Ein Jahr des Schreckens und des Grauens Unpopuläre Betrachtungen zum Krieg

Bei besonders einschneidenden Ereignissen erinnert man sich ein Leben lang, wo man davon erfuhr. Die Nachricht von den Terroranschlägen am 11. September 2001 erhielt ich beim Einkaufen bei IKEA in Moskau. Am 24. Februar 2022 wurde ich gegen sechs Uhr früh geweckt mit der Nachricht vom Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine.

Seither ist alles anders. Ich habe sowohl in der Ukraine als auch in Russland viele Freunde. Das Leben der meisten von ihnen ist auf den Kopf gestellt. Die einen sind vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen, die anderen vor der Einberufung aus Russland. Oder vor Inhaftierung wegen Kritik am Krieg, der so nicht genannt werden darf.

Der Krieg hat auch Deutschland tief gespalten. Und auch diejenigen, die unserer Regierung kritisch gegenüberstehen. Auch ich habe viele Leser und Unterstützer verloren. Ich weiß: Das ist ein Kinkerlitzchen gegenüber dem Leid, das den Menschen in der Ukraine widerfahren ist und immer noch widerfährt.

Für mich war es dennoch ein großer Schock. Ich war und bin überzeugt: Man kann Putin, Russland und die Ukraine unterschiedlich beurteilen. Man kann auch durchaus die USA und den Westen kritisieren – ich tue mit unserer Regierung ja kaum etwas anderes. Man kann auch darüber, was zu diesem Krieg führte, unterschiedlicher Meinung sein.

Täter-Opfer-Umkehr

Was mir allerdings schwer fällt zu akzeptieren, ist, wenn ein Angriffskrieg gerechtfertigt wird und man das Opfer zum Täter erklärt und umgekehrt. Die psychischen Mechanismen dahinter sind klar. Sie ähneln denen, die man auch bei Vergewaltigungen und anderen Straftaten erlebt. Auch da kommt es immer wieder vor, dass Menschen mehr Sympathie für den „armen Täter“ haben, den man verstehen müsse, und sich ihr Zorn auf das Opfer richtet – weil das den Täter „provoziert“ habe.

Erstaunlich ist, dass so eine Denkweise vor allem in Deutschland verbreitet ist, und in anderen Ländern weniger. Ob der naheliegende Verdacht, dass dies damit zu tun hat, dass wir uns als „Tätervolk“ fühlen, zutrifft, wage ich nicht zu beurteilen.

Vor einem Jahr haben selbst diejenigen, die davor durch Verständnis für Putin aufgefallen sind, wie Gabriele Krone-Schmalz, Sahra Wagenknecht oder Gregor Gysi sich eindeutig vom Kreml-Chef distanziert, eigene Fehler bei seiner Beurteilung eingeräumt und den Überfall in klaren Worten kritisiert.

Ich reibe mir regelmäßig die Augen, wenn ich jetzt sehe, wie sich die Stimmung gedreht hat. Die Verteidiger Putins spüren eindeutig wieder Oberwasser. Und viele von ihnen sind besonders lautstark dabei, den Täter zum Opfer zu machen. Und dem Opfer das Recht abzusprechen, sich zu wehren.

Mindestens genau traurig macht mich, dass der Krieg in der Ukraine und die Einstellung zu Putin generell für viele Menschen zu einer Glaubensfrage geworden ist. Genauso wie vorher – oft unter umgekehrten Vorzeichen – beim Thema Corona.

Ein Stück der deutschen Pathologie

Immer wieder muss ich an die Warnung des Historikers Winkler denken, der von einem „intellektuellen Absolutismus“ spricht: „Die deutsche Debattenkultur trägt Schlacken der absolutistischen Zeit, Spuren der Parole: Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein. Diese Art politischer Debatte im Geiste der Religionskriege ist ein Stück der deutschen Pathologie.“

Leider musste ich das massiv am eigenen Leib erfahren. Für mich ist es schwer zu verstehen, wenn Menschen nicht damit leben können, dass ich beim Thema Putin eine andere Meinung habe als sie. Zumal ich meine ja nicht aus der Luft greife – sondern 16 Jahre in Moskau gelebt habe, Putin selbst mehrfach traf und mich äußerst intensiv mit seinem Leben und Wirken auseinandergesetzt habe.

