Auszug aus meinem Buch „Putins Demokratur“, erweiterte und aktualisierte Neuauflage von 2018
Bei der Aktualisierung dieses Buches wollte ich das Kapitel »Ausblick« neu schreiben. Doch beim Überarbeiten stellte sich heraus, dass der alte Ausblick von 2006 – leider – immer noch so aktuell ist, dass es an ihm bis auf ein paar Kleinigkeiten kaum etwas zu ändern gibt. Meine damalige Prognose ist ein erschreckender Beleg dafür, wie vorhersehbar die heutige aggressive Politik Russlands bereits vor Jahren war. Viele Stimmen in Deutschland sehen die Verantwortung für den aktuellen Konflikt mit Russland in der Politik von NATO und EU. Es sind oft genau die Gleichen, die sich seit zwei Jahrzehnten in der Einschätzung der russischen Politik irren, die Boris Jelzin für einen Demokraten hielten und ihn unterstützten, die ihre Augen vor den Gefahren der Fehlentwicklungen unter ihm und Putin verschlossen hielten. Das kam bei beiden als Signal von Zustimmung an, zu einer Zeit, als sie noch beeinflussbar waren. Ausgerechnet diese Leute, die sich selbst als »Russlandversteher« sehen, eint oft eine Geringschätzung für die Menschen in Russland, die sie nicht reif genug halten für die Errungenschaften moderner Demokratien. Sie gehen damit Putin auf den Leim. Ihre Beschwichtigungen sind für Russlands Rückkehr zu einer aggressiven, nationalistischen und autoritären Politik mitverantwortlich – weitaus mehr als die Annäherung oder Aufnahme von Russlands Nachbarn in NATO und EU.
Dass diese Aufnahme von vielen »Putin-Verstehern« als Zumutung für Moskau betrachtet wird, ist eine eklatante Verengung des Blickwinkels: Wer so argumentiert, betrachtet die Menschen in den Nachbarstaaten Russlands als Manövriermasse, über die andere zu entscheiden haben. In Moskau werden diese Stimmen aufmerksam verfolgt und über die Jahre bestätigten sie die Verantwortlichen in ihrem Irrglauben, sie könnten über ihre Nachbarn bestimmen, anstatt bei ihnen durch partnerschaftliche Zusammenarbeit an Vertrauen und Einfluss zu gewinnen. Es ist bemerkenswert, wie in diesem Zusammenhang Fakten entstellt werden. Geflissentlich ignorieren viele das Budapester Memorandum von 1994, in dem im Gegenzug zum Verzicht der Ukraine auf ihre Atomwaffen neben Großbritannien und den USA ausgerechnet Russland als Garant für die territoriale Unverletzlichkeit der Ukraine auftritt. Umso öfter wird stattdessen über ein angebliches Versprechen an Gorbatschow im Zuge der deutschen Wiedervereinigung berichtet, die NATO werde nicht erweitert. Gorbatschow selbst hat das dementiert. Ebenso Ex-NATO-General Klaus Naumann: So etwas sei damals auch »jenseits jeder Vorstellung« gewesen, da die Sowjetunion und der Warschauer Pakt noch existierten. Die angebliche Zusage ist nirgends dokumentiert und damit weder nachweisbar noch völkerrechtlich verbindlich. Zudem wäre sie gegenüber der Sowjetunion erfolgt, die zwischenzeitlich zerfallen ist, und die Erweiterung erfolgte nicht auf Initiative der NATO, sondern auf die der beitretenden Länder. Viele Kommentatoren übernehmen kritiklos die Moskauer Unterstellung, unser Bündnis sei eine Bedrohung für Russland. Das ist absurd. Es ist höchstens eine Bedrohung für die korrupte Machtclique.
