Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung
Am 20. Januar wurde der 46. Präsident der Vereinigten Staaten in Washington D.C. vereidigt. Die Zeremonie fand gegen 12 Uhr mittags, also etwa um 18 Uhr unserer Zeit auf der Galerie des Kapitols statt. Ungefähr dort, wo sich eine Woche zuvor Woche wütende Trump-Anhänger Zugang ins Innere verschafft hatten. Einen Tag später kommentierte der Chefredakteur des ZDF Peter Frey die Ereignisse so: „Die US-Demokratie ist nicht gerettet, weil der Kongress Bidens Wahl bestätigt hat und Trumps Mob abgezogen ist. Der gescheiterte Staatsstreich zeigt, wie gefährdet die USA sind.“
Nun, vieles an dem früheren US-Präsidenten Donald Trump war und ist nur schwer zu ertragen. Aber das sollte eigentlich nicht rechtfertigen, ihn und seine Unwilligkeit, das Wahlergebnis zu akzeptieren, als Vehikel zu benutzen, um das deutsche Zerrbild vom Zustand der USA noch zu verstärken. Schon seit Längerem charakterisieren viele deutsche Wortmeldungen zum Thema Trump die USA als ein tief vom Rassismus zerrissenes Land, das seine wirtschaftliche Vorreiterrolle allmählich an die Chinesen abtreten wird. Als Nebeneffekt fällt dabei für den deutschen Leser oder Zuseher das wärmende Wohlgefühl ab, hier in der EU zu leben, wo die Dinge eben nicht aus den Fugen geraten, sondern geregelt sind.
Als Beweis hierfür gelten aktuell auch die Millionen Trump-Wähler, die diesem Mann nicht nur abermals ihre Stimme gegeben haben, sondern auch noch darauf bestehen, dass er gewonnen habe – anstatt die „Realität“, wie es die großen US-Medien nennen, anzuerkennen, und damit auch den Demokraten Joe Biden als legitimen 46. Präsidenten der USA.
Tatsache ist, dass die US-Demokraten, ihre Präsidentschaftsbewerber und ihre politischen Forderungen für viele Deutsche naturgemäß leichter nachvollziehbar sind als die Positionen der Republikaner. Denn die Demokraten sehen in den sozialstaatlichen Modellen Europas auch ein Vorbild. Im krassen Gegensatz dazu positionieren sich die Republikaner. Sie wollen nur „so viel Staat“ wie gerade nötig. Mehr nicht. Bloß keinen Sozialismus. Also nichts, was die Wirtschaft, die Innovationskraft und die Freiheit des Einzelnen einschränken könnte. Um so einen Unsinn umzusetzen, so ihre Position, wurde der Staat ja auch gar nicht erst gegründet.
Insofern geht der Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern tiefer. Und es ist bedauerlich, dass etwa die politischen Auseinandersetzungen um Obama-Care in Deutschland meist so besprochen wurden, als wären da egoistische Kapitalisten auf sich redlich sorgende Sozialdemokraten getroffen. Das sind sie zwar auch. Aber im Kern war es eine fast philosophische Auseinandersetzung um den Staatssinn als solchen. So möchte der prototypische Republikaner für den einzelnen Bürger maximal viele Freiheiten und einen Staat, der nur im äußersten Notfall eingreift oder dort, wo es unbedingt notwendig ist, etwas zu regeln, wie etwa im Straßenverkehr.
Und da ein derart eingedampfter Staat für uns Deutsche und auch für viele Europäer eine irritierende, manchmal vielleicht sogar beängstigende Vorstellung ist, fällt es uns gemeinhin schwerer, republikanische Präsidentschaftskandidaten und ihre Ziele zu verstehen. Umgekehrt sind uns die Demokraten geradezu vertraut und ihre Forderungen erscheinen vernünftig, plausibel und durchdacht.
Leider beleuchten viele deutsche Leitmedien die parteipolitische Differenz in den USA immer öfters so, als gäbe es da tatsächlich ein Falsch oder Richtig. Diese Tendenz hat sich in der Amtszeit von Donald Trump noch verstärkt. Das ist bedauerlich, denn es führt geradezu automatisch zu noch mehr Missverständnissen und immer weniger (gefühlten) Gemeinsamkeiten. Und das belastet auf kurz oder lang jede Beziehung. Auch die zwischen Ländern. Um das zu korrigieren, müsste sich der deutsche Mainstream dem Problem stellen. Wie in einer Paartherapie, wo man die eigenen Ansprüche zurückstellt, um den Standpunkt und die Bedürfnisse des anderen zu erkennen und zu verstehen.
