Der Tenor in den deutschen Medien ist eindeutig: Es sind die Unterdrückten und die Opfer von Rassismus, die in den USA auf die Straße gehen. Bundeskanzlerin Angel Merkel rief die US-Bürger sogar durch die Blume auf, noch zahlreicher auf die Straße zu gehen. Umso erstaunlicher ist, wie in anderen Ländern die Proteste gesehen werden: Als Pogrome, bei denen auch Antisemitismus an den Tag kommt. Hier ein Artikel der oppositionellen russischen Journalistin und Schriftstellerin Julia Latynina. Ihre Sichtweise ist der in den meisten deutschen Medien diametral entgegen gesetzt. Und es ist bedauerlich, dass solche Stimmen bei uns nicht zu Wort kommen – das wäre im Sinne von Meinungsvielfalt unerlässlich. Latyninas Text ist in der kremlkritischen Zeitung „Nowaja gaseta“ erschienen, für die auch die ermordete Anna Politkowskaja schrieb.
Gastbeitrag von Julia Latynina
Es ist lächerlich und beschämend, wenn man die Pogrome in den USA als „Rebellion gegen das System“ bezeichnet.
Was mich am meisten überrascht, ist, dass das, was in den USA passiert, politisch korrekt als „Proteste gegen Rassismus und Gewalt im Zusammenhang mit dem Tod von George Floyd“ bezeichnet wird.
Wir nennen auch das Langzeit-Pogrom im ostukrainischen Donbass nicht „Proteste gegen die Unterdrückung der Russen in der Ukraine“. Das heißt, es gibt natürlich Leute, die das so sehen. Aber derjenigen, die das tun, die nennen wir Putin-Puppen oder Opfer der Moskauer Fernseh-Propaganda.
Was sind das denn genau für Proteste in den USA? Es sind Pogrome und Raubüberfälle. Wie sie in Russland 1917 die betrunkenen Matrosen vom Zaun brachen; wie wir sie jetzt im Donbass erleben; wie sie in Syrien der islamische Staat betreibt. Und zwar genau mit den gleichen Erklärungen: Die Randalierer seien angeblich die Opfer. Opfer von jahrhundertelanger Diskriminierung. Wenn jedem Raub von Turnschuhen aus einem Geschäft – egal ob in Donezk, der Hauptstadt des Donbass, oder in New York – hohe bürgerliche und moralische Bedeutung zugesprochen wird, macht den Tätern das Rauben gleich besonderen Spaß.
Wenn Sie dennoch glauben, es handle sich um Proteste, was genau wollen die Demonstranten dann? Was sind ihre Forderungen? Wer hat die Randalierer gefragt, die den Buchladen in Minneapolis verbrannt haben (übrigens, können Sie sich erinnern, wen es da noch gab in der Geschichte, der Bücher verbrannt hat?). Wer hat die Gewalttäter gefragt, die eine kurz vor der Eröffnung stehende Bar einer schwarzen Ex-Feuerwehrmanns zerstört haben, der sein ganzes Leben dafür gespart hatte, sie aufzumachen? Was genau wollen diese „Protestierer“? Abgesehen davon, dass sie einen neuen Fernseher aus einem Geschäft haben wollen, oder die neueste „Gucci“. Und dass es ihnen wichtig zu sein scheint, dass der Laden danach unbedingt abbrennt?
Dieses „Programm“, also das Rauben und Zerstören, haben wir kapiert, es ist offensichtlich. Aber was für eines haben sie noch? Gerechtigkeit für George Floyd? Sein Mörder sitzt bereits im Gefängnis.
Sein Mörder wird von einem Staatsanwalt angeklagt, dessen Sohn offen erklärt, dass er die Antifa unterstützt. Er wird in einer Stadt mit einem demokratischen Bürgermeister und einem Staat mit einem Gouverneur der sozialdemokratisch orientieren „Demokratischen Landwirtschafts- und Arbeiterpartei“ (sic) vor Gericht gestellt. Dieser Bürgermeister, Jacob Frey, sagt, die Unruhen in Minneapolis seien von „weißen Suprematisten und ausländischen Agenten inszeniert worden, um die Region zu destabilisieren“. Nun ja – und die Skripals wurden sicher auch von den Briten selbst vergiftet, und das US-Außenministerium arrangierte den Maidan, also die Revolution in der Ukraine. Wer so etwas glaubt, der glaubt sicher auch, dass Hollywood-Prominente bereits eifrig Spenden sammeln, um Rassisten aus den Gefängnissen frei zu kaufen.
Aber merkwürdigerweise ähneln Minneapolis Bürgermeister Jacob Frey und Rechtsanwalt Allison nicht wie Vertreter einer blutigen rassistischen Tyrannei, gegen die es keine Möglichkeiten des legalen Widerstandes gibt – es sei denn, man will einfach nur Gucci ausrauben.
