„Im Extremfall eine Mitschuld am Tod“ Wie Abgeordnete auf Protest-Schreiben antworten

„Normalerweise kommen 300 Briefe am Tag rein, jetzt 4.000. Die Menschen draußen im Land machen den Abgeordneten die Hölle heiß. Die Briefe werden in der Regel einfach gelöscht, die ‘Delete‘-Taste ist derzeit die meistbenutzte Taste im Bundestag. Der Wählerprotest ist den meisten Abgeordneten egal.“ Das erzählte mir gestern ein Mitarbeiter aus dem Bundestag. Der Protest richtet sich gegen das „Dritte Corona-Gesetz“, das heute im Parlament beschlossen werden soll – unter massiver Missachtung demokratischer Grundprinzipien, wie Kritiker wie der Mitarbeiter geltend machen. Das Gesetz sieht weitreichende Einschnitte in die Grundrechte und große Vollmachten für das Gesundheitsministerium vor.

Eine Leserin schrieb mir: „Gestern (16.11.) habe ich eine sachliche E-Mail an alle Bundestags-Abgeordneten versandt, um meine Stimme gegen die am 18.11. zu beschließende, verfassungswidrige dritte Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) zu erheben. Von den Antworten, die ich erhalten habe, hat mich diese des Abgeordneten Eberhard Brecht (SPD) fassungslos gemacht. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie Ihre Leser darüber aufklären würden.“

Der Bitte komme ich im Sinne der Transparenz gerne nach und veröffentliche hier den Brief des Abgeordneten, der im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen nicht die „Delete-Taste“ gedrückt hat. Da ich hier ja oft Kritiker der Corona-Maßnahmen zu Wort kommen lasse, halte ich es für sinnvoll, auch einen Verteidiger wortgenau wiederzugeben (auch wenn diese ja genügend Plattformen haben und in den großen Medien in Dauerschleife laufen).

Sehr geehrte/r Mail-Verfasser/in,

wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, erhalten derzeit sehr viele Schreiben zum „Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, so auch Ihres.

Eine individuelle Beantwortung dieser mahnenden Texte ist selbst unter Zuhilfenahme von unseren Büro-Mitarbeiter*innen nicht möglich. Zudem ist die Kritik nicht einheitlich, sondern wird mit medizinischen, die Verhältnismäßigkeit betreffenden und verfassungsrechtlichen Argumenten begründet.

Geht man – wie ich – von einer Eilbedürftigkeit der Gesetzgebung aus, wird bis zur Abstimmung am Mittwoch unserer parlamentarischen Arbeit von Anhörungen und Beratungen zum Gesetzesentwurf bestimmt werden. Sie können dabei von etlichen Änderungen durch das parlamentarische Verfahren ausgehen.

Hier nur wenige Anmerkungen zu den genannten Kritikpunkten:

1.      Ich wäre dankbar, wenn die Verfasser der eingehenden Mails nicht für sich beanspruchen würden, für „das Volk“ zu sprechen. Es mag ja sein, dass ca. Hunderttausend Bürgerinnen und Bürger mit der Covid-19-Politik der Bundesregierung und des Bundestages nicht einverstanden sind. Dies muss in einer Demokratie möglich sein. Für die insgesamt 60 Millionen Erwachsenen in Deutschland zu sprechen, ist jedoch eine Anmaßung.

2.      Die immer wieder geäußerte Behauptung, Covid-19 sei mit einer gewöhnlichen Influenza vergleichbar, teile ich ausdrücklich nicht. Für diese These werden die in Deutschland noch überschaubare Zahl an Todesopfern (noch unter 20 000) und Äußerungen einzelner Ärzte herangezogen. Mir sind die Behauptungen der Herren Wodarg, Ioannidis, Bhakdi und Co. durchaus bekannt, nach denen es keine Übersterblichkeit durch Corona gebe, dass Corona nicht schlimmer als eine Grippe sei, dass Maskentragen nichts helfe und dass der PCR-Test nutzlos sei. Von all dem stimmt fast nichts.