Zugegeben, das ist in der realen Situation einer Ehekrise schon schwierig genug und wahrscheinlich noch einmal schwieriger, wenn der Partner eine schizophrene Persönlichkeit ist. Gespalten in Demokraten und Republikaner. Aber die gute Nachricht ist ja, dass wir die eine Persönlichkeitshälfte unseres Partners bereits nachvollziehen können. Nun wäre es an der Zeit, die USA in ihrer Gesamtheit zu begreifen.
Sehr weitreichendes Verständnis von Religionsfreiheit
Zur Gründungsgeschichte unseres NATO-Partners gehört etwa die Religionsfreiheit, was unter anderem darauf zurückgeht, dass die vormals britischen Kolonien mit Glaubensflüchtlingen aus Europa besiedelt worden sind. Aus dieser Vorgeschichte entspringt ein sehr weitreichendes Verständnis von Religionsfreiheit, das uns in Deutschland eher fremd ist, wenn man beispielsweise daran denkt, dass Scientology hierzulande von den Sektenbeauftragten beobachtet wird. In den USA ist der Verein dagegen als Glaubensgemeinschaft bzw. Religion anerkannt.
Aus diesem äußerst freien Verständnis der Religionsfreiheit heraus reagieren viele Amerikaner deutlich allergischer als wir, wenn die Religion politisiert wird wie zum Beispiel im Fall von Amy Coney Barrett, Trumps Kandidatin für den frei gewordenen Platz am Supreme Court.
Dass sich die Demokraten an Barretts juristischer Positionierung als Traditionalistin gestoßen haben, war aus Sicht der meisten Amerikaner eine politisch völlig legitime Beanstandung. Anders sah das mit der Kritik der demokratischen Senatorin Dianne Feinstein aus. Feinstein versuchte bei den Anhörungen zu Barretts Ernennung, die Richterin in die Ecke einer streng gläubigen, dogmatischen Katholikin zu schieben, die Kraft ihres Glaubens nicht befähigt sein könne zu einem Posten am Supreme Court. Diese Argumentation ist christlich geprägten Amerikanern übel aufgestoßen, auch weil sie darin einen Angriff auf die Religionsfreiheit als solche sahen. Andere mochten Feinsteins Vermutung nicht, Barrett könne bzw. werde ihren Glauben ganz automatisch über ihren Eid auf die Verfassung stellen. Denn damit zweifelte Feinstein im Umkehrschluss die Verfassungstreue von Millionen gläubiger Amerikaner an.
Dieser Aspekt des Gezänks um die Berufung der konservativen Richterin zum Supreme Court ist in den deutschen Medien allerdings untergegangen. Hier hob man eher darauf ab, dass Barrett dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Katholikin nicht wohlwollend, sondern kritisch gegenüberstünde und es womöglich schleifen oder gar ganz abschaffen wolle.
Nun ist die Frage der Abtreibung in Deutschland seit dem Beginn der 1970er Jahre soweit geklärt und geregelt, dass die Angelegenheit eigentlich nicht mehr zum großen Streit taugt. Teil des deutschen Arrangements ist es, dass die Krankenkassen bei Abtreibungen aus medizinischer oder kriminologischer Indikation die Kosten komplett und bei sogenannten „rechtswidrigen, aber straffreien Schwangerschaftsabbrüche“ einen Teil der Kosten übernehmen (z.B. für ärztliche Beratung oder Medikamente). Falls die verbleibenden Kosten dann immer noch nicht zumutbar sein sollten für die Einzelperson, werden sie teilweise auch von den Bundesländern getragen.
Für uns ist das Normalität. Für Amerikaner nicht. Dass die Demokraten in Richtung eines deutschen Schwangerschaftsabbruch-Rechts tendieren, lehnen viele gläubige Amerikaner als Zumutung ab. Diese Menschen sind nicht zwangsläufig militante Abtreibungsgegner, die das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich negieren; viele sind einfach nur gläubige Christen, die es ablehnen, auf dem Umweg ihrer Steuern oder Krankenkassenbeiträge Abbrüche zu finanzieren, die sie aus ethischen bzw. moralischen Gründen ablehnen.