Die Wahrnehmung des heutigen Russlands in Deutschland ist stark verzerrt. »Seit der Perestroika ging und geht die europäische Politik davon aus, dass sich die postsowjetischen Staaten auf dem Weg der Annäherung und Verflechtung mit dem Westen befinden. Dies war (und ist) eine attraktive, weil bequeme, Sicht«, mahnt der Berliner Osteuropa-Historiker Jan Claas Behrends. Sie sei aber verkehrt: »Gorbatschow und seine Mitstreiter waren eine historische Ausnahme. Es ist höchste Zeit, dass Berlin und Brüssel sich mit dem Russland beschäftigen, das uns gegenübertritt, und nicht mehr mit einem Land, das wir gerne sehen würden.«
Im Gegensatz zu Deutschland hat Russland seine totalitäre Vergangenheit unter Stalin nie in nennenswertem Umfang aufgearbeitet. Das Gedankengut und die Methoden der 1930er Jahre spuken deshalb immer noch in den Köpfen vieler Menschen herum. Der Osteuropa-Historiker Stefan Plaggenborg geht in der Frankfurter Allgemeinen vom 20. März 2014 so weit, Putin einen »russischen Duce« zu nennen: Seine Politik trage faschistische Züge, er inszeniere sich wie einst Mussolini. Solche Vergleiche sind heikel. Aber so falsch es wäre, Putin mit Mussolini gleichzusetzen, so gut sind wir beraten, ein wachsames Auge auf mögliche Ähnlichkeiten zu haben.
Wir müssen uns endlich bewusst machen, dass Putin die Giftkiste der 1930er Jahre wieder geöffnet hat. Die Geister, die er damit gerufen hat, sind kaum zu kontrollieren. Darüber darf uns nicht hinwegtäuschen, dass sie teilweise in neuen Gewändern erscheinen.
Wir müssen Putin verstehen, statt ihm Verständnis entgegenzubringen. Wir müssen uns eingestehen, dass er und seine Machtelite in einer ganz anderen Gedankenwelt verhaftet sind als wir; ohne diese Erkenntnis ist jeder Dialog zum Scheitern verurteilt. Wir müssen Putins Befindlichkeiten kennen, ohne sie uns zu eigen zu machen. Putin handelt nicht mehr rational; er fühlt sich und sein Land erniedrigt durch den Zerfall der Sowjetunion und träumt von Revanche. Er fühlt sich angegriffen. Nur wenn wir begreifen, was ihn prägte, wie er denkt und was hinter seinen Handlungen steckt, können wir Strategien finden, mit ihm umzugehen.
Wir müssen Putin klare Grenzen setzen, sonst wird sein Überfall auf die Krim nicht sein letzter gewesen sein. Man braucht nur auf der Landkarte nachzusehen, wo überall russische Minderheiten leben (gar nicht zu reden von den drei bis vier Millionen Russischsprachigen in Deutschland), um zu verstehen, wohin Putin sein Expansionsdrang noch führen kann. Selbst das bis vor kurzem noch Undenkbare – eine Militärintervention in einem NATO-Staat, etwa im Baltikum – ist nicht mehr auszuschließen. Dies wäre verheerend. Wir müssten entweder einen Krieg führen oder die Grundfesten unserer Politik wären zerstört. Deshalb müssen wir uns klarmachen: Wenn wir uns aus Angst vor kurzfristigen Verlusten scheuen, harte Sanktionen zu verhängen, werden wir langfristig einen hohen Preis zahlen. Putin selbst mögen solche Sanktionen inzwischen kaum noch beeindrucken. Sehr wohl werden sie aber auf seine Umgebung wirken, und Putin ist bei weitem nicht so allmächtig, wie viele glauben.
Wir müssen unsere Arglosigkeit ablegen. Dass sich kein nennenswerter Widerstand gegen die Übergabe deutscher Gasspeicher an Gazprom, also unserer Sicherheitsreserve, erhob, wirft die Frage auf, ob wir verlernt haben, unsere Interessen zu vertreten.
Wir müssen die Geschichte besser studieren, um seltener auf Propaganda-Fallen und Manipulationen aus dem KGB-Handbuch hereinzufallen – wie etwa ein vom FSB abgehörtes, privates Telefonat von Julia Timoschenko, das in unseren Medien so wiedergegeben wurde, dass der Eindruck entstand, es hätte sich um offizielle Äußerungen gehandelt.
