wird keine Angst und keine Panik verbreitet, von Mutationen ist kaum die Rede. Allerdings muss ich sagen, dass ich sowohl mit Schülern, als auch Lehrern gesprochen habe, die, mit Blick nach „Europa“, sich mehr Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, wie etwa einen Shutdown, Homeschooling oder eine Maskenpflicht, die kontrolliert wird, wünschen. Eine Spaltung der Gesellschaft aufgrund von Corona gibt es aber nicht.
Nach den Erzählungen meiner belorussischen Kollegen und Bekannten legten die Belorussen wohl im Frühjahr viel Selbstdisziplin an den Tag und verbannten sich quasi selbst in den Shutdown. Auch die Schulen wurden von vielen Kindern nicht mehr besucht. Es war einfach nicht klar, wie gefährlich das Virus tatsächlich war. Inzwischen jedoch wurde mir von einigen erzählt, dass sie pandemiemüde seien, sich die Leichen nicht gestapelt hätten und die befürchteten hohen Todeszahlen, die man anfangs erwartete, ausblieben. Dennoch handeln viele Belorussen weiterhin verantwortungsvoll. Ich konnte häufig beobachten, dass so gut wie möglich versucht wird, Hygieneempfehlungen einzuhalten. Es gibt auch diejenigen, die weiterhin während dieser Zeit lieber kein Café oder keine Veranstaltung in geschlossenen Räumen besuchen. Aber freiwillig.
‘In unterschiedlichen Welten
Schaue ich dann manchmal die Nachrichten aus Deutschland an, kommt es mir so vor, als würde aus einer surrealen Welt berichtet, als würde ich einen surrealen Film schauen. Auch als ich an Weihnachten nach Deutschland kam, war ich schockiert darüber, was von vielen Menschen inzwischen als „neue Normalität“ akzeptiert wird. Da ich nur selten die Tagesschau schaue, geht die Propaganda an mir völlig vorbei. Komme ich dann mit Freunden oder Familie über Corona und die Maßnahmen ins Gespräch, habe ich häufig das Gefühl, dass wir in ganz unterschiedlichen Welten leben (was wir wohl auch tatsächlich tun). Erzähle ich zum Beispiel von dem Leben hier, und dass es außer der pro Forma Maskenpflicht keine Einschränkungen gibt, trotzdem aber nicht jeder jemanden kennt, der im letzten Jahr an Corona oder überhaupt gestorben ist, so will es mein Zuhörer oft gar nicht wissen, fragt nicht weiter nach, wechselt das Thema, ist nicht interessiert daran. Man will wohl nicht verunsichert werden und weiter dem Narrativ der Alternativlosigkeit glauben.
Als ich am Ende meines Heimaturlaubs schließlich mit dem Zug zum Flughafen fuhr, hatte ich noch eine surreale Begegnung. Da es früh am Morgen war und ich noch kaum gefrühstückt hatte, hatte ich zu Essen und Trinken dabei. Hierfür nahm ich die Maske ab. Sofort machte mich der Schaffner darauf aufmerksam, dass ich auch während des Trinkens die Maske aufzusetzen hätte bzw. diese nur just in diesem Moment abziehen könne, in welchem ich einen Schluck nähme. Ich hielt dies für ziemlich unpraktisch und auch nicht hygienisch und weigerte mich. Tatsächlich aber hatte ich die Entwicklung in Deutschland unterschätzt. Im Sommer war das Trinken im Zug noch möglich gewesen. Der Schaffner rief die Polizei. Von den Polizisten wurde ich nochmals darin unterwiesen, wie ich mit Maske zu trinken hätte. Mir blieb nur noch den Polizisten zu erzählen, dass ich momentan in einer Diktatur lebte, dort aber mehr persönliche Freiheiten hätte als in Deutschland. Daraufhin erwiderten sie, dann solle ich doch zurückkehren. Ja, das tat ich in diesem Fall gerne, doch nicht, ohne vorher nochmals in Konflikt mit der Polizei zu geraten. Denn ich hatte es mir erlaubt, mir die lange Wartezeit am Flughafen mit einem Cappuccino zu verkürzen und dabei wieder die Maske abgelegt. Schnell war die Polizei, die am Flughafen üppiger als sonst vertreten war, wieder vor Ort, um mich bezüglich der Maske und des Trinkens erneut zu belehren.
Ich muss sagen, ich war tatsächlich froh, als ich in die Belavia Maschine stieg und in die letzte Diktatur Europas zurückflog. In Minsk angekommen, suchte ich mir erst einmal ein Hotel, bevor es weiter in den Nordosten ging, verbrachte den Abend bei Pasta Arrabiata und einem Glas Rotwein in einem schicken Restaurant, schlenderte danach über den Weihnachtsmarkt, der bis weit in den Januar geöffnet hat, trank dort einen Glühwein ohne Maske und fühlte mich sehr frei. Als ich später einem Bekannten via Zoom von dem Vorfall berichtete, meinte er, er würde gar nicht mehr trinken, trinken sei zu gefährlich. Es entsetzte mich, mit welcher Selbstverständlichkeit und mit welcher Akzeptanz er dies sagte. Da lebe ich in einer Diktatur und muss mir von Deutschland aus mit aller Selbstverständlichkeit anhören, dass Trinken gefährlich sei, da die Polizei hart durchgreife. Also trinken kann ich hier so viel ich will, überall, sogar im Café. Auch im Zug kam bisher noch kein Schaffner auf die Idee, mir während des Trinkens die Maskenpflicht nahezulegen.
Sehr interessant war auch die erste Begegnung mit meiner belorussischen Schulleiterin im neuen Jahr, die Deutschlehrerin ist und daher Deutsch spricht. Etwas entsetzt fragte sie mich, was denn in Deutschland los sei. Sie hätte sich die Neujahrsansprache von Angela Merkel angehört, die sei ja schon sehr seltsam gewesen, sehr lang und es sei ja nur um Corona gegangen. Sie habe sich schon große Sorgen um mich gemacht und sei wirklich froh, dass ich es wieder heil aus Deutschland nach Belarus geschafft hätte. Hier hätte ich doch momentan mehr Freiheiten, als in Deutschland, fügte sie noch hinzu. Dem konnte ich dann allerdings nur noch zustimmen. Daraufhin nahm sie mich, froh um meine Rückkehr, in den Arm. Denn auch das ist hier möglich.
Natürlich gibt es hier im Land viele andere Probleme, die ich nicht geschildert habe, ich habe hier lediglich meine persönlichen Eindrücke im Umgang mit der Coronasituation beschrieben.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
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Aber ich sehe das als Ansporn! pic.twitter.com/bQJioHbEHK— Boris Reitschuster (@reitschuster) February 5, 2021
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