Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà:
Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf, wussten schon die alten Römer. Und nicht erst seit der Finanzkrise gilt das antike Motto im modernen Arbeitsleben, ja sogar unter verschärften Vorzeichen – die Fernsehserie Stromberg lässt grüßen. Dabei ist der Ellenbogen als Haupt-Arbeitsinstrument nicht internationaler Standard. Statt seinen Kollegen eins auszuwischen, ist es in Russland üblich, ihnen aus der Patsche zu helfen – vor allem dann, wenn sie „fahnenflüchtig“ sind.
Immer wieder werfen westliche Politiker Moskau die Verletzung von Menschenrechten vor. Zumindest im Arbeitsalltag sind die aber in mancherlei Hinsicht besser geschützt als im alten Europa und den USA: das Recht auf Freiheit nämlich, insbesondere auf Freizügigkeit, speziell in der Arbeitszeit. Wacht in vielen deutschen Betrieben eine Stechuhr darüber, dass kein Mitarbeiter auch nur eine Minute umsonst bezahlt wird, so sorgen in Russland die Kollegen dafür, dass der Werktätige gegenüber dem Kapital – also dem Arbeitgeber – nicht allzu schlecht wegkommt – zumindest vom Arbeitsplatz.
„Wie schützen Sie Ihren Kollegen vor den Vorgesetzten?“ – diese provokative Frage stellte jetzt die russische Tageszeitung „Trud“ (auf Deutsch: Arbeit), bis Ende der 80er-Jahre noch Gewerkschaftszeitung, ihren Lesern. Wie zu erwarten war, taten sich wahre Abgründe auf – aus Sicht der Arbeitgeber. Oder paradiesische Zustände – aus Arbeitnehmer-Sicht. Es ist wohl eine Spätfolge des Kommunismus, dass die Menschen in Russland mehr zusammen halten gegenüber jeder Art von Vorgesetzten und Obrigkeit – weil sie die tendenziell eher als Feind und Ausbeuter sehen denn als Garant von Ordnung und Wohlstand. Die Regeln der Obrigkeit – bis hin zur Arbeitszeit – sind denn auch für viele Russen dafür da, um umgangen zu werden.
Freie Bahn für Schwänzer
Die „Trud“-Umfrage brachte unglaublichen Erfindungsreichtum zutage, wenn es darum geht, Arbeitskollegen zu decken. Maria, Texterin bei einer Werbeagentur, wandelte sich gar zur multiplen Persönlichkeit, um ihre Kollegen zu schützen. Als alle drei Reißaus genommen hatten, bat ihre Chefin um Ideen für Werbesprüche – von jedem mindestens vier. Maria musste sich 16 Slogans einfallen lassen und sandte diese dann von vier verschiedenen E-Mail-Adressen aus an ihre Chefin.
Der Marktforscher Nikita bekam es mit „heftiger Angst“ zu tun, als er einer Kollegin, die einen ganzen Tag schwänzte, den „Rücken freihielt“ – und just an diesem Tag mehrfach die Vorgesetzten nach ihr fragten. Nikita setzte zuerst auf eine schwache Blase und meldete mehrfach, dass die Frau ausgetreten sei. Als das nicht mehr glaubwürdig schien, erzählte er, die Kollegin sei zu Tisch: „Danach hatte unser Direktor offenbar andere Aufgaben und hörte auf, uns zu kontrollieren. Aber ich habe dennoch vor Angst gezittert, obwohl es ja nicht meine Schuld war, dass die Kollegin nicht arbeitete.
„ Die Sekretärin Dinara deckt ihre Kollegen, indem sie bei Anrufen immer sagt: „Er war vor einer Sekunde noch am Platz, jetzt ist er offenbar gerade einen Moment weg.“ Sie ruft die Schwänzer dann sofort per Handy an, damit sie gewarnt sind. Im Notfall verbindet sie auch schon einen Anrufer an das Handy von Kollegen, ohne das zu verraten: „Er ist am Platz, ich stelle sie jetzt rüber.“ Ein anderer Angestellter berichtet, wie er einem Kollegen eine Woche lang Alibi um Alibi bescherte, als der sich – ohne Urlaub genommen zu haben – in Ägypten unter Palmen sonnte: „Ich habe das mit gutem Gewissen getan, denn er ist ein guter und ordentlicher Arbeiter, dem Chef habe ich gesagt, er sei die Woche im Außendienst. Wenn jemand sonst gut arbeitet, sind solche Sachen doch eine gute Motivation für ihn.“
Immer neue Ausreden ...