Wir müssen aufhören, uns Illusionen über Putin zu machen. Im März 2014 waren einer Umfrage zufolge 54 Prozent der Bundesbürger der Ansicht, die Bundesregierung solle den Anschluss der Krim an Russland akzeptieren. 55 Prozent äußerten viel oder etwas Verständnis dafür, dass Kreml-Chef Wladimir Putin die Ukraine und besonders die Krim als Teil der russischen Einflusszone betrachtet.
Der Kreml-Chef spielt virtuos mit den Ängsten, Komplexen und Sehnsüchten der nach 70 Jahren totalitärer Herrschaft immer noch schwer traumatisierten Russen, indem er die Krebsgeschwüre der totalitären Vergangenheit zu Muskelmasse verklärt. Ebenso gut nutzen er und sein Propaganda-Apparat die Schwächen unseres Systems und bedienen sich der Sehnsüchte vieler Menschen im Westen nach einer anderen Politik. Dabei mangelt es ihm nicht an Helfern: Von Gerhard Schröder über Matthias Platzeck und viele Politiker der AfD und Linken bis hin zu dubiosen Aktivisten wie dem PR-Berater Christoph Hörstel mit seiner »Partei der Mitte« oder Dimitri Rempel mit der Retortenpartei »Die Einheit«; die sich an Russlanddeutsche wendet. Das Resultat ist verblüffend: »Der unprovozierte und unbegründete Angriffskrieg Russlands, der die europäische Friedensordnung aushebelt und gegen Buchstaben und Geist der UN-Ordnung eklatant verstößt, rückt in den Hintergrund«, klagt der Außenpolitik-Experte Ulrich Speck von Carnegie Europe in Brüssel: »Statt zu diskutieren, wie und warum es dazu kommt, dass Putins Russland nicht demokratisch und friedlich geworden ist, sondern autokratisch und aggressiv, und was wir dagegen tun können, diskutieren wir in Deutschland, was das Opfer der Aggression falsch gemacht haben könnte.«
Die Sympathie für Putin entspringt in vielem der Antipathie gegenüber den USA. So zitiert etwa Jakob Augstein mit unverhohlener Sympathie einen Satz aus der chinesischen Parteizeitung Global Times: »Russlands Widerstand gegenüber dem Westen hat globale Bedeutung.« Die NSA-Affäre, die Lügen und Fehler der USA, die Eskapaden von Donald Trump – sie sind überaus besorgniserregend. Dass der Grad der Empörung so hoch ausfällt, ist berechtigt, weil die USA ihre eigenen Ansprüche so eklatant verletzen. Dass viele sich über die Zustände in Russland weniger empören, weil sie geringere Erwartungen haben, ist ebenfalls nachvollziehbar. Aber dadurch sind uns die Maßstäbe verrutscht: Es war nicht Donald Trump, der ein Nachbarland angegriffen hat, dessen Gegner reihenweise ums Leben oder ins Gefängnis kommen, der verantwortlich ist für den Abschuss eines Zivilflugzeugs oder gemeinsam mit einem Massenmörder in Syrien Zivilisten massakriert. Die Missstände bei uns stehen in keinem Verhältnis zu Putins Unrechtsstaat, der Gesetze und Verträge im Inland und Ausland provokativ, systematisch und gewaltsam missachtet.