Insofern stehen sich das Pro-Life-Lager (gegen Abbrüche) und das Pro-Choice-Lager (für die Wahlfreiheit) in den USA immer wieder auch in politischen Detailfragen gegenüber. Nun als Deutsche oder Deutscher reflexartig zu sagen „Ein Grund mehr, der für Obama-Care spricht“, zeugt nicht gerade davon, dass man sich auf die „Paartherapie“ eingelassen hat und die Position des anderen tatsächlich verstehen möchte. Darüber hinaus würde das Vorhaben, eine breit angelegte allgemeine Krankenversicherung für alle in den USA durchzusetzen, wohl spätestens dann scheitern, wenn ruchbar würde, dass mit ihr jetzt oder in Zukunft, ganz oder teilweise auch die Kosten von Schwangerschaftsabbrüchen abdeckt werden sollen.
Zuständigkeit der Bundesstaaten
Hinzu kommt, dass die USA genauso wie Bundesrepublik aus Teilstaaten besteht. Und diese pochen hier wie drüben auf ihre Zuständigkeiten. Und anders als bei uns, wo etwa Schwangerschaftsabbrüche oder die „Ehe für alle“ auf Bundesebene geregelt sind, fallen diese Themen auf der anderen Seite des Atlantiks ganz oder teilweise in die Zuständigkeit der einzelnen Länder bzw. Bundesstaaten. Das kann man falsch finden und einen „Flickenteppich“ schimpfen, aber es ist nun mal so. Und es hat sogar seine guten Seiten. Denn die bundesstaatlichen Kompetenzen schieben jedem bibelfesten Präsidenten einen Riegel vor, der seine ethischen Vorstellungen allen Amerikanerinnen und Amerikanern überstülpen wollte. Denn selbst wenn dieser Präsident im Senat und im Repräsentantenhaus über eine Mehrheit verfügte, ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass er bei dem einen oder anderen Bundesstaat, wollte er die Möglichkeit auf Schwangerschaftsabbrüche abschaffen wollen, auf Granit beißen würde. Solange, bis er zahnlos aufgeben müsste.
Es ist also ein großes Missverständnis, die Machtfülle eines amerikanischen Präsidenten vorschnell an seiner Außenwirkung zu messen. Dort, also außerhalb der USA, sind seine Befugnisse ohne Frage riesengroß. Er kann Flugzeugträger rund um den Erdball dirigieren, deren Feuerkraft ausreicht, um die Armeen ganzer Länder zu pulverisieren. Aber wendet sich dieser Muskelprotz dann nach innen, ist er in vieler Hinsicht doch nur ein Papiertiger in einem großen, weiten Land, dessen Alltag nicht von ihm, sondern von den jeweiligen Gouverneuren bestimmt wird.
Diese staatliche Konstruktion geht auf die Entstehungsgeschichte der USA zurück. Andere Staaten sind anders organisiert. Um das festzustellen, müssen wir Deutsche eigentlich nur einmal nach Großbritannien, die Niederlande oder Belgien schauen. Alles Monarchien, keine einzige Republik. Und die uns nächste Republik, die französische, ist staatlich wiederum völlig anders aufgebaut, als wir das von der föderalen und damit dezentralen Bundesrepublik gewöhnt sind.
Man sollte also die US-amerikanischen Verhältnisse erst einmal grundsätzlich verstehen, bevor man sie nassforsch mit Kritik überzieht und/oder Donald Trumps verbale Tiraden als Beweise dafür missbraucht, dass am System der USA etwas nicht stimmt und dass die Hälfte der Amerikaner ohnehin nicht ganz richtig tickt. Dieses Narrativ belegt eigentlich nur, dass wir unseren transatlantischen Partner, seine Biografie und seine Bedürfnisse nicht verstehen wollen. Dieser Will-nicht-mag-nicht-Reflex ist in der deutschen Presse leider bei jedem republikanischen Präsidenten der letzten 40 Jahre zu beobachten gewesen; Ronald Reagan war ein abgehalfterter Hollywood-Schauspieler; sein Nachfolger Georg Bush hat in Öl gemacht, war bei der CIA und hat gegen den viel cooleren Bill Clinton verloren; auf ihn folgte Bush-Sohn Georg W. Kein besonderes Licht. Zu blöde, um die Abkürzung der Internationalen Atom-Energie-Behörde (IAEO) auszusprechen. Und nun Donald Trump. Der Host einer Reality-Show, dessen Chancen, jemals US-Präsident werden zu können, so klein waren, dass er das Amt in einer Simpsons-Folge im Jahre 2000 bekleiden durfte.
Als die Comic-Dystopie zwanzig Jahre später dann Realität geworden war, machten sich deutsche Fernsehteams eilig auf in das unbekannte Land der Trump-Wähler. In der intellektuellen Einöde angekommen, kam ein Team dieser Entdeckungsreisenden mit einer Frauengruppe ins Gespräch. Das alleine war schon recht verwunderlich, weil es nicht so ganz zu den Vorrecherchen passen wollte, die belegen, dass gemeinhin weiße, männliche Amerikaner mit geringer Schulbildung Donald Trump anbeten und wählen. Nun standen da quicklebendige, freundlich lächelnde Rentnerinnen und freuten sich sichtlich, gleich einer Trump-Rallye beizuwohnen.
locker room talk
Der deutsche Erkundungstrupp konfrontierte die offenbar ahnungslosen Ladies mit Trumps frauenfeindlicher Grundeinstellung und seinem „locker room talk“. Worauf die Damen sich nicht etwa verschämt abwandten, sondern völlig abgeklärt Trumps Fehltritt einräumten. Dafür habe er sich ja auch, so eine der Damen, entschuldigt. Dieses Statement wollte der Erkundungstrupp nun doch nicht einfach so stehen lassen und bohrte wissbegierig nach: Wie man denn als Frau Donald Trump trotzdem wählen könnte? – „Ich habe ja nicht den Papst gewählt“, kam als Antwort zurück.
„Ich habe ja nicht den Papst gewählt.“ – Was für ein Spruch! Ein Spruch von großer Klarheit und sehr wertvoll in dieser Paartherapiestunde, denn die Damen hatten ja tatsächlich nicht den Stellvertreter Christi auf Erden, den Vorsitzenden einer Ethikkommission oder ihren heimischen Pfarrer gewählt, sondern den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Doch obwohl der Satz die Entdeckungsreisenden nicht nur auf diesen Fakt hinwies, sondern offenbar auch auf fehlerhafte Vorrecherchen zur Motivlage im Trump’schen Wahlvolk, ignorierte das angereiste Phoenix-Team dies und brachte sich so um einen wertvollen Erkenntnisgewinn. Und zwar den folgenden: Trump-Wählerinnen und
‑Wähler sind viel diverser, als es die Beiträge der deutschen Leitmedien vermuten lassen.
Ein Trend, der sich 2020 noch verstärkt hat. So wählten dieses Jahr in der Summe mehr Amerikaner Donald Trump als 2016, obwohl sie von CNN und den anderen großen Networks fast täglich auf dessen Fehltritte und seine Inkompetenz hingewiesen worden waren. Vier Jahre lang. Trotzdem kam der ungehobelte Immobilienmagnat auf 72.140.370 Stimmen. Im Wahlkampf gegen Hillary Clinton waren es nur knapp 63.000.000 gewesen. Das sind rund 9 Millionen „Idioten“ mehr oder eine Zunahme der den USA bescheinigten „Doofheit“ um mehr als 14 Prozent.
Gemessen an der Vorberichterstattung zum US-Wahlkampf in Deutschland sind diese Zahlen eigentlich kaum zu glauben, denn Trump lag hier wie in den USA in den Prognosen weit abgeschlagen hinter Joe Biden. Deutlich weiter abgeschlagen als gegen Hillary Clinton vier Jahre zuvor. Trotzdem konnte der Typ in den absoluten Zahlen 2020 zulegen und lieferte sich in der Wahlnacht ein so nicht prognostiziertes enges Rennen mit seinem demokratischen Herausforderer. Und nicht nur das. Der Typ legte sogar in der LGBT-Community zu. Aus der hatten 2016 nur etwa 16 Prozent für das Duo Trump-Pence gestimmt. 2020 waren es laut PinkNews 28 Prozent.
Ähnlich absurd mag sich für einen Konsumenten der deutschen Leitmedien die Gesamtentwicklung der Trump’schen Wählerschaft von 2016 zu 2020 lesen; hier die Veränderung der jeweiligen Anteile nach den vorläufigen Zahlen:
weiße Frauen + 5 %, schwarze Frauen + 5 %, Latino-Frauen + 3 %,
weiße Männer – 5 %, schwarze Männer + 4 %, Latino-Männer + 3 %.
Und auch die Trump-Unterstützer aus der Glitzer- und Glamour-Welt sind uneinheitlicher, als man hierzulande annehmen könnte. Neben der Schauspielerin Roseanne Barr und dem Hollywood-Urgestein Jon Voight steht etwa der Rapper 50 Cent hinter Trump, weil ihm die von Joe Biden angekündigte „Reichensteuer“ zu hoch ist, so die Frankfurter Allgemeine. Auf Instagram hatte der Rapper dazu erklärt: „Ist mir egal, ob Trump Schwarze mag. 62 Prozent sind einfach Wahnsinn!“
Ein Argument, das man nur sehr schwer in die hierzulande für Schwarze und aufgeklärte Weiße vorgesehene Black-Lives-Matter-Schublade hineinbekommt, weshalb man in den deutschen Medien auch nicht weiter auf 50 Cent einging. Aber auch dessen Kollege Kanye West unterstützte Trump. Zumindest bis er sich im Juli dieses Jahres selbst als Kandidat für das Weiße Haus ins Rennen brachte.
