Ex-Vize-Verfassungsgerichtspräsident kritisiert Corona-Politik scharf "Man kann Gesellschaften auch zu Tode schützen"

In einem Appell an den Bundestag kritisiert der frühere Vize-Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof die aktuelle Corona-Politik. Neben der Gesundheit gebe es auch noch andere Grundrechte, so der Staatsrechtler in einem Interview mit der „Welt“, das leider nur hinter einer Bezahlschranke zu lesen ist. Der Schlüsselsatz Kirchhofs in dem bemerkenswerten Beitrag: „Man kann Gesellschaften auch zu Tode schützen“. Vor Kirchhof hatte bereits der frühere Präsident des Karlsruher Verfassungsgerichts die Corona-Politik von Bund und Ländern massiv kritisiert (siehe hier).

Er sei, je länger die Corona-Lage andauere, mit den Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes „nicht ganz glücklich, weil sie die möglichen staatlichen Eingriffe nicht mit den entgegenstehenden Rechtsgütern und Belangen von Gesellschaft, Wirtschaft und Individuen“ abwägen, so Kirchhof gegenüber der Zeitung. Ihm fehle „die Beteiligung des Parlaments an der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und der ihnen entgegenstehenden Rechtsgüter.“ Es sei die „feststehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Bundestag selbst diese Austarierung bei einer Beschränkung von Grundrechten übernehmen“ müsse, so der frühere Verfassungsrichter weiter.

Auf die Frage der „Welt“, warum sich der Bundestag generell eher auf die Rolle eines Beobachters beschränke in der aktuellen Krise, antwortete Kirchhof, dass sich die Abgeordneten offenbar scheuen Entscheidungen zu treffen, die sie unbeliebt machen, und sich lieber wegducken: „Das Parlament ist der Souverän. Es entscheidet, ob und wie es etwas tut. Und es kann eben auch entscheiden: Wir tun nichts oder wir tun wenig. Ein Appell liegt mir mit Blick auf künftige Pandemien allerdings am Herzen: Wir erleben jetzt eine exzeptionelle Situation. Und ich wünsche mir sehr, dass die ergriffenen Maßnahmen auch exzeptionell bleiben – und nicht als Muster für die nächste Hongkong-Grippe herhalten. Mit der Begründung ‘Auch da gibt es Tote und Kranke‘ ließe sich das Infektionsschutzgesetz auch in diesem Fall durchdeklinieren.“

Nach Abklingen der aktuellen Krise solle das Parlament genau klären, wann erneut die harten Vorschriften zum Infektionsschutzgesetz mit seinen harten Maßnahmen greifen dürfen und wann nicht, so Kirchhof gegenüber der „Welt“: „Sie dürfen nicht zur Regel werden bei jeder Epidemie.“ Kritik übte Kirchhof auch daran, dass der Staat die Eingriffe mit einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems begründet. Der Schutz des Gesundheitssystems könne „nur ein Hilfsziel für den Schutz von Leben und Gesundheit in extremer Not sein“, so der Staatsrechtler zur „Welt“: „Allein um staatliche Therapieeinrichtungen nicht zu überlasten, dürfen die Grundrechte des Bürgers nicht beschränkt werden. Da muss der Staat dann schlicht mehr Einrichtungen schaffen.“

Der Staat habe zwar „eine Schutzpflicht, gegen ein Virus vorzugehen, das bedrohlich ist und das tödlich sein kann“, so Kirchhof in dem Interview: „Aber man kann eine Gesellschaft, man kann eine Wirtschaft, man kann persönliche Beziehungen auch zu Tode schützen.“ Als Beispiel nennt der Staatsrechtler in dem Gespräch den Straßenverkehr: „Dort gibt es jedes Jahr Verletzte und Tote. Nun könnten wir entscheiden: Das dulden wir nicht, wir unterbinden den Straßenverkehr mit Autos, Fußgängern, Radfahrern. Damit haben wir Gesellschaft, Wirtschaft und Personen effektiv geschützt – aber eben zu Tode geschützt.“

Ein Durchregieren, von dem viel die Rede ist und das sich Merkel nach Ansicht ihrer Kritiker wünscht, sei nach der Verfassung nicht möglich, so Kirchhof zur „Welt“: Der Bund könne zwar schärfere Gesetze erlassen, und die Länder damit zu schärferen Maßnahmen verpflichten. Allerdings haben die Länder über den Bundesrat bei solchen Gesetzen ein Mitspracherecht. Und der Bund könne seine Gesetze auch nicht selber durch eigene Behörden durchsetzen.

Kritik übt der Verfassungsrechtler auch an der Fixierung auf Inzidenzwerte. Diese seien „in der ersten Not des Corona-Schocks sicher eine taugliche Methode“ gewesen. Je länger die Pandemie aber andauert, „desto mehr wird man sich fragen müssen, ob sie wirklich der einzige Faktor sind, der über die Maßnahmen bestimmen darf. Sie sind ein grober Maßstab, der aber längst nicht das ganze Grundrechtsgefüge erfasst, das wir beachten müssen“, so der Staatsrechtler im Interview mit der Welt: „Ich halte es mittlerweile für verfassungsrechtlich dringend angezeigt, dass wir noch andere Parameter berücksichtigen. Wenn ein Kreis eine Inzidenz von 250 hat, und die Infizierten spüren keine Symptome oder nur die einer leichten Grippe, dann ist mir die Inzidenz ziemlich egal. Wenn ein Kreis die Inzidenz von 30 hat, und das führt zu 25 Todesfällen, dann brennt es. Und das muss man auch gesetzlich abbilden.“

Besonders ärgere es ihn, so Kirchhof in dem Gespräch, „dass Politiker diese Krise nutzen, um andere Anliegen unter dem Deckmantel Corona durchzusetzen. Ich nenne sie Trittbrettfahrer.“ So werde etwa „die Kreditbremse in einem Maße gelockert, wie es nicht nötig wäre. Der Bundesrechnungshof hat zu Recht kritisiert, dass die Kreditaufnahme deutlich überhöht ist. Auch werden Hilfsfonds in Größenordnungen geschaffen, die man nicht benötigt. Das ist finanz- wie staatsrechtlich höchst problematisch.“


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Bild: nitpicker/Shutterstock
Text: br


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