Wir müssen uns deshalb nicht nur umfassend mit Putins autoritärem System beschäftigen. Noch wichtiger ist es, dass wir ergründen, warum wir im Umgang mit seinem auf aggressiven Nationalismus, Willkür und Manipulation bauenden Staat derart überfordert sind. Putin schafft Tatsachen, während wir uns in Selbstbetrug und Selbstzweifel stürzen, seine Relativierungs-Theorien nachkauen und ausgiebig diskutieren, ob wir ein moralisches Recht haben, uns einzumischen. Wir haben es uns bequem gemacht in unserem Wohlstandsstaat und suchen die Wahrheit in der Mitte. Dabei warnte schon der Barockdichter Friedrich von Logau im 17. Jahrhundert: »In Gefahr und grosser Noth//Bringt der Mittel-Weg den Tod.«
Ausblick von 2006 (in Auszügen)
Die Feierstimmung ist verdorben, bevor der erste Tropfen fließt. »Gott sei Dank hat man diesem verrückten Saakaschwili das Handwerk gelegt und diese Jauche in Russland verboten«, empört sich mein Bekannter, als ich bei meiner Geburtstagsfeier georgischen Wein ordern will – vergeblich. »Vor ein paar Jahren hast du selbst noch gerne georgischen Wein gekauft«, halte ich dagegen. Das Lächeln verschwindet vom Gesicht meines Geburtstagsgastes. Er sieht mich entsetzt an, als wollte ich ihn attackieren. »Damals waren die Georgier noch nicht so aggressiv und haben uns Russen nicht bedroht«, sagt er und klingt dabei, als erwarte er jeden Moment ihren Angriff. »Wie soll das winzige Georgien eine Bedrohung für Russland sein?«, frage ich, doch er hört nicht zu und holt zur Gegenattacke aus: »Es reicht, dass ihr den Georgiern eure westliche Lebensweise aufzwingen wollt.« Sein Nachbar – vor fünf Jahren noch Demokrat – fällt ihm ins Wort: »Demokratie ist nichts für uns. Selbst im Tierreich gibt es nur drei Arten, die demokratisch leben.« Niemand am Tisch widerspricht.
»Bitte, lasst uns nicht über Politik sprechen, es ist doch mein Geburtstag«, flehe ich. Umsonst. Dass nach dem Mord an dem neunjährigen Mädchen aus Tadschikistan die Beteiligten nur wegen Rowdytums verurteilt wurden, sei gerecht, muss ich mir anhören. Schließlich habe man ihnen den Mord nicht nachweisen können. Die liberalen Medien würden den Fall aufblasen, um eine antirussische Stimmung zu erzeugen. Gerecht sei es hingegen, wie ein Moskauer Gericht ein paar Tage zuvor mit einer 21-Jährigen verfahren ist: Wegen des gleichen Strafbestands – Rowdytum – wurde sie zu einer längeren Haftstrafe verurteilt als sieben von acht Angreifern auf das Kind. Die junge Frau muss dreieinhalb Jahre ins Gefängnis, weil sie öffentlich den Rücktritt von Präsident Putin forderte – auf einem riesigen Plakat, das sie gegenüber vom Kreml aus einem Fenster des Hotels »Rossia« hängte. Das Urteil für die Putin-Gegnerin sei zu milde, weil sie mit einem Feuer- werkskörper hantiert habe und das ganze Hotel hätte abfackeln können, ereifern sich die beiden Geburtstagsgäste: »Sag bloß nicht, bei euch sei das nicht so! Andersdenkende werden bei euch genauso verfolgt!«
Moskau im Mai 2006. Wenn es um das Ausland und den Westen geht, ist die Stimmung so aufgeheizt, dass sie nicht einmal vor privaten Feiern Halt macht. »Russlands Problem ist doch nicht Georgien, und im Westen ist nicht alles genauso!«, gebe ich zu bedenken. »Ich habe noch nie im Leben in Deutschland Bestechungsgeld bezahlt, nie tagelang Schlange stehen müssen, um einen Pass zu bekommen oder die TÜV-Plakette«, sage ich. Doch einer meiner Widerredner schüttelt den Kopf: »Ich habe selbst gesehen, wie bei euch in Deutschland Neger verprügelt werden und die Polizei wegsieht.«