Pawel, ein Verkaufsmanager, berichtet gar, dass er schon einmal zum Identitätstausch schritt, um ihn vor arbeitsrechtlichen Folgen und Gefahren für die Prämie zu schützen: Weil der Kollege aus familiären Gründen nicht zu einem Treffen mit einem Kunden kommen konnte, übernahm er einfach dessen Rolle – ohne dass irgendjemand Verdacht schöpfte. „Es ist bei uns eine ungeschriebene Regel, dass wir einander in jeder Situation aus der Patsche helfen“, sagt Pawel.
Nicht immer kommen die Beteiligten so glimpflich davon. Die Juristin Tatjana berichtet von einer Kollegin, die ihre Arbeit jeden Tag ein bis zwei Stunden vor dem offiziellen Feierabend verließ, weil sie ihr Kind aus dem Kindergarten abholen musste. Tatjana erfand immer neue Ausreden – zuletzt sagte sie dem Chef, ihre Kollegin sei in die Apotheke, um Arznei zu kaufen, weil sie sich schlecht fühlte. Der Chef erwies sich als guter Mensch, machte sich Sorgen um seine Mitarbeiterin, wollte sich um die vermeintlich Kranke kümmern – doch just deshalb erwischte er die beiden quasi in flagranti – und verschickte eine doppelte Abmahnung.
Trotz solcher Beispiele – zuweilen zahlt sich die Solidarität mehr aus als Ellenbogen. Und manchmal sogar mit Hochprozentigem. So bekam etwa der Analytiker Anton einen wütenden Anruf vom Chef, der dringend eine Analyse von seinem Kollegen haben wollte – der gerade mit seiner Freundin bei einem Schäferstündchen war. Notgedrungen vollendete Anton den Entwurf des Kollegen, obwohl es nicht sein Fachgebiet war. Als Dankeschön brachte ihm der Gerettete einen Kasten Branntwein.
Zuweilen geht die Solidarität unter Kollegen aber auch zu weit – wie im Falle einer Rentnerin aus Jekaterinburg im Ural. Ein Ex-Polizist hatte der Frau für eine Million Rubel (ca. 30.000 Euro) eine Wohnung „verkauft“, die ihm in Wirklichkeit gar nicht gehörte. Beim Kampf um Gerechtigkeit scheiterte die alte Dame am Zusammenhalt der „Ordnungshüter“: Innerhalb von zweieinhalb Jahren stellen sie das Ermittlungsverfahren gegen den Ex-Kollegen, dessen Frau weiter bei der Polizei arbeitete, sechsmal einfach illegal auf eigene Faust ein. Dreimal lieferten sie die Unterlagen derart fehlerhaft ans Gericht, dass Justitia die Anklage zurückweisen musste. Erst als sich dank der Hartnäckigkeit der alten Dame nach 30 Monaten die Generalstaatsanwaltschaft einschaltete, kam wieder Bewegung in die Ermittlungen.
Der Kriminalfall im Ural zeigt: Die Solidarität unter Kollegen ist eine zweischneidige Sache. So angenehm sie für die Betroffenen sein kann – so wenig erfreulich ist sie etwa für einen Kunden, wenn er mit tropfender Nase vor verschlossenen Apotheken-Türen steht, weil die Mitarbeiterinnen gerade ihre Kaffeepause verlängern. Aber wäre es solche Risiken und Nebenwirkungen nicht wert, wenn man dafür auch einmal selbst einfach ein paar Stunden den harten Alltagsalltag schwänzen oder gar „Außendienst“ unter Palmen machen könnte?
Nach dem wirklich unangenehmen „Job“ mit dem Lauterbach-Interview bin ich Ihnen für ein Schmerzensgeld besonders dankbar – und verspreche dafür, auch beim nächstem Mal wieder in den sauren Apfel zu beißen und wachsam an dem gefährlichen Minister dran zu bleiben! Aktuell ist (wieder) eine Unterstützung via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.
Bild: Igor GavrilovLust auf mehr Geschichte über Igor und aus Russland? Die gibt es auch als Buch:
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