Von Daniel Weinmann
Die Ausbreitung von Omikron kommt für die Ampel-Koalition wie gerufen, um bei den Corona-Maßnahmen aus dem Vollen zu schöpfen. Für Karl Lauterbach etwa stellt diese Virusvariante „alles in den Schatten, was wir bisher in der Pandemie gesehen haben“. Grund genug für den neuen Gesundheitsminister, dringend die Beschleunigung der Booster-Impfungen anzumahnen. Der Expertenrat der Bundesregierung stellt gar den „Zusammenbruch der gesamten kritischen Infrastruktur“ in den Raum.
Was Lauterbach und seine Expertenrunde allzu gerne verschweigen: In Südafrika, wo Omikron zuerst auftauchte, sinkt die Inzidenz schon wieder. „Verglichen mit der enormen Zahl an Infektionen befinden sich relativ wenige Patienten in den Krankenhäusern, gemessen an unseren Erfahrungen aus den vorhergegangenen Infektionswellen“, sagte Wolfgang Preiser, Leiter der Abteilung für medizinische Virologie an der Universität Stellenbosch, der „Welt“.
Omikron führt nicht zwangsläufig zur Apokalypse
Auch Angelique Coetzee, die die Omikron-Variante entdeckte, rät zur Deeskalation. In einem Gastbeitrag für die britische „Daily Mail“ zeigte sie sich überrascht über die heftigen Reaktionen in Europa: „Lassen Sie mich klarstellen: Nichts, was ich an dieser neuen Variante gesehen habe, rechtfertigt die extremen Maßnahmen, die die britische Regierung als Reaktion darauf ergriffen hat.“ Während in Europa Alarmstimmung herrsche, gebe es in Südafrika noch keine Überlegungen, neue Restriktionen oder Lockdowns zu verhängen.
Dass Omikron nicht zwangsläufig die unmittelbar bevorstehende Apokalypse bedeuten muss, zeigen inzwischen auch mehrere umfangreiche Analysen. Laut der Studie „Public Health Scotland“ aus Schottland etwa ist das Hospitalisierungsrisiko bei der Omikron-Variante zwischen 30 und 70 Prozent geringer als noch bei Delta. Die Autoren haben hierfür aktuelle Infektionszahlen und Hospitalisierungsraten mit früheren Wellen verglichen.
Zahl der Todesfälle deutlich niedriger als in früheren Wellen
Gemessen an der bisherigen Gefährlichkeit von Delta hätten demnach in der aktuellen Welle schon 47 Omikron-Infizierte in Schottland hospitalisiert werden müssen – de facto sind es bislang aber lediglich 15. Studienleiter Jim McMenamin schränkte indes ein, dass diese Ergebnisse noch nicht überbewertet werden sollten, zumal sich bislang auch noch vergleichsweise wenig vulnerable Patienten unter den untersuchten Fällen befanden.
Entwarnung gibt auch eine Untersuchung der Universität Hong Kong. Danach gelingt es dem mutierten Virus zwar besser als vorherigen Varianten, die Atemwege zu infizieren. Dafür gelangt es aber seltener und weniger in tiefes Lungengewebe, wo es den meisten Schaden anrichtet.
Derweil zeigt eine Studie des größten privaten südafrikanischen Krankenversicherers, Discovery Health, dass die Zahl der natürlichen Todesfälle deutlich niedriger ist als in früheren Wellen. Diese Untersuchung ist vorläufig und wurde und noch nicht von Fachleuten geprüft, deckt sich aber mit frühen Daten über das Verhalten von Omikron.
«Mein Gefühl sagt mir, dass Omikron einer Grippepandemie ähnelt»
Bei 78.000 Omikron-Fällen war das Risiko einer Krankenhauseinweisung um 29 Prozent niedriger als beim Wuhan-Stamm und um 23 Prozent niedriger als beim Delta-Stamm, was laut den Wissenschaftlern darauf hindeutet, dass die Impfstoffe ihre Aufgabe erfüllen. Nur jeder Zwanzigste der Infizierten wurde auf die Intensivstation eingewiesen, verglichen mit mehr als jedem vierten Delta-Patienten.
„Mein Gefühl sagt mir, dass Omikron der Art von Grippepandemie sehr ähnlich ist, auf die wir uns eingestellt haben – ein hoher Krankenstand in kurzer Zeit“, so Robert Dingwall von der Nottingham Trent University. Der Medizinsoziologe, der nicht zuletzt die britische Regierung in Sachen Corona beraten hat, ordnet die Ergebnisse so ein: „Die Omikron-Situation scheint immer absurder zu werden. Offensichtlich gibt es eine Menge Wichtigtuerei in Bezug auf die südafrikanische Wissenschaft und Medizin.“ Dabei seien ihre Spitzenkräfte fachlich denjenigen in einem höher entwickelten Land ebenbürtig.
Eine weitere Schlussfolgerung, für die Dingwall hierzulande vermutlich augenblicklich mit lebenslangem Berufsverbot belegt werden würde: „Mein Gefühl sagt mir, dass Omikron einer Grippepandemie ähnelt, auf die wir uns eingestellt haben – viele Krankheitsausfälle in kurzer Zeit, die die öffentlichen Dienste und die Wirtschaftstätigkeit beeinträchtigen werden, aber nicht so schwerwiegend, dass sie ein großes Problem für den [britischen Gesundheitsdienst] und das Bestattungsgewerbe darstellen.“
Pikant: Die ermutigenden Daten zu den Krankenhausaufenthalten kommen trotz der südafrikanischen Studie, die ebenfalls zeigt, dass der Impfstoff von Pfizer/Biontech weniger Schutz gegen Omikron bietet.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
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