Putin selbst sagte einmal, dass KGB-Leute ihre Zunge nicht haben, um ihre Gedanken auszudrücken, sondern um sie zu verschleiern. Das gelingt ihm sehr gut. Die Kommunisten in Russland glauben, er sei einer von ihnen. Ebenso die Stalinisten. Und die Gläubigen. Und im Westen die Konservativen. Putin hat viele Gesichter.

Ich verlange von niemandem, dass er meine Überzeugung teilt, dass Putin überaus gefährlich ist, weil in seiner Person KGB und Mafia zusammengewachsen sind und er seit zwanzig Jahren ganz auf Krieg fixiert ist und die Geister der Vergangenheit, der grausamen 1930er Jahre, wieder aus der Gifttruhe der Geschichte geholt hat. Nur ein Beispiel: 2008 schlug er der polnischen Regierung vor, gemeinsam die Ukraine zu zerschlagen und unter sich aufzuteilen. Weil sie ein „künstliches Gebilde“ sei. Ich habe sein Denken und sein System ausführlich in meinem Buch „Putins Demokratur“ beschrieben und will es hier nicht wiederholen. Eine Quintessenz in einem kurzen Video finden Sie hier.

Das Buch, in dem ich – leider – schon 2006 alles vorhersage, in aktualisierter und erweiterter Ausgabe von 2018.

Auch wenn es mir schwerfällt: Ich akzeptiere und respektiere es, wenn Menschen, auch solche, die sich wenig mit Russland befasst haben, alles ganz anders einschätzen als ich. Oder Putin gar für einen Konservativen oder Gläubigen halten. Frei nach Voltaire: Meine Meinung ist Ihrer entgegengesetzt, aber ich werde alles dafür tun, dass Sie Ihre frei äußern können.

Genauso wenig wie ich meine Überzeugung verleugnen werde, werde ich sie zur „Wahrheit“ überhöhen, missionarischen Eifer an den Tag legen und Menschen mit anderer Meinung als „Ketzer“ diffamieren – wie das ja heute in Politik und Medien üblich ist.

Berliner Mauer

Ich akzeptiere und respektiere es ebenfalls, wenn Menschen hinter allen Übeln unserer Zeit die USA sehen. Auch wenn sie dabei außer Acht lassen, dass die Berliner Mauer gebaut wurde, weil Millionen aus dem Teil Deutschlands, der von einem diktatorischen Russland beherrscht wurde, in den Teil fliehen wollten, in dem US-Truppen standen. So sehr ich mich wundere darüber, dass dies einige vergessen haben, so wenig käme es mir in den Sinn, jemanden deswegen zu beschimpfen oder ihm die Freundschaft aufzukündigen.

Erst kürzlich sprach ich mit einem hochintelligenten Wissenschaftler über den Krieg in der Ukraine. Wir hatten ganz unterschiedliche Sichtweisen. Was uns nicht am freundschaftlichen Austausch hinderte. Für den Wissenschaftler war das Thema keine Glaubensfrage, wie es das leider für viele ist. Er war für Argumente offen. Vieles von den Innenansichten aus Moskau, die ich ihm schilderte, waren außerhalb seines Vorstellungsvermögens, wie er ganz offen und geschockt sagte. Was ich auch bestens verstehe.

Totalversagen der Medien

Ein Argument von mir hat ihn, wie er sagte, überzeugt. Mehr noch: Er sagte, er habe dieses Argument bisher so nicht gehört oder gelesen. Was ich für ein Totalversagen der Medien – auch der kritischen – halte. Mich selbst eingeschlossen. Dieser Moment in dem Gespräch mit dem Wissenschaftler war für mich auch der Auslöser, diesen Artikel hier zu schreiben.

Hier nun also das Argument, das ihn überzeugte: Ganz egal, wie die Vorgeschichte des Konflikts ist, ganz egal, wer die Schuld trägt, oder die Hauptschuld, und welche Fehler die Ukraine und die USA gemacht haben – leider werden sehr viele Länder und Völker auf dieser Welt sehr ungerecht behandelt. Das ist zu bedauern, ist aber leider Realität. Ebenso wie es Realität ist, dass wir in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang einen – wenn auch kalten – Frieden nicht deshalb hatten, weil wir plötzlich alle zu besseren Menschen geworden sind. Sondern nur aus einem einzigen Grund: Weil allen klar war, dass sich Krieg nicht lohnt, dass man mit ihm nichts gewinnen kann. Aber alles verlieren.

Krieg wieder als Erfolgsmodell?

Diese Einsicht, dieser Konsens, war die Grundlage für den Frieden in Europa. Auch der tragische Jugoslawien-Krieg bestätigte diese Einsicht. Wenn nun allerdings Wladimir Putin mit seinem Angriffskrieg Erfolg hat, wenn er auch nur einen Teil seiner Kriegsbeute behalten kann, ist die Lektion daraus klar: Man kann mit Krieg in Europa wieder Erfolg haben.

In einem Kontinent wie unserem, wo kaum ein Land nicht irgendwelche Gebiete verloren hat, wo es unzählige schlummernde Konflikte gibt, wäre damit die Büchse der Pandora geöffnet. Morgen könnte Polen Teile der Ukraine und von Weißrussland zurückfordern, Ungarn weite Teile der Nachbarländer, Deutschland große Teile Polens, Teile Russlands und Frankreichs, Österreich Südtirol, Italien Teile Frankreichs, Finnland Teile Russlands, die Türkei die Krim, Rumänien Moldawien … die Liste ließe sich schier endlos fortsetzen.

Was heute absurd klingt, könnte morgen grausame Realität sein. Mit dem Angriff auf die Ukraine war es nicht anders.

Ganz egal, wie man zu Putin steht, zu den USA und zur NATO: Wenn Angriffskriege wieder ein Erfolgsmodell werden, dann kommen wir in Teufels Küche.

Das Pazifismus-Dilemma

So sehr ich Verständnis habe für den deutschen Pazifismus, dem ich selbst vor meiner Zeit in Russland anhing, und so sympathisch er mir menschlich ist: Der Denkfehler besteht darin, dass er nicht funktioniert, wenn andere weiter auf Krieg setzen. Mit Pazifismus wäre Auschwitz nicht zu befreien gewesen. Und Hitler nicht zu besiegen.

Ich weiß, das ist schwerer Tobak. Aber ich finde: Man darf – umso mehr als Journalist – seine Überzeugungen nicht verleugnen, um nicht anzuecken. Seinen Lesern nach dem Mund zu reden, finde ich genauso schlimm, wie diese belehren oder bevormunden zu wollen.

Ich bin überzeugt: Die große Mehrheit meiner Leser ist durch und durch demokratisch und versteht, dass Meinungsunterschiede das Lebenselixier der Demokratie sind. Und sie sieht die Aufgabe eines Journalisten nicht darin, sie immer und in allem in ihrer Meinung zu bestätigen – sondern auch einmal unbequeme Denkanstöße zu liefern und Zweifel zu säen.

Putins Angriff auf die Ukraine hat zu einem deutlichen Rückgang der Unterstützung geführt. Ich finde das bedauerlich, aber respektiere es. Umso mehr freue ich mich über Unterstützung von Lesern, die sagen: Ich will unbequemen Journalismus, der niemanden nach dem Mund redet. Jetzt erst recht! Solche Unterstützung ist für mich auch „moralisch“ – wie man das auf Russisch nennt – außerordentlich wertvoll und hilft mir, nicht am Wahnsinn unserer Zeit und den „Religionskriegen“, die wir erleben, zu verzweifeln. Dafür ein ganz, ganz herzliches Dankeschön!
Aktuell ist (wieder) eine Unterstützung via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.

„Wir sind ein Sieger-Volk, das haben wir in den Genen“ – Moskaus Sicht auf Krieg und Frieden:

YouTube player

„Für Wladimir in den Endkampf“ – russisches Propaganda-Video:

YouTube player


Bild: Drop of Light/Shutterstock

mehr zum Thema auf reitschuster.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert