Gewalttabu und Kulturunterschiede: Wenn zwei Welten aufeinandertreffen Warum im Bundestag keine Fäuste fliegen, im türkischen Parlament aber schon

Von reitschuster.de

Das türkische Parlament sorgte wieder einmal weltweit für Schlagzeilen: Während einer Debatte über die Freilassung des inhaftierten Menschenrechtsanwalts Can Atalay kam es zu einer handfesten Auseinandersetzung. Der frühere Bundesliga-Profi Alpay Özalan (1. FC Köln), heute Abgeordneter der regierenden AKP, schlug mitten in der Debatte den Abgeordneten Ahmet Sik von der oppositionellen türkischen Arbeiterpartei und brachte ihn zu Boden. Es kam zu einem aggressiven Handgemenge, das fast eine halbe Stunde dauerte. Mehrere Abgeordnete wurden dabei verletzt. Auf dem Boden im Parlament waren sogar Blutspuren zu sehen.

Dieser Vorfall wirft Fragen auf, die weit über die Grenzen der Türkei hinausgehen. Es geht nicht nur um die hitzige Debatte, sondern um tiefere kulturelle Unterschiede im Umgang mit Konflikten und Gewalt. Während solche Szenen in Deutschland oder vielen anderen westlichen Ländern wie Großbritannien, Kanada, Schweden oder Japan unvorstellbar sind, sind sie in anderen Ländern leider keine Seltenheit – auch in den Parlamenten von Russland, der Ukraine, Taiwan und Südkorea.

Das Gewalttabu im Bundestag

In Deutschland und vielen anderen westlichen Ländern ist das Gewalttabu im politischen Diskurs fest verankert. Die Vorstellung, dass Abgeordnete sich physisch angreifen könnten, ist bis auf wenige Ausnahmen etwa in Italien bei den Mafia-Debatten in den 1990er Jahren nahezu undenkbar. Der Bundestag ist ein Ort, an dem Argumente, nicht Fäuste, ausgetauscht werden – verbal zuweilen auch sehr grob, aber eben nur verbal. Diese Grundhaltung spiegelt eine breitere gesellschaftliche Norm wider, in der Gewalt nicht als akzeptables Mittel zur Konfliktlösung betrachtet wird.

Kein universelles Gewalttabu

In anderen Ländern, darunter auch in der Türkei, sind die Grenzen zwischen verbaler und physischer Auseinandersetzung dagegen weitaus weniger strikt. Dies sieht man daran, dass es in der Türkei wiederholt zu physischer Gewalt im Parlament kam – und der jüngste Vorfall keine Ausnahme ist. In Ankara stehen sich Abgeordnete nicht nur in der Debatte gegenüber, sondern scheuen sich zuweilen eben nicht, die Auseinandersetzung auch mit Hilfe körperlicher Gewalt weiter zu führen.

Diese Unterschiede im Umgang mit Gewalt sind tief in den jeweiligen Kulturen verankert. Während in Deutschland und vielen westlichen Gesellschaften Gewalt über das Parlament hinaus als Tabu gilt und die Regeln des politischen Diskurses strikt auf verbale Auseinandersetzungen begrenzt sind, kann in anderen Gesellschaften eine mehr oder weniger ausgeprägte Akzeptanz oder Toleranz gegenüber physischer Auseinandersetzung bestehen. Dies ist nicht nur auf politischer Ebene sichtbar, sondern zieht sich durch verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens.

Die Folgen erleben wir gerade in Deutschland hautnah. Der massenhafte Zuzug von Migranten aus Gesellschaften ohne Gewalttabu musste zwangsläufig zu einem Anstieg der Gewalt in Deutschland führen. Diese einfache Binsenweisheit auszusprechen, gilt aber als Ketzerei in unserer Gesellschaft. Wer es wagt, auf die entsprechenden Probleme hinzuweisen, muss damit rechnen, in die rechtsextreme Ecke gestellt zu werden.

Die Herausforderung des Zusammenlebens

Ein besonderes Paradoxon ist dabei, dass ausgerechnet diejenigen, die am lautesten eine multikulturelle Gesellschaft einfordern, am stärksten auf diesem Tabu bestehen. Dabei muss gerade in einer multikulturellen Gesellschaft – wie wir sie geworden sind, ob das der einzelne nun begrüßt oder nicht – auch auf Risiken und Gefahren der kulturellen Unterschiede ein besonderes Augenmerk gerichtet werden.

Wenn Menschen aus Kulturen, in denen ein anderer Umgang mit Gewalt herrscht, auf eine Gesellschaft treffen, in der Gewalt strikt abgelehnt wird, müssen zwangsläufig Spannungen entstehen. Diese Unterschiede müssen nicht nur erkannt, sondern auch offen thematisiert werden. Ein Wegsehen oder Tabuisieren der Thematik führt nur dazu, dass die daraus resultierenden Probleme unbemerkt wachsen und sich verschärfen. Mehr noch: Sie zu verschweigen, ja zu tabuisieren, ist geradezu kriminell, weil es schwerwiegende Folgen haben kann, wie wir sehen.

Alpay Özalan: Ein Fallbeispiel

Besonders interessant ist, dass Alpay Özalan, der im türkischen Parlament handgreiflich wurde, während seiner Karriere als Fußballer auch in Deutschland aktiv war. Die Frage, die sich dabei stellt, ist: Warum hat er sich während seiner Zeit in Deutschland das dortige Gewalttabu nicht angeeignet? Lebte er hier nach den Regeln, ohne sie tatsächlich zu verinnerlichen? Und was sagt das über die Unterschiede in den kulturellen Normen aus?

Eine genaue Fallbetrachtung zeigt: Auch im Westen hielt sich Özalan nicht an das dort übliche Gewalttabu. Am 11. Oktober 2003 attackierte er bei einem Qualifikationsspiel zur Fußball-Europameisterschaft 2004 Englands Superstar David Beckham im Kabinengang. Daraufhin wurde er von seinem Verein Aston Villa entlassen. Auch bei anderen Vereinen kam es zu disziplinären Problemen und Vertragsauflösungen. Nach seinem Wechsel nach Köln 2005 leistete sich Özalan mehrere Entgleisungen, trat und schlug Gegenspieler. Nach einer Niederlage im entscheidenden Play-off-Match zur Qualifikation zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 gegen die Schweiz löste der Türke mit einem Tritt gegen den Schweizer Stéphane Grichting und imitierten Schlagbewegungen gegen Schweizer Spieler eine körperliche Auseinandersetzung mit mehreren Verletzten aus.

Beim 1. FC Köln griff er einen eigenen Mitspieler an. Der Verein bot ihm daraufhin psychologische Betreuung an. Die schlug Özalan aus. 2007 suspendierte ihn der 1. FC, nach Kritik am Trainer Christoph Daum. Dem hatte er unter anderem ausgerechnet „mangelnde Aggressivität“ vorgeworfen. Es gab schließlich keinen Verein mehr, der sich Özalans Eskapaden antun wollte. Er fand keinen neuen Arbeitgeber und musste seine Fußball-Karriere deshalb beenden. Bezeichnend ist, dass er trotz – oder wegen – seiner Aggressivität in der AKP von Präsident Erdogan Karriere machte.

Interessant ist auch ein anderer Aspekt: Özalan bekam einen Fair-Play-Preis der UEFA, als er im EM-Match 1996 gegen Kroatien als letzter Mann in der Abwehr einen Gegenspieler auf das eigene Tor durchziehen ließ und nicht wie in solchen Situationen üblich die Notbremse zog. So konnte der Kroate das einzige und siegbringende Tor gegen die Türken erzielen. Özalan wurde in den türkischen Medien heftig kritisiert – denn mit einem Foul hätte er das Tor verhindern können. Özalan sagte später, er habe sich über diesen Preis nie gefreut.

Diese Geschichte zeigt, dass Özalan zwar in bestimmten Situationen die Anwendung von Gewalt für zulässig hält, gleichzeitig aber einen persönlichen Ehrenkodex besitzt, der Gewalt – wie in Form eines taktischen Fouls – in anderen Kontexten ablehnt. Sein Verhalten offenbart ein komplexes Wertesystem, in dem Gewalt und Ehre nicht einfach miteinander verknüpft sind, sondern je nach Situation unterschiedlich bewertet werden. Für uns Deutsche ist das in der Regel eher schwer zu verstehen. Umso ignoranter ist es, diese Unterschiede in den Kulturen einfach aus ideologischen Gründen zu negieren.

Die Notwendigkeit des Diskurses

Es ist äußerst wichtig, sich offen mit den kulturellen Unterschieden gerade im Umgang mit Gewalt und Ehre auseinanderzusetzen, um die unvermeidbaren Konflikte zu bewältigen, zu denen das Zusammenleben von Menschen aus ganz gegensätzlichen Kulturen auf engstem Raum zwangsläufig führen muss. Nur durch das Thematisieren dieser Unterschiede und dieses Konfliktpotentials können wir Wege finden, wie Menschen aus verschiedenen Kulturen im besten Fall friedlich und respektvoll und ansonsten wenigstens ohne größere Eskalationen miteinander leben können. Und wie wir es schaffen, die Folgen des Gewaltimports in den Griff zu bekommen.

In einer Zeit der Masseneinwanderung müssen wir uns auch den Herausforderungen stellen, die diese mit sich bringt. Der Vorfall im türkischen Parlament sollte uns daran erinnern, dass kulturelle Unterschiede real sind und dass wir sie nicht ignorieren dürfen.

Und um zum Schluss noch auf die Unterzeile dieses Artikels einzugehen – „Warum im Bundestag keine Fäuste fliegen, im türkischen Parlament aber schon“. Wenn wir den Gewaltimport weiter ignorieren und die kulturellen Unterschiede weiter tabuisieren, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch im Bundestag die Fäuste fliegen. Wobei er dann vielleicht gar nicht mehr Bundestag heißen wird.

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