Von Daniel Weinmann
Die Energiepreise steigen ungebremst, der teuerste Winter aller Zeiten steht bevor. An diesem Montag lagen die Gaspreise am Spotmarkt um 17 Prozent höher als am Freitag. Rund 285 Euro kostete eine Megawattstunde am Spotmarkt – so viel wie nie zuvor und rund zehnmal mehr als zu dieser Jahreszeit üblich.
Auch der Strompreis erreichte kürzlich im Großhandel mit 450 Euro pro Megawattstunde ein neues Allzeithoch und liegt nun 280 Prozent über dem Niveau zu Jahresbeginn. Vor zwei Jahren waren es noch 40 Euro. Der 2023-Terminpreis liegt inzwischen gar bei mehr als 540 Euro je Megawattstunde.
Es sind aber nicht nur die vielen Haushalte, die massive finanzielle Probleme bekommen werden. Deutschland als Europas wichtigste Industrienation steht vor einer Abwanderung wichtiger Teile der Industrie. Der Internationale Währungsfonds warnte erst im Juli, dass Deutschland aufgrund seiner Abhängigkeit von russischem Gas in diesem Jahr das schlechteste Ergebnis in der Gruppe der sieben Länder erzielen wird.
Kosten weitergeben, die Tore schließen oder das Land verlassen
„Die Energieinflation ist hier viel dramatischer als anderswo“, brachte Ralf Stoffels von BIW Isolierstoffe GmbH in Ennepetal die dramatische Lage gegenüber „Bloomberg“ auf den Punkt. Der Geschäftsführer des Herstellers von Silikonteilen für die Automobil-, Luft- und Raumfahrt- und Haushaltsgeräteindustrie befürchtet „eine schleichende De-Industrialisierung der deutschen Wirtschaft“.
Um seine Kraftwerke und Fabriken mit Energie zu versorgen, ist die Bundesrepublik aufgrund der völlig verkorksten Energiepolitik der Merkel-Ära stärker auf russisches Gas angewiesen als jedes andere Land. Deutschland hat es in der Vergangenheit schlicht versäumt, die Energiequellen jenseits der russischen Gaslieferungen zu diversifizieren.
„Der Anstieg der deutschen Energierechnung entspricht gut zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und ist ähnlich hoch wie während der Ölpreiskrisen 1973 und 1979“, rechnet Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer in der „FAZ“ vor. Der Kostenschock mache viele energieintensive Fertigungen unrentabel. Dazu passt eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, wonach 16 Prozent der Unternehmen genau aus diesem Grund ihre Produktion zurückfahren wollen.
Während Berlin den Preisschock für die Haushalte mit Milliardenzahlungen aus der Staatskasse zumindest teilweise abfedert, sind die Konzerne nicht immun gegen die explodierenden Kosten. Vielen bleibt nur die Wahl, die Kosten weiterzugeben, zu schließen – oder das Land zu verlassen.
»Einige Industrien werden ihre Produktion in Europa überdenken müssen«
Besonders unter Druck stehen energieintensive Firmen. „Die Preise stellen für viele energieintensive Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, eine große Belastung dar“, so Matthias Ruch, Sprecher des Chemieriesen Evonik. Die Essener ersetzen bis zu 40 Prozent ihrer deutschen Gasmengen durch Flüssiggas und Kohle und geben einen Teil der höheren Kosten an die Kunden weiter. Auch Europas größter Kupferverarbeiter, die in Hamburg ansässige Aurubis AG, will die Stromkosten an die Kunden weitergeben.
Mittel- bis langfristig drohen verheerende Folgen: Ein anhaltender Anstieg der Energiepreise könnte die wirtschaftliche Landschaft des Kontinents verändern, fürchtet Simone Tagliapietra, Energieexperte bei der Brüsseler Denkfabrik Bruegel: „Einige Industrien werden unter ernsthaften Stress geraten und ihre Produktion in Europa überdenken müssen.“
Finanzexperte Martin Devenish sieht eine ganz andere Gefahr: „Wenn die Industrie aufgrund der Energieknappheit auf verkürzte Wochenarbeitszeiten und geringere Löhne zurückgreifen muss, werde ich nervös“, bekennt der frühere Goldman-Sachs-Banker. „Die Voraussetzungen für soziale Unruhen sind vorhanden, und das Risiko dafür wird unterschätzt.“
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Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
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