Der Blick ins Ausland lenkt ab von den Problemen im Inland: Von unglaublichen Geschichten, die man sehr oft zu hören bekommt wie jener, die eine junge, hübsche Kollegin vom Fernsehen flüsternd erzählt: »Die Ermittler haben mir gesagt, wenn ich mit ihnen schlafe, wird mir nichts passieren. Aber wenn ich mich weigere, mit ihnen ins Bett zu gehen, könne ich ins Gefängnis kommen.« Bei der Agentur der Moskauerin war – offenbar nach einem Fingerzeig der Konkurrenz – plötzlich aus heiterem Himmel die Miliz aufgetaucht und hatte die ahnungslosen Mitarbeiter allesamt ins Kreuzverhör genommen. Die junge Frau beißt sich bei der Erinnerung auf die Zunge, Tränen laufen ihr aus den Augen: »Das Schlimmste ist, dass du völlig rechtlos bist. Immer. Überall. Du bist den Beamten ausgeliefert wie Freiwild. Ich will nur eines: weg!«
Doch statt Rechtlosigkeit, Beamtenwillkür und Korruption ist heute die Bedrohung von außen in Russland das vorherrschende Thema: die Feinde ringsum. Unwillkürlich denkt man an Shakespeares Heinrich IV: »Beschäft’ge stets die schwindlichten Gemüter/Mit fremdem Zwist.« Unterdrückung schreit nach Ablenkung und Abenteuern jenseits der eigenen Grenzen, schreibt Josef in der Zeit.1 Tatsächlich sucht und findet die russische Gesellschaft ihre nationale Identität nicht mehr durch eine Idee oder ein soziales Projekt, sondern durch Feindbilder – die zwar auch die Sowjets eifrig nutzten, aber eben nur als Beigabe zum kommunistischen Heilsversprechen: Boris Jelzin ließ 1994 seine Truppen in Tschetschenien einmarschieren in der Hoffnung, ein kleiner, siegreicher Krieg würde von den innenpolitischen Problemen ablenken. Für Jelzins Wiederwahl zwei Jahre später wurde das Gespenst der kommunistischen Gefahr und eines möglichen Bürgerkrieges beschworen. Auch Putin kam im Jahr 2000 an die Macht, weil er als Verteidiger des Vaterlands gegen tschetschenische Terroristen kämpfte. Seine Wiederwahl vier Jahre später erfolgte im Zeichen der Yukos-Affäre und des Kampfes gegen die Oligarchen.
Im Sinne von Max Webers Herrschaftssoziologie ist Wladimir Putin ein charismatischer Herrscher. Sein Charisma beruht weniger auf persönlichen Eigenschaften als darauf, dass er in den Medien geschickt als Projektionsfläche für die Wünsche und Sehnsüchte der Russen, ihre Hoffnung auf ein Ende der Jelzin’schen Zeit der Wirren und Schwäche ein Wiedererstarken Russlands präsentiert. Das Image eines Politikers ist auch im Westen oft wichtiger als sein echtes Sein und Tun; in Putins Demokratur ist dieses Prinzip derart vorherrschend, dass die Bilder vielfach das Tun ersetzen. Putins medialer Nimbus ist aber nicht nur das Geheimnis seines Erfolgs, sondern auch sein Verhängnis. Die Menschen verlangen vor allem in Krisensituationen nach einem charismatischen Herrscher. Nur in einer Krise projiziert die Gesellschaft ihre Erwartungen und Wünsche auf eine einzige Führergestalt und verschließt sich gegen rationale Kritik. Charismatische Herrschaft ist deshalb frei nach Max Weber immer labil, weil sie die Ausnahmesituation, die Krise benötigt – oft in zunehmenden Dosen. Fehlt plötzlich die Bedrohung, erscheint der imposante Habitus charismatischer Herrscher schnell lächerlich, wenn nicht gar paranoid.2
Rechtzeitig vor den Wahlen im März 2008 werden in Russland bereits Monate vorher Drohkulissen gepflegt und aufgebaut. Nach dem Motto »Jedem sein Feindbild« präsentieren Medien und kremlnahe Politiker den Westen mitsamt Georgien und der Ukraine, die liberale Opposition und Homosexuelle als Bedrohung; gleichzeitig warnen sie vor einer faschistischen Gefahr. Die Machthaber gleichen damit einem Brandstifter, der sich über die Flammen beklagt – und Gefahr läuft, sie nicht in den Griff zu bekommen. Die Folgen eines solchen Feuers – und damit einer Destabilisierung Russlands – wären auch für den Westen verheerend. Die aggressive Außenpolitik Russlands, vor allem gegenüber den kaum weniger aggressiven Ländern Georgien und Moldawien, birgt schon heute das Risiko lokaler Kriege.
Wladimir Putin und seine Petersburger Weggefährten sind rational genug, um sich diesen Sachzwängen zu beugen. So ist die Sorge um das Ansehen im Westen und die westlichen Geschäftskontakte in Putins Demokratur vielleicht die wirksamste Bremse gegen ein Abgleiten in den Totalitarismus. Radikale Maßnahmen, wie eine öffentliche Überprüfung unerklärlicher Vermögen, die der Duma-Abgeordnete Wladimir Ryschkow dem Westen empfiehlt, sind vielleicht riskant – aber ein wichtiges Faustpfand. Der Westen muss seine Einflussmöglichkeiten nutzen, solange es nicht zu spät ist…
Putins Demokratur ist gekennzeichnet von einem Paradoxon: Auf der einen Seite ist ihr wichtigster Antrieb, dass die Elite nach Legitimation (und Kontenführung) im Westen strebt, auf der anderen Seite ist die Verurteilung und die Abgrenzung vom Westen ihr Leitmotiv und Lebenselixier. Egal, ob man von einem Milizionär geschlagen wird, ob man sich über die allgegenwärtige Korruption aufregt oder über die Zensur in den Medien: Wer in Putins Russland Kritik übt, bekommt in einem fort zu hören, im Westen sei doch alles genauso schlimm – und nur die Propaganda besser. So eine Pseudo-Argumentation ist die Folge der Indoktrinierung und etwa so vernünftig, als würde ein Arzt einem Kranken die Diagnose oder Behandlung mit dem Hinweis darauf verweigern, dass andere Patienten genauso krank seien. Der ständige Vergleich mit anderen Ländern, der Irrglaube, überall auf der Welt seien Willkür, Korruption und Unterdrückung gottgegebenes Recht der Herrscher, sind heute die wichtigsten ideologischen Stützpfeiler des Systems.
»Wo bleibt all das Pathos für die Achtung von Demokratie und Menschenrechten, wenn es um die Wahrung ihrer eigenen Interessen geht?«, fragte Putin im Mai 2006 bei seiner Rede an die Nation provokant in Richtung USA. Die liefern ihm mit ihrer häufig anzutreffenden Doppelmoral tatsächlich Steilvorlagen….
Kremlunterstützer beklagen, der westliche Blick auf Russland sei »geprägt von besserwisserischer Arroganz, Ignoranz im Umgang mit Fakten und hämischer Schadenfreude über den stolpernden Erzrivalen aus dem Kalten Krieg«. Die Welt etwa zeigt Sympathie für eine »autoritäre Etappe« – ein Rezept, das nach Ansicht von Historikern schon Nikolaus II. ins Verderben stürzte und zu Lenins Putsch führte. »Der Zar hätte seine Dynastie vielleicht re ten können, wenn er sich im ersten Jahrzehnt seiner Regierung … weg von der Autokratie hin zum konstitutionellen Regime bewegt hätte«, schreibt Orlando Figes in seinem exzellenten Buch Die Tragödie eines Volkes. Die Welt mahnt mit Blick auf Putin-Kritiker zu »Respekt für Russland«, bezeichnet russische Wähler als »käuflich« und äußert Zweifel, ob man sie »mit Urnengängen zwangsbeglücken« solle. Das wirft die Frage auf, wer mehr Respekt für die Russen aufbringt: solche Verteidiger des Kremlkurses, die glauben, die Menschen seien noch nicht reif, um ihr Schicksal selbst zu bestimmen, oder Kremlkritiker, die Demokratie einfordern. Die Russen haben tatsächlich höchste Achtung und Respekt verdient. Ob Kultur oder Wissenschaft, Herz oder Seele: Sie haben viele Gründe, stolz zu sein. Aber nicht auf ihre totalitäre Vergangenheit, wie es ihnen die Propaganda heute einbläut. Es ist ihr Verdienst, dass sie diese Vergangenheit – im Gegensatz etwa zu den Deutschen – aus eigener Kraft und friedlich überwunden haben. Sie mussten dafür einen hohen Preis zahlen: den wirtschaftlichen Zusammenbruch, das Chaos des Übergangs, das Zurückbleiben von Millionen Russen in den Staaten, die zu Ausland wurden.
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Text: br