Die Projektions-Kanzlerin Hans-Joachim Maaz im Interview – Teil 2

Unsere Politik ist zu einem „zugespitzt narzisstischen System“ geworden, und in der Krise kann das fatale Folgen haben, warnt der Bestseller-Autor und Psychiater Hans-Joachim Maaz im Exklusiv-Interview, Teil 2 (Teil 1 finden Sie hier)

Frage: Auf Zweifel und Fragen wird sehr aggressiv reagiert. Vor allem, wenn man auf das schwedische Modell hinweist und darauf, dass die von dessen Kritikern vorher gesagte Katastrophe bisher ausblieb. Wäre es unerträglich, sich einzugestehen, dass es anderswo ohne die harten Einschnitte auch ging?
Maaz: Genau. Schweden wäre in dem Beispiel aus der Gruppendynamik das Omega der Welt oder Europas. Sie haben etwas anderes gemacht. Die Aufgabe wäre, das Omega zu integrieren. Sich genau anzusehen: Was haben die anders gemacht? Warum? Mit welchen Ergebnissen? Man müsste den Vergleich herstellen. Das würde aber den Mut voraussetzen, dass heraus kommt, dass man selbst falsch gedacht und gehandelt hat. Unter dem Strich würde man wohl herausfinden: Wir haben dieses falsch gemacht, die Schweden haben jenes nicht bedacht – es ist ja nicht so, dass die nur besser dastehen in jeder Hinsicht. Das wäre die Aufgabe – den Außenseiter zu integrieren. Aber dass man diesen Austausch nicht mehr führt, ist für mich ein Zeichen, dass da noch andere psychologische Faktoren eine Rolle spielen.

Frage: Welche?
Maaz: Politiker müssen handeln. Und sie müssen in dieser Krise handeln in einer Situation, die nicht ganz klar war. Wo die wissenschaftlichen Erkenntnisse widersprüchlich, undurchsichtig sind. Sie haben da eine sehr schwierige Aufgabe. Denn nicht handeln ist schlimmer als falsch handeln.

Frage: Warum?
Maaz: Das ist juristisch und psychologisch so. Man kann verklagt werden oder den Vorwurf bekommen, nichts gemacht zu haben. Wenn man falsch gehandelt hat, kann man dagegen immer sagen: Wir haben das Beste gewollt, aber leider ist das nicht so gelungen. Das wird immer mehr verstanden. Und unter diesem Druck müssen Politiker handeln. Auch um ihre Position zu stärken: Sie müssen ja immer den politischen Gegner und die nächste Wahl im Blick haben. Und in einer solchen Situation ist es sehr, sehr schwierig, zu sagen: Das war vielleicht überzogen. Das sehen wir jetzt anders. Wir können jetzt anders handeln. Dieses Format haben wenige. Stattdessen ist die Angst groß, eine narzisstische Kränkung zu erleiden, wenn man nicht so gut gehandelt hat, wie es hätte sein können.

Frage: Sie sprechen das Format von Politikern an. Täuscht der Eindruck, dass wir von Leuten regiert werden, die den Herausforderungen nur bedingt gewachsen sind?
Maaaz: Ich habe mich in meinem Buch „die narzisstische Gesellschaft“ sehr eindrücklich mit dem Problem des Narzissmus beschäftigt. Ich bin zu dem Erkenntnis gekommen, dass in der heutigen Politik eine narzisstische Problematik eine große Rolle spielt. Vielleicht ist es immer schon so gewesen, das kann ich nicht beurteilen, da fehlt mir die Kompetenz für eine historische Perspektive. Eine narzisstische Störung besteht darin, dass man die eigene Position immer für die beste hält. Und zwar für alternativlos. Und da gehört dann dazu, dass jede andere politische Meinung abgelehnt wird. So ist der Narzisst.

