Francesco De Meo hat einen großen Vorteil, wenn es um Corona geht: Der Fresenius-Vorstand ist vom Fach, im Gegensatz zu den meisten Journalisten, mich eingeschlossen. Er ist zwar kein Arzt, sondern Jurist, doch als Vorsitzender der Helios-Kliniken ist er bestens im Thema. Seine Krankenhäuser veröffentlichen seit einiger Zeit täglich die Belegungszahlen ihrer Intensivstationen – als Beitrag zur Transparenz. Und De Meo betreibt einen Blog, auf den mich jetzt ein Leser hingewiesen hat. Da steht: „Der Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie und ihren Folgen tut mehr Reflexion und Diskurs gut. Mein Blog war ein Beitrag dazu, und er hat eine lebendige und kontroverse Diskussion angestoßen“. Dort werden, wie er selbst schreibt, „Dinge ausgesprochen, die heute kaum einer zu sagen wagt“.
Ende Oktober hat De Meo in seinem Blog Erkenntnisse veröffentlicht, die unglaublich sind – aber leider so gut wie keinerlei Reaktion in den großen Medien und in der Politik nach sich gezogen haben. Weil sie aber immer noch sehr brisant sind, führe ich sie hier auf. Selbst ein 100 % wirksamer Impfstoff würde wohl nicht zum Verschwinden von Covid-19 führen, so die These des Kliniken-Chefs. Für heutige Zeiten geradezu Ketzerei. Es sei ursprünglich nicht darum gegangen, das Virus endgültig und dauerhaft zu „besiegen“, mahnt De Meo: „Es ging stets darum, sicherzustellen, dass durch die schwere Lungenerkrankung (Covid-19 SARI), die das Virus verursachen kann, möglichst wenig Menschen versterben, und dass das Gesundheitssystem nicht wegen der Anzahl an Covid-Erkrankten kapituliert oder kollabiert. Darüber wird seit einiger Zeit aber kaum mehr gesprochen.“ SARI steht für „severe acute respiratory infection“, also schwere akute Atemwegsinfektionen; oft wird auch die Übersetzung „schwere akute respiratorische Infektionen“ verwendet.
Sodann befasst sich der Chef der Helios-Kliniken mit der entscheidenden Frage, die heute weitgehend ausgeblendet wird, „(…) wie diese beiden Aspekte bei der ersten Covid-19-Welle in den deutschen Kliniken abgebildet wurden. Hatten wir mehr oder weniger Patienten wegen SARI als im gleichen Zeitraum 2019 (als es Covid-19 noch nicht gab)? Und wie viele Menschen sind daran verstorben, auch dies jeweils im Vergleich zu 2019?“
An der Studie, die das klären sollte, nahmen 421 Kliniken teil. Erfasst wurden knapp 2,8 Millionen Krankenhausfälle, also rund ein Viertel aller stationären Patienten während des fraglichen Zeitraums von März bis August 2020. Die drei wesentlichen Erkenntnisse der Studie für die Bundesrepublik laut De Meo:
- 2020 gab es weniger SARI-Erkrankte als 2019.
- 2020 waren weniger Erkrankte auf der Intensivstation und es wurden insgesamt auch weniger beatmet als in 2019.
- Die Anzahl der vermuteten Covid-Fälle war dreimal höher als die der nachgewiesenen Covid-Fälle. In anderen Worten: nur ein Viertel aller mit Verdacht auf Covid-Infektion Behandelten war erwiesenermaßen Covid-positiv.
- Bei einem Covid-bedingten SARI verstarben 22,9 % der Patienten in den Kliniken, während bei SARI ohne Covid 12,4 % versterben.
Die hohe Sterblichkeit bei SARI durch Covid-19 zeige, wie gefährlich die Erkrankung vor allem für ältere Menschen ist, so De Meo: „Die Daten zur Häufigkeit müssen uns allerdings verblüffen, im Vergleich zum Vorjahr wie auch mit Blick darauf, dass drei Viertel der deutschen Covid-Fälle nicht sicher Covid hatten. Dies könnte rückblickend das Handeln von Politik und Regierungen als übertrieben vorsichtig oder zu sehr angstgetrieben erscheinen lassen. Diese Sicht wäre meines Erachtens nicht ganz fair, denn sie ließe außer Acht, unter welchen Umständen und mit welchen Unsicherheiten behaftet in den ersten Wochen entschieden werden musste.“
Wie bei 'normaler' Grippewelle
Fakt bleibe nach der Studie allerdings, dass Covid-19 in Deutschland weder zu mehr klinisch SARI-Erkrankten noch zu mehr Intensivaufnahmen oder Beatmungen geführt hat, so das Fazit des Kliniken-Chefs. Und er geht noch weiter: „Das deutsche Gesundheitssystem war insgesamt nicht mehr beansprucht als in vergangenen Jahren mit einer ‘normalen‘ Grippewelle“. Fakt bleibt auch, dass wir keine anderen Schutzmaßnahmen ergriffen haben als die anderen Nationen um uns herum, die aber wiederum im Vergleich ein Vielfaches an Covid-Erkrankten und Verstorbenen hatten.
De Meo mahnte in seinem Beitrag Ende Oktober genau das an, was die deutsche Politik nicht tat: „Wir können aus den Erfahrungen mit etwas mehr Zuversicht den kommenden Monaten mit dem Coronavirus entgegensehen. Das deutsche Gesundheitswesen ist in der Lage, ganz erheblich mehr an Covid-19 zu verkraften, als noch im März angenommen. Es gibt also keinen Grund, das Gesundheitswesen für andere Patienten – wie von März bis Juni 2020 – in einen Shutdown zu schicken, und deren Behandlungen auszuschließen. Das ist eine gute Nachricht für alle.“
Weiter mahnte der Klinik-Chef, dringend darüber nachzudenken, „ob der ausschließliche Blick auf das Infektionsgeschehen angesichts der Erkenntnisse aus der ersten Covid-19-Welle noch angebracht und noch zu rechtfertigen ist.“ Er forderte dazu auf, die Überwachung darauf auszudehnen, „wieviele Erkrankte aus den Infizierten resultieren und wie viele davon schließlich tatsächlich in den Kliniken behandelt werden müssen. Die Daten hierzu liegen vor. Für ganz Deutschland. In den Routinedaten der Kliniken, aus denen wir mit einem schlichten Algorithmus auch die Datenanalysen für unsere Studie machen konnten. Wir haben dies auch dem Bundesgesundheitsministerium aufgezeigt, und hoffen künftig auf eine stärkere Balance in der Argumentation und den Maßnahmen.“
Hoffnung nicht erfüllt
Er habe die Hoffnung, so De Meo im Oktober, „dass ein reflektierter Umgang mit dem Vorgesagten letztlich dazu führen wird, dass wir aus der derzeit erkennbaren Angst- und Trotzspirale herauskommen.“ Es sei wichtig, dass „nicht einseitig die Anzahl von Infektionen zum Maß aller Dinge genommen wird, sondern permanent auch die klinische Relevanz der Infektionen transparent gemacht wird.“
Genau das ist nicht passiert. Ob sich genau deshalb seine Hoffnung nicht verwirklichte, dass ein „weniger apodiktischer Umgang mit (der Drohung zu) weitergehenden Eingriffen in die Bewegungsfreiheit der Menschen und deren private Lebensführung im Familien- und Freundeskreis“ möglich sei? De Meo schrieb wenige Tage vor der Entscheidung zum zweiten Lockdown: „Verschärfungen wären künftig (nur) dann zu verhängen, wenn nicht nur die Infektionszahlen steigen, sondern darüber hinaus die wöchentlich beobachteten SARI-Krankenhausfälle eine klinisch relevante Covid-SARI-Welle aufzeigen. Selbst dann bleibt uns, wie die Daten aus der Studie ebenfalls beweisen, genug Zeit für fokussiertes Handeln, um die beiden Ziele – möglichst wenig Todesfälle und kein Kollaps des Gesundheitssystems – abzusichern.“
Text: br