3.      In der Wissenschaft misst man die Reputation von Forschern fast ausschließlich an der Anzahl und Qualität der einschlägigen Veröffentlichungen. Im sogenannten Peer Reviews werden diese Veröffentlichungen von der internationalen Fachwelt geprüft. Die Herren Wodarg, Bhakdi und Ionnidis haben keine epidemiologischen Veröffentlichungen in den letzten Jahren vorzuweisen, können wohl kaum den Anspruch eines Corona-Experten erheben. Unter den weltweit führenden Wissenschaftlern gibt es hingegen einen Konsens über die Gefährlichkeit des Virus (https://www.johnsnowmemo.com/). Da ist die hohe Infektionsrate mit einem zeitlich exponentiellen Verlauf, die lange Inkubationszeit, in der schon eine Ansteckung möglich ist sowie die mitunter schweren Verläufe und Folgeerkrankungen, die man bis heute noch nicht ganz verstanden hat.

4.      Häufig wird behauptet, dass es in Deutschland keine Übersterblichkeit durch Corona gäbe. Dies trifft in der Tat zu. Durch die getroffenen Maßnahmen der Kontaktbeschränkung konnte dieses positive Ergebnis erreicht werden. Dies trifft im wesentlichen nur auf  Deutschland zu. Ein Blick ins Ausland (GB, Frankreich, Italien, Tschechien, Rumänien, USA) offenbart, wie ein lascher oder zu spät beschlossener Lockdown nicht nur die Zahl der Infizierten, sondern insbesondere die der Todesopfer in die Höhe schnellen lässt. Ich erinnere auch an die sog. Spanische Grippe am Ende des Ersten Weltkrieges mit weltweit geschätzten 20 bis 50 Millionen Todesopfern.

5.      Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass Deutschland – im Vergleich mit anderen Ländern – bisher medizinisch, wirtschaftlich und sozial noch leidlich durch die Pandemie gekommen ist, spricht nicht für die Harmlosigkeit des Virus, sondern für ein gutes Krisen-Management der Regierung. Glaubt man den Meinungsumfragen ist dies auch die Auffassung von 60 – 85 % (je nach Umfrage und Fragestellung) der Bevölkerung.

6.      In vielen Mails wird auf 44 Studien hingewiesen, die eine Unwirksamkeit  von Masken belegen wollen. Leider ist dies wieder ein perfides Beispiel, wie Meinungsmache funktioniert. Die entsprechenden Studien beziehen sich fast nicht auf Corona, sondern auf andere Kontaminationen.

Eberhard Brecht (Bild: SPD-Fraktion/Benno Kraehahn)

7.      Richtig ist natürlich, dass man trefflich über Einzelmaßnahmen streiten kann. Sind Restaurants wirklich so gefährlich und Gottesdienstbesuche harmlos? Ist 1,50 m Abstand tatsächlich die richtige Hygiene-Distanz? Müssten nicht alle Menschen FFP2- statt der selbstgenähten Masken tragen? Sind Kinder in den KITAs und Schulen zu sehr oder zu wenig geschützt? Letztlich sollten solche Entscheidungen auf wissenschaftlichen Erkenntnisse beruhen und nicht durch politische Interessen, schon gar nicht durch Verschwörungstheorien geleitet sein.

8.      Ich unterstelle einmal, dass jedem Abgeordneten des Bundestages die negativen Konsequenzen des (partiellen) Lockdowns bekannt sind: Vereinsamung, Bildungsnotstand, Arbeitslosigkeit, Insolvenzen, Reisebeschränkungen, Verlust an Kultur und Sport, Schließung der Gastronomie … Und Sie können mir glauben, dass uns diese Konsequenzen sehr weh tun und wir alles in unseren Kräften stehende tun, um die negativen Auswirkungen für die Menschen in unserem Land abzufedern. Aus meiner Sicht gibt es aber zu den Einschränkungen von Kontakten bis zu einer wirksamen Impfung keine Alternative. Es gibt im übrigen keinen Zwang für eine Impfung.

9.      Für die in manchen Schreiben geäußerte Gleichsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfes mit dem Ermächtigungsgesetz eines Adolf Hitler im Jahr 1933 fehlt mir jedes Verständnis. Wir leben in einer Demokratie mit einem lebendigen Parlament. Ich empfehle, die Einzelbestimmungen des gegen die Sozialdemokraten am 24. März 1933 verabschiedeten Gesetzes einmal nachzulesen. Dann wird deutlich, wie abwegig dieser Vergleich ist.

10.    Dennoch haben Verfassungsrechtler Bedenken gegen Einzelbestimmungen des IfSG erhoben, ohne die Konformität des Gesetzes mit dem Grundgesetz generell in Frage zu stellen. Wir werden uns mit diesen Argumenten selbstverständlich auseinandersetzen, so über Definitionen und die Verhältnismäßigkeit einzelner Maßnahmen. Natürlich ist klar, dass der Bundestag jederzeit die Feststellung einer epidemischen Lage widerrufen kann und regelmäßig über die Corona-Lage durch die Bundesregierung informiert wird. Also noch einmal: Es obliegt dem Bundestag, die epidemische Lage formal als beendet zu erklären. Damit enden auch alle darauf beruhenden Rechtsverordnungen und Anordnungen automatisch.

11.    In etlichen Schreiben erinnern uns die Verfasser*innen an das Grundgesetz und die für uns als Abgeordnete daraus erwachsende Verantwortung. Ich gebe dieses Argument zurück an diejenigen, die als „Querdenker“ ohne Maske das Risiko eingehen, ihre Mitmenschen anzustecken und im Extremfall an ihrem Tod eine Mitschuld zu tragen.

12.    In vielen Briefen werden wir MdBs mit strafrechtlichen Konsequenzen oder sogar mit körperlicher Gewalt bedroht. Dies muss nicht weiter kommentiert werden.

13.    Mir ist bewusst, dass viele Corona-Leugner uns MdB’s – im günstigsten Fall – als Idioten, im schlechteren Fall als kleines Rädchen einer gigantischen Weltverschwörung ansehen. Diese Menschen leben in einer Parallelwelt der „alternativen Fakten“ und lösen sich von einer ansonsten evidenzbasierten Gesellschaft. Wohin die Reise mit einer so gespaltenen Gesellschaft geht, lässt sich an der Entwicklung in den USA unter dem Lügenpräsidenten Donald Trump beobachten.

14.    Leider kann ich aufgrund der Vielzahl der eingehenden Mails nicht auf die sachlich verfassten Hinweise im Detail eingehen. Ich bitte hierfür um Verständnis. Sie können davon ausgehen, dass wir das IfSG nicht einfach durchwinken werden, sondern das Gesetz verantwortlich beraten und gegebenenfalls ändern werden.

15.    Entgegen des Ratschlages vieler Freunde beantworte ich nach reiflicher Überlegung doch die ca. 1000 eingegangenen Mails zum Dritten Bevölkerungsschutzgesetz. Natürlich habe ich nicht die Illusion, ein Bauchgefühl durch Argumente ersetzen zu können. Ich habe aber doch die Hoffnung, dass Sie mir mit Ihrem Lesen meiner Zeilen wenigstens „zugehört“ haben. Meine Antwort und Ihr „Zuhören“ lassen mich hoffen, dass ein Dialog dort wieder möglich ist, wo jetzt Sprachlosigkeit herrscht.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Eberhard Brecht, MdB

SPD – Bundestagsfraktion

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Bild: SPD-Fraktion/Benno Kraehahn / Shutterstock
Text: red


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