Planned Parenthood und 'weiße Supremacists'
In der Folge sprengte der schwarze Präsidentschaftskandidat und Ehemann von Kim Kardashian den mit viel Sorgfalt angelegten Schubladenschrank von ARD und ZDF. So erklärt West emotional und teils unter Tränen: „Ich bin pro-life, weil ich den Worten der Bibel folge.“ Entsprechend hart ging er dann mit der amerikanischen Organisation Planned Parenthood ins Gericht, die in den Bereichen Sexualmedizin, Gynäkologie und Familienplanung aktiv ist und Schwangerschaftsabbrüche unterstützt. Planned Parenthood seien „weiße Supremacists“, die „das Werk des Teufels tun.“
Während man in den deutschen Redaktionen noch recherchierte, wie man einen wütenden Schwarzen einordnen könnte, der Abtreibungsbefürworter für weiße Rassisten hält, legte West noch einen oben drauf. Auf die in Deutschland sehr positiv besprochenen Black-Lives-Matter-Proteste (BLM) anspielend erklärte der Rapper: „Black babies lives matter / Schwarze Baby-Leben zählen! Tausend schwarze Kinder werden jeden Tag abgetrieben.“ Das, so West, sei ein „Genozid“ und gegen den müsse man dringend etwas unternehmen.
Vermutlich, weil man weder die passende Schublade noch den passenden Sack zum Draufhauen für West in den seriösen deutschen Medien fand, ließ man den Rapper aus Übersee links liegen. Obwohl man daraus – für sich und seine Leser oder Zuschauer – hätte ableiten können, wie virulent und aktuell das Thema Abtreibung in den USA ist. Eine Erkenntnis, die die Welten des schwarzen Rappers Kanye West und die der weißen Richterin Amy Coney Barrett verbindet und nicht trennt. Daran hätte man des Weiteren ableiten können, wie fließend die angeblich so eindeutigen Fronten in den USA tatsächlich sind. Das Amerika von ARD und ZDF, in dem ungebildete bibelfeste weiße Christen, alle mit einem Brett vorm Schädel und angeführt von Donald Trump, in ein Mittelalter mit Rassendiskriminierung und ohne Schwangerschaftsabbrüche marschieren wollen, während coole Schwarze aufgeklärt und weltoffen pro-choice und Joe Biden predigen, gibt es schlichtweg nicht.
Amerika, das sollte man sich als Europäer vielleicht mal hinter die Löffel schreiben, ist 1776 entstanden als Gegenentwurf zu den Staaten Europas. Staaten, in denen die Bürger Untertanen waren. Staaten, die ihren Untertanen vorschrieben, an welchen Gott sie zu glauben hatten, und die ihren Untertanen gerade eben nicht das Recht einräumten, Waffen zu tragen. Von ein paar altersschwachen Jagdflinten für den Eigenbedarf mal abgesehen. Erst wenn man diesen Umstand zulässt, versteht man ansatzweise, warum die Amerikaner bis heute auch ein für uns völlig unverständliches Waffenrecht haben.
Eigentlich, so könnte man meinen, müsste es ja nun auch eine Pistole tun. Fünf bis sieben Schuss, mehr braucht man wohl kaum zur Selbstverteidigung gegen Einbrecher, Grapscher und Klapperschlangen.
Schutz gegen Tyrannei
Das ist wohl wahr, aber die US-Amerikanerin und der US-Amerikaner tragen ihre Waffe eben nicht nur, um sich in dem weiten Land persönlich sicher zu fühlen. Sondern auch, weil die Gründungsväter ihre Bürger bewaffnet sehen wollten. Auf diese Weise wollte man eine Tyrannei ausschließen. Nun kann man dem natürlich entgegenhalten, dass diese Gefahr nach über 200 Jahren doch inzwischen gebannt sein sollte. Aber hören Sie sich mal folgendes Gegenargument eines Waffenbesitzers in den USA an: „Wenn alle Deutschen, als Hitler an die Macht kam, bewaffnet gewesen wären, hätten sich die Juden verteidigen können, oder?!“
Ich würde mal behaupten, da hat der Waffennarr einen Punkt. Und nach dem Aufschlag wird es dann verdammt schwer für einen Europäer und gerade für einen Deutschen oder Österreicher, so weiter zu argumentieren, wie er es aus den eigenen Leitmedien gewohnt ist: „Aber Sie müssen mir doch Recht geben, dass man wenigsten die militärischen Sturm- und Schnellfeuergewehre verbieten sollte angesichts so schrecklicher Schulmassaker wie dem in Parkland oder dem in Columbine.“
Kann sein, dass der Waffennarr seinen Gesprächspartner aus Europa dann anschaut, die Augen zusammenkneift wie Clint Eastwood, und sagt: „Erklären Sie das mal sechs Millionen toten Juden.“
Spätestens hier, nehme ich an, wird der universitär gebildete Deutsche dann doch einmal in sich gehen, um zu konstatieren, dass die Gefahr einer Tyrannei nicht nur am Ende des 18. Jahrhunderts in den USA bestanden hat, sondern dass es solche Regierungsformen in der jüngsten europäischen Geschichte gleich dutzendfach gegeben hat. Auf dem Pfad der inneren Erkenntnis dort angelangt, ist die eben noch paradoxe These, dass Sturmgewehre in der Hand von Bürgern auch ein Mehr an staatlicher Stabilität und Sicherheit gewähren können, dann nicht mehr so leicht von der Hand zu weisen.
Und – so unglaublich es klingen mag – selbst das US-Wahlrecht ist nicht so unsinnig, wie es alle Jahre wieder zur Wahlnacht in den deutschen Leitmedien rüberkommt.
Zugegeben, auf den ersten Blick erscheint ein Wahlrecht aus dem Jahre 1776 nicht gerade hypermodern. Auch irritiert es den an das Mehrheitswahlrecht nicht gewöhnten Deutschen, denn die Amis wählen erst einmal in ihrem Bundesstaat. Der dortige Sieger erhält dann alle Wahlmänner- bzw. Wahlfrauenstimmen des Staates zugesprochen, während die Verliererstimmen allesamt unter den Tisch fallen. Danach, also wenn alle Bundesstaaten ausgezählt sind, weiß man, welcher Präsidentschaftskandidat wie viele Wahlmännerstimmen auf sich vereinigen kann und somit die Wahl gewonnen hat. Nun ist er oder sie bis zur offiziellen Amtseinführung im folgenden Januar der „president-elect“.
Zelebrierte Ungerechtigkeit
Das sind natürlich ideale Voraussetzungen für viele deutsche Medien, um das Verfahren selbst zwar in Wort und Grafik zu erläutern, aber ohne dabei auch nur den geringsten Verdacht aufkommen zu lassen, es sei zeitgemäß. Höhepunkt dieses Erklärrituals, das alle vier Jahre aufs Neue zelebriert wird, ist dann die ernst vorgetragene Erkenntnis, dass der siegreiche Kandidat in diesem Verfahren nicht zwangsläufig auch von der Mehrheit der Wähler gewählt worden sein muss. So geschehen bei Bush-gegen-Gore und Trump-gegen-Clinton. Spätestens bei dieser offenkundigen Ungerechtigkeit hat man dann auch den letzten deutschen Fernsehzuschauer an der Angel, denn so ein Wahlrecht würde der nicht mal im Kleingärtnerverein akzeptieren.
Allerdings hat dieses komplizierte, ungerechte und veralte Wahlsystem der USA auch einige Vorteile, die allerdings nahezu nie erwähnt oder in den Kontext gestellt werden:
- Es funktioniert seit fast 250 Jahren, was für eine gewisse Stabilität spricht. Das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland hat dagegen erst 71 Jahre auf der Uhr, weshalb der eine oder andere deutsche Journalist das US-amerikanische Präsidentschaftswahlrecht vielleicht mal mit etwas mehr Demut erläutern sollte. Es sind immerhin noch fast 180 Jahre, bis wir den heutigen Stand der Amis erreicht haben.
- Die Anzahl der Wahlmännerstimmen, die jeder Bundesstaat an den siegreichen Kandidaten vergibt, stellt kleinere Bundesstaaten besser als größere. So kommen auf eine Wahlfrau oder -mann in bevölkerungsstarken Staaten wie Kalifornien oder Texas mehr als 600.000 Einwohner, während es im kleinsten US-Bundesstaat gerade einmal halb so viele sind. Einen ähnlichen Vorteil für kleinere Bundesstaaten gibt es bei den Senatoren. So entsendet jeder Staat unabhängig von seiner Bevölkerungsgröße je zwei Senatoren in den US-Senat. Diese Gewichtung mag auf den ersten Blick unsinnig erscheinen, aber sie gewährleistet lang- und mittelfristig, dass nicht einige wenige bevölkerungsstarke Bundesstaaten die US-Politik bestimmen und so eine Vielzahl kleiner Staaten einfach ignorieren.
- Darüber hinaus zwingt das US-Wahlrecht die jeweiligen Kandidaten um die Präsidentschaft dazu, die Fläche des ganzen Landes zu bereisen und politisch zu beackern. Das wäre bei einem Verhältniswahlrecht anders. Hier könnte sich ein Kandidat oder eine Kandidatin nur auf die Bevölkerungshochburgen, beispielsweise an den Küsten, und damit auf nur wenige Staaten konzentrieren und gewinnen. Das würde aber mittel- und langfristig die Regionen, wo weniger Menschen leben, von der Politik in Washington D.C. und damit von der Union entfremden.
Insofern macht das Präsidentschaftswahlrecht für die USA, die ein großes Flächenland mit fünf kontinentalen Zeitzonen sind, durchaus Sinn. Und man sollte es als Europäer auch als Gesamt(kunst)werk betrachten, also mit dem Senat und dem Repräsentantenhaus zusammen. So benutzen die Amerikaner, ähnlich wie die Briten, etwa das bei uns eher verpönte Mehrheitswahlrecht („the winner takes it all“), um klare Ergebnisse zu schaffen – man könnte fast sagen, um sie zu erzwingen – und eine parteipolitische Zersplitterung in viele kleine Akteure zu verhindern. Für Letzteres benutzen wir in der Bundesrepublik die 5-Prozent-Hürde.
(Notfall-)Machtfülle im Alltagsgeschäft
Sind die klaren Verhältnisse dann hergestellt, ist die staatliche Konstruktion darum bemüht, dem Präsidenten in der kurzfristigen Exekutive – also bei einem Notfall oder im Krieg mit dem Ausland – möglichst viel Macht und Spielraum zu geben, während man ihm in der mittel- und langfristigen Perspektive gleich zwei legislative Kammern gegenübergestellt hat, welche seine kurzfristige (Notfall-)Machtfülle im Alltagsgeschäft stark begrenzen und den mächtigen Mann oder die mächtige Frau zu Kompromissen zwingen.
Das kann man als deutscher Beobachter natürlich immer noch schrecklich kompliziert und wahnsinnig veraltet finden, aber damit tut man weder sich noch seinen Lesern oder Zuschauern einen Gefallen. Statt ein Wahlrecht, das fast 250 Jahre Praxis hinter sich hat, leichtforsch abzutun oder in Grafiken mit einem Gott-is’-das-kompliziert-Tonfall zu erklären, könnte man es ja mal mit demselben Sendungsbewusstsein erläutern wie die degressive Proportionalität des Europawahlrechts. Die ist auf den ersten Blick auch nicht völlig logisch, absolut gerecht und leicht herzuleiten. Trotzdem stehen die deutschen Leitmedien hier der Tatsache, dass ein deutscher Abgeordneter 828.000 Einwohner repräsentiert und einer aus Luxemburg gerade einmal 82.000, recht positiv gegenüber und erklären die Gründe dafür gerne. Diese Gern-heit wäre bei der einen oder anderen Besonderheit in den USA auch mal angeraten.
Stattdessen konnte man im Sommer beim ARD-Presseclub einen Journalisten vernehmen, der erklärte, die USA seien 1776 ja gar nicht aus einer „Revolution“ hervorgegangen. Man habe damals nur die bisherige britische „Elite“ durch eine nun amerikanische ausgetauscht. Von seinen Kollegen kam zu dieser These kein Widerspruch. Man hätte ja beispielsweise einwenden können, dass man mit der Freiheit ja irgendwo mal anfangen musste und dass das Motto der Bostoner „Tea party“ schon eine Ansage im Sinne von mehr Bürgerbeteiligung gewesen ist: „No taxation without representation“. – Immerhin! Kein europäischer Monarch hätte sich solche Töne damals zu Hause bieten lassen.
Und die, die sich da gegen eine weitere Bevormundung aus London ohne politische Mitsprache wehrten, hatten obendrein noch eine ganz eigene Vorgeschichte. Bruchstücke davon findet man noch heute auf den blau-roten Wahlkarten von ARD und ZDF. Etwa den „Battleground State“ Pennsylvania.
Der Name geht auf einen Vorschlag von William Penn (1644–1718) zurück, der den Landstrich eigentlich „Sylvania“ (vom lateinisch silva „Wald) taufen wollte. Doch der britische König Charles II. hatte was dagegen und nannte das Gebiet 1681 lieber zu Ehren von William Penns Vater „Pennsylvania“.
Proteste gegen die Sklaverei
Sohn Penn war in seiner Heimat allerdings deutlich weniger angesehen als sein Vater. Er war Quäker und sein Glaube veranlasste ihn, erst sein Mutterland zu verlassen und dann zu dem, was er selbst das „heilige Experiment“ nannte und was das damalige Pennsylvania umfasste. Hier setzte er ein Regierungs- bzw. Verwaltungssystem durch, das auf „Brüderlichkeit“ und persönlicher Freiheit für Siedler und Indianer beruhte. Mit seinem ungewöhnlich liberalen Wahlrecht und der vollen Religionsfreiheit war Penns System seiner Zeit weit voraus, auch wenn er selbst Sklaven besaß und mit ihnen Handel trieb. Behauptungen, dass er die Sklaverei abgelehnt habe, kamen zwar immer wieder auf, können aber nicht durch seine Schriften belegt werden. Allerdings bildeten sich bereits zu Penns Lebzeiten unter den Quäkern Pennsylvanias die ersten Gegner der Sklaverei heraus. Und so kam es 1688 unter der Führung von Francis Daniel Pastorius (1651–1720), einem deutschen Lehrer, Anwalt und Dichter, zu den ersten öffentlichen Protesten gegen die Sklaverei in der Neuen Welt.
Insofern waren große Teile der revolutionären Amerikaner nicht einfach nur eine „Elite“, die 1776 das Ruder in einer britischen Kolonie in die Hand nehmen wollte, weil sie es satt hatte, britische Zölle auf ihren Tee zu bezahlen. Es waren auch Glaubensflüchtlinge, denen Moral, Religionsfreiheit und ein selbstbestimmtes Leben wichtig waren. Für sie war Pennsylvania schon vor der Gründung der USA ein anderes, ein besseres Land. Besser als das Europa, das sie verlassen hatten und das von Fürsten und Bischöfen regiert wurde.
Gemessen an Penns und Pastorius’ historischen Leistungen hätte man sich also schon ein bisschen Widerspruch in der Qualitäts-Runde der ARD zur lässig vorgebrachten These, die USA seien 1776 ja gar nicht aus einer Revolution hervorgegangen, gewünscht. Allerdings mag das Ausbleiben eines Widerspruchs auch daran gelegen haben, dass sich die Runde den Protesten nach dem Tod von George Floyd gewidmet hatte und dass man eben auch nicht bestreiten kann, dass die Bill of Rights nicht für schwarze Sklaven galt. Allerdings tat das auch nicht die 13 Jahre später in der Französischen Revolution verfasste Erklärung der Menschenrechte. Richtig übersetzt war sie de facto nur eine „Erklärung der Rechte der männlichen Bürger in Frankreich“ und kein einziger schwarzer Sklave in den französischen Überseebesitzungen hat durch sie seine Freiheit erlangt. Aber eine solche Feststellung gebietet sich wohl nicht angesichts der deutsch-französischen Freundschaft.
Ich persönlich finde es geradezu traurig, mit welcher Leichtfertigkeit deutsche Medien die Geschichte der USA entwerten und die Hälfte der US-Bevölkerung in eine Ecke stellen. Dorthin, wo Klimaleugner Benzin fressende Autos fahren, Chlor-Hühnchen und Gen-Mais produzieren, sonntags morgens in die Kirchen rennen und abends auf einer Trump-Rallye herumgrölen. So ein Amerika-Bild macht sich zwar gut als Schnittmontage. Trump-Rallyes da und Rassenproteste dort. Wut und Elend neben Waffennarren, Neonazis und Kapitalisten. Und der Zuschauer oder Leser fühlt sich dabei nicht nur gut informiert, sondern auch besser – besser als Mensch und besser aufgehoben in einem Land, das sowohl ein vernünftiges Waffengesetz als auch ein gerechtes Wahlsystem hat. Trotzdem tragen solche Berichte mit keinem Bild und keiner Silbe zum tieferen Verständnis der USA bei. Stattdessen fördern sie Entfremdung, Unkenntnis und eine selbstgefällige Besserwisserei.
Genau die gehört nicht gerade zu den schützenswerten Eigenschaften der Deutschen. Trotzdem tun wir so, als läge der Stein der Weisen ausgerechnet in unserem Vorgarten. Tut er nicht. Da steht ein Gartenzwerg.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Gregor Amelung ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Shutterstock
Text: Gast
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