Gegen Bürgermeister Frey auf die Straße zu gehen ist nichts, wozu man Mut braucht. In Hongkong protestieren sie jetzt wirklich gegen den Totalitarismus: gegen die wirkliche Zerstörung der Freiheiten der Insel durch das totalitäre China. Und es erfordert Mut, gegen Leviathan auf die Straße zu gehen – aber die Menschen in Hongkong tun es. Es erforderte Mut, auf den Maidan zu gehen 2013. Es erfordert Mut, in Moskau auf die Straßen zu gehen. Aber was erfordert Mut, wenn man einfach Geschäfte zerstört und Polizisten mit Ziegelsteinen attackiert? Wenn ein Polizist, Gott bewahre, eine Waffe auf einen dieser „Mutigen“ richten würde, würde der Bürgermeister von New York sofort verlangen, dass der Polizist gefeuert wird! Und die Tochter des Bürgermeisters gehört zu den Demonstranten. Wenn dies ein Protest gegen das System ist, was ist dann das System?
Welche anderen Forderungen haben die Randalierer?
Wollen sie, dass alle Polizisten in Minneapolis für George Floyds Tod verantwortlich gemacht werden? Alle US-Polizisten? Alle Reichen? Damit alle Geschäfte im ganzen Land von Küste zu Küste geplündert werden dürfen? Von Verizon und Macy bis zu der kleinen Bar des schwarzen Ex-Feuerwehrmanns Corboy Points, dessen „Schuld“ darin besteht, dass er sein Geld während seines harten Arbeitslebens als Feuerwehrmann gespart hat, anstatt es für Drogen und Getränke auszugeben? Wollen die Randalierer, dass all diese Bösewichte die gemeinsame Verantwortung für diesen Mord haben und damit ungestraft ausgeraubt werden können? Wollen sie, dass jeder, der im Verlauf dieser Pogrome getötet oder ausgeraubt wird, für den Tod von George Floyd schuldig gesprochen wird und dass jeder Mord oder Raub eine heilige Rache der empörten Öffentlichkeit ist?
Manche werden einwenden, dass da, wo es Protest gibt, immer auch Pogrome stattfinden.
Das sehe ich nicht so.
Der Maidan wurde am Chreschtschatik abgehalten – das ist die Fifth Avenue, der Piccadilly Circus von Kiew. Der Maidan dauerte mehrere Monate. Barrikaden standen in der Nähe der riesigen Fenster der meisten Luxusmarken. In der Nähe der Reklamaschilder von Gucci und Hermes brannten Reifen.
Aber kein einziger Laden wurde beim Maidan ausgeraubt! Obwohl ich Ihnen versichere, dass die Ukrainer, die damals auf den Barrikaden standen, viel weniger Eikommen haben als die meisten der amerikanischen Randalierer:
Ich möchte Sie daran erinnern, dass all diese Randalierer vor anderthalb Monaten von ihren Ausbeutern einen Scheck über 1.200 USD erhalten haben und diejenigen, die gearbeitet haben und ihre Arbeit verloren haben, regelmäßig einen Scheck über 600 USD pro Woche erhalten.
Während der Boston Tea Party warfen amerikanische Patrioten 342 Kisten Tee über Bord. Warum kam es ihnen nicht in den Sinn, die Kisten zu sich nach Hause zu nehmen? Die Kisten gehörten der East India Company. Die Revolutionäre beschädigten keinen einzigen Gegenstand von dieser. Das einzige, was kaputt ging, war ein Vorhängeschloss auf einem der Schiffe. Die Patrioten brachten am nächsten Morgen ein neues Schloss als Ersatz.
470.000 Menschen marschierten auf dem „Frauenmarsch“ gegen Trump – und niemand wurde dabei ausgeraubt. Die Menschen protestieren in Hongkong – und niemand wird ausgeraubt. (Übrigens, haben Sie bemerkt, dass dieselben amerikanischen Prominenten, die in den USA unerbittlich Rassismus usw. anprangern, über die Proteste in Hongkong schweigen oder sogar China unterstützen?)
Aber wir wissen, wann wer geraubt und geplündert hat. In Estland kam es zu Plünderungen während von Russland unterstützter Proteste gegen die Verlegung eines Kriegerdenkmals. Während des russisch-georgischen Krieges kam es zu Plünderungen, als die „Freiwilligen“ die gesamte georgische Enklave in Südossetien ethnisch säuberten, natürlich als Rache für die schrecklichen, aber später nicht bestätigten Gräueltaten der georgischen Truppen. Im Donbass und in Lugansk kommt es zu Plünderungen, und zwar genau nach dem gleichen Schema wie in den USA: Jeder, der ausgeraubt oder getötet wurde, war ein ukrainischer Nazi.
Wenn jemand getötet wurde, ist er damit automatisch ein Nazi.
Das Überraschendste in dieser ganzen Geschichte ist natürlich die Reaktion des amerikanischen politischen Establishments, der Gouverneure, in deren Staaten Pogrome stattfinden, der Linken – und der großen Medien.