Frage: Können Sie das weiter ausführen?
Maaz: Der Narzisst sagt, ich bin der Beste, ich bin wichtig. Dazu gehört, dass immer andere abgewertet werden müssen. Wenn man das tut, wird man relativ besser, größer. So ist unser demokratisches System aufgebaut, unser Parteiensystem. Die eine Partei sagt, wir sind die besten, alle anderen sind schlechter, oder falsch. Diese Abwertung untereinander hat zugenommen. Es ist ein zugespitztes narzisstisches System geworden. Zum Narzissmus gehört auch das, was wir Empathie-Schwäche oder Empathielosigkeit nennen. Der Narzisst hat wenig oder kein Gefühl für andere Menschen, für andere Situationen. Nur soweit, dass andere Menschen oder Situationen ihm dienen, für die eigene Wertschätzung. Menschen werden benutzt für die eigene Macht und den eigenen Glanz. Wenn jemand mit dieser Problematik politisch handelt, tut er sich schwer damit, die Folgen für andere abzuschätzen: Wie es anderen damit geht. Weil das würde ja Empathiefähigkeit voraussetzen. Die fehlt aber häufig bei Menschen in einer solchen Situation. Bzw. Menschen mit so einer Empathie kommen oft nicht nach oben, weil man ja im Konkurrenzkampf immer so auftreten muss, als sei man stärker, klüger, besser als andere. Die Selbstüberhöhung gehört zur Grundhaltung, und deshalb ist es so schwer, Fehler und Schwächen zuzugeben. Das macht es in einer Gesellschaft mit narzisstischer Grundlage sehr schwer, etwas zu korrigieren.

Frage: Angela Merkel wirkt auf mich sehr unempathisch, so, als würde sie mit den Bürgern wie mit kleinen Kindern reden. Aber vielen scheint genau das zu gefallen. Man nennt sie auch Mutti, obwohl sie mir als das Gegenteil derselben erscheint. Wie sehen Sie ihre Rolle in der Krise? Dass Regierende darin als „Retter“ gesehen werden, haben Sie dargelegt. Aber warum wird ausgerechnet Merkel so erfolgreich in dieser Rolle wahrgenommen von so vielen?
Maaz: Das liegt daran, das sie nach Wahrnehmung vieler unaufgeregt agiert. Sie erweckt damit den Anschein: Alles ist in Ordnung, wir kriegen das hin, wir schaffen das, beruhigt euch. Das hat eine suggestive Wirkung. Vor allem für die Menschen, die jetzt eine solche Führung brauchen, die sehr unsicher sind, sich sehr bedroht fühlen, nicht wissen, was wird, wie es für sie persönlich, beruflich und finanziell weiter geht. Ihnen scheint es, die wird das schon machen. Merkels Stärke besteht darin, dass sie Projektionsfläche bietet. Deshalb „Mutti“: Die Mutti kriegt das schon hin. Weil sie nach Wahrnehmung vieler so bescheiden auftritt, so beruhigend, weil sie sagt: Das schaffen wir. Diese Projektion ermöglicht es vielen, zu glauben und zu hoffen, dass sie eine gute Chefin ist.

Frage: Also das, was ich als negativ empfinde, ihre Emotionslosigkeit, empfinden viele als beruhigend, weil sie damit Beherrschbarkeit suggeriert, das ist also eine Frage der persönlichen Wahrnehmung, und das, was eigentlich ihre Schwäche ist, diese Kälte, wird zu ihrer Stärke?
Maaz: Genau. Weil sie unklar bleibt. Sie hat sich ja lange Zeit gar nicht geäußert. Und wenn sie es doch tut, spricht sie oft verschwurbelt, phrasenhaft, man schämt sich manchmal, weil sie spricht wie mit kleinen Kindern, aber genau das ermöglicht dann ja, eigene Hoffnungen und Gedanken auf sie zu projizieren, weil sie so unklar bleibt, weil sie in Phrasen bleibt. Wenn sie klarer und härter sprechen und vor allem ihre Phrasen begründen würde, dann müsste sie ja Stellung nehmen zu bestimmten Positionen. Dann würde sie angreifbar: Dann würden viele Menschen sagen: Oh, das ist jetzt aber komisch. Das kann ich nicht nachvollziehen. Indem sie genau das nicht macht, nur sagt, „wir schaffen das“, ohne zu erläutern wie, ohne die Inhalte zu begründen, eröffnet sie eine breite Fläche für Projektion. Für Projektion der Hoffnung und der guten Führung.

Frage: Der Preis dafür ist dann, dass es sehr undemokratisch ist, denn ich kann ja keine inhaltliche Position führen über etwas, was nicht formuliert ist.
Maaz: Natürlich. Das ist die große Angst, die im Moment besteht, dass wir zunehmend wieder in solch eine autoritär geführte Gesellschaft abdriften. Deshalb halte ich es für ganz wichtig, dass die Grundrechte aus unserer Verfassung wieder hergestellt, gewahrt bleiben und auch weiterhin geschützt werden.

Frage: Erschreckend ist auch, wie groß die Sehnsucht nach dem Autoritären in Deutschland wieder ist – ich hatte das für überwunden geglaubt, war aber offensichtlich zu naiv.
Maaz: Wir hatten schon ein demokratisches System, das ganz gut funktioniert hat, jedenfalls nach 1968. Aber die Demokratisierung nach dem 2. Weltkrieg war insgesamt nur eine äußerliche, und keine innere, im Sinne einer innerseelischen Verankerung im Menschen. Eine innere Demokratisierung wäre die Fähigkeit, eigene Schwächen und Fehler zu sehen und die nicht projizieren zu müssen.

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Frage: Was verstehen Sie hier unter projizieren?
Maaz: Wer bei sich unangenehme Eigenschaften nicht sehen und erkennen will, ist stets verführt, diese beim anderen zu sehen und dort zu kritisieren und zu bekämpfen. Viele Menschen bleiben von äußeren Einflüssen und Bewertungen abhängig. Sie tun das, was getan werden soll, um anerkannt zu werden. Viele sind in ihrer Kindheit nicht so bestätigt worden, dass sie sagen: Ich bin okay, was ich mache, ist in Ordnung, ich habe meine Grenzen, aber das ist nicht schlimm. Sie sind abhängig geblieben von der äußeren Bestätigung. Sie haben keine hinreichende Selbstbestätigungsfähigkeit entwickeln können. Solche Menschen sind dann in einer Demokratie durchaus in der Lage, sich einzuordnen, weil es pluralistische Möglichkeiten gibt. Wenn sich aber die Verhältnisse zuspitzen, und die Pluralität verloren geht, verlieren solche unsichere, abhängige Menschen ihren Freiraum, ihre Nische, sind dadurch verstärkt verunsichert und brauchen eine neue Führungshoffnung. Und jetzt spitzt sich etwas zu: Phänomene wie politische Korrektheit und die Verfolgung von Andersdenkenden haben damit zu tun, dass eine krisenhafte Entwicklung in der Gesellschaft stattfindet, in der viele Menschen ihre mühsam erworbenen kleinen Freiräume verlieren, und sich jetzt nach einer neuen Führung sehnen. Nach einer strafferen, strengeren. Je größer die Krise, umso größer wird der Anreiz für unselbständige, verunsicherte, abhängige Menschen, sich eine autoritäre Führung zu wünschen, die alle Probleme lösen könnte.

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Frage: Was ist Ihr persönlicher Ratschlag für Menschen in dieser Krise?
Maaz: Sich umfassend zu bilden und zu informieren. Dazu genügen offensichtlich die öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten nicht mehr, weil die einseitig bleiben. Ich rate jedem, sich breiter zu informieren, um in die Lage zu kommen, abzuwägen, Für und Wider, sowohl als auch. Um sich eine eigene, ausgewogene Meinung zu bilden. Und keine einseitige. Denn die birgt immer die Gefahr, dass man alle anderen beschimpft, und verdrängt. Zudem ist auch ein Austausch mit anderen Menschen wichtig. Keiner weiß im Moment, was