Von Daniel Weinmann
Keine Treffen mit Freunden, kein Sport, kein Austausch mit Gleichgesinnten im Präsenzunterricht – und vor allem die Angst, andere zu infizieren. Kinder und Jugendliche zählen zu den besonders Leidtragenden der Lockdowns und der Corona-Maßnahmen. Der extreme Mangel an Hoffnung und Freude sowie an Gemeinschaft und zwischenmenschlichen Beziehungen entzieht dieser Altersgruppe den emotionalen Nährstoff. Die Folge: Depressionen, Essstörungen, Angstzustände – bis hin zu Selbstmordversuchen.
In der Notaufnahme der Jugend-Psychiatrie Dortmund landete im November jeden Tag ein Kind mit Suizidversuch, berichteten die „Ruhrnachrichten“. Nur kurz darauf sprach das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien (AKH) von einer Verdopplung der Suizidversuche bei Jugendlichen im Vergleich zum Vorjahr.
Viel beklemmender noch sind die Zahlen, die die Essener Uniklinik vorgestern in einer noch nicht peer-reviewten Studie meldete. Danach mussten allein zwischen März und Ende Mai 2021 bis zu 500 Kinder nach Suizidversuchen bundesweit stationär auf Intensivstationen behandelt werden. Die dramatische Entwicklung, die auf Daten aus 27 deutschen Kinder-Intensivstationen beruht, haben Studienleiter Christian Dohna-Schwake „überrascht“.
Die Fallzahl sei damit im zweiten Lockdown um das Vierfache gegenüber der Zeit vor Corona gestiegen, sagte der leitende Oberarzt der pädiatrischen Intensivmedizin und Facharzt für Kinderheilkunde im Videocast „19 – die Chefvisite“ der Uniklinik Essen. Einen solch steilen Anstieg hatten er und sein Team nicht auf der Agenda. Er hätte allenfalls mit dem Anderthalb- bis Zweifachen gerechnet.
Selbstmordversuch als Hilferuf
Während des ersten Lockdowns, als alles noch relativ neu gewesen sei, habe die Aussicht bestanden, dass es besser werde und man das zusammen durchstehen könne, so Dohna-Schwake. Zudem sei das Wetter sehr gut gewesen, so dass die Möglichkeit bestand, nach draußen zu gehen.
Der zweite Lockdown – obwohl er an sich lockerer gewesen sei – habe sich aber „hingezogen wie Kaugummi“, verbunden mit weniger Zuversicht, dass das alles endlich vorbeigehe. Insbesondere für Kinder und Jugendliche, die schon an depressiven Verstimmungen gelitten hätten, seien die Suizidversuche ein Hilferuf gewesen, meint der Mediziner.
Mit Blick auf erneute Schulschließungen hat Dohna-Schwake eine dezidierte Meinung: „Man kann klar sagen, dass soziale Kontakte außerhalb der sozialen Medien präventiv wirken.“ Schulen sollten daher „solange das irgendwie geht“ offengehalten werden.
Anmerkung: Wir haben über das Thema Suizid berichtet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass depressiv veranlagte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 0800-1110111 oder 0800-3344533.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
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