Immer kommt folgende Begründung: Erstens sind die Plünderung das Werk weißer Suprematisten und ausländischer Agenten, und zweitens sind die Proteste gerechtfertigt. Also gut: Wenn das wirklich verkleidete Rassisten sind, die plündern, warum wird dann nicht mindestens einer festgenommen und enttarnt?
Man erklärt uns ernsthaft, dass diese unglückseligen Unruhen damit zusammenhängen, dass weiße Rassisten angeblich schwarze generell als Kriminelle betrachten. Glasklar! Und was muss man folgerichtig tun, um diese abscheulichen, grundlosen Vorurteile von Rassisten zu widerlegen? Sehr einleuchtend: Man muss dafür Gucci und Amazon plündern. Dies ist die beste Widerlegung dieser Vorurteile.
Aber darf ich dann nachfragen, warum der Mob zum Beispiel auch Synagogen und koschere Läden ausgeraubt und antisemitische Parolen an die Wände geschrieben hat? Waren es wirklich die Juden, die Floyd getötet haben? Vor nicht allzu langer Zeit hat ein schwarzer Antisemit direkt in der Synagoge mit der Machete einen 72-jährigen Rabbiner abgeschlachtet. Warum sind die Juden danach wohl nicht auf die Straße gegangen, um Harlem in Stücke zu zerlegen?
Um den wichtigsten, unmittelbaren und einfachsten Grund für die Pogrome zu verstehen, reicht es aus, zu sehen, wo sie auftreten.
Theoretisch, da werden Sie mir zustimmen, müsste die unmenschlichste Unterdrückung von Schwarzen durch blutrünstige weiße Ausbeuter in den Staaten auftreten, in denen alle Arten von Rednecks herrschen, Republikaner und vielerlei Variationen von Trump. Dort müsste es theoretisch die größten Proteste geben.
Aber aus irgendeinem Grund ist es genau umgekehrt. Die Pogrome und Raubüberfälle finden in den Städten und Staaten statt, die von demokratischen, also linken Politikern regiert werden. Von denjenigen, die sich bei den Randalierern entschuldigen.
Merkwürdig, oder?
Wenn man vor Randalieren einknickt, werden sie frech. Dieses Charaktermerkmal haben Randalierer mit einigen autoritären Führern gemeinsam (ich verzichte darauf, konkrete beim Namen zu nennen).
Die Linken argumentieren, dass institutioneller Rassismus die Hauptursache für hohe Armut und Kriminalität unter Schwarzen ist.
Ich habe gegen diese These Einwände: Hauptgrund für die Armut ist just der Krieg gegen die Armut, den die Linken selbst im Namen der sozialen Gerechtigkeit entfesselt haben und der Familien in benachteiligten Gebieten zerstört, die Bildung zerstört, den Armen den Anreiz nimmt, aus der Armut herauszukommen, und sie zu gehorsamen Wählern der immer schneller nach links abdriftenden Demokratischen Partei macht – genau das gleiche wie in Russland. Bei uns machten die Zerstörung der Marktwirtschaft und die Verarmung der Bevölkerung die Staatsangestellten zu Putins loyalen Wählern.
Deshalb ist es lächerlich und beschämend, diese Pogrome als „Rebellion gegen das System“ zu betrachten und die Schläger, aber auch die friedlichen Demonstranten mit denen gleichzusetzen, die wirklich ihr Leben riskieren, wenn sie zum Maidan oder zum Platz des Himmlischen Friedens gehen.
Diese Protestierenden in den USA riskieren so gut wie nichts nichts. Ein großer Teil des Systems ist auf ihrer Seite.
Die Wege des Herrn sind unergründlich! Früher waren es die sowjetische Propagandisten, die uns erklärten, die Vereinigten Staaten seien ein Land blutrünstiger weißer Rassisten, in dem Schwarze gelyncht werden. Jetzt erklären dies amerikanische Politiker und Professoren direkt an amerikanischen Universitäten.
Übersetzung aus dem Russischen: Boris Reitschuster
Bilder: Darja Vorontsova/Wikicommons/CC BY-SA 4.0, Flickr
Der Tenor in den deutschen Medien ist eindeutig: Es sind die Unterdrückten und die Opfer von Rassismus, die in den USA auf die Straße gehen. Bundeskanzlerin Angel Merkel rief die US-Bürger sogar durch die Blume auf, noch zahlreicher auf die Straße zu gehen. Umso erstaunlicher ist, wie in anderen Ländern die Proteste gesehen werden: Als Pogrome, bei denen auch Antisemitismus an den Tag kommt. Hier ein Artikel der oppositionellen russischen Journalistin und Schriftstellerin J Latynina. Ihre Sichtweise ist der in den meisten deutschen Medien diametral entgegen gesetzt. Und es ist bedauerlich, dass solche Stimmen bei uns nicht zu Wort kommen – das wäre im Sinne von Meinungsvielfalt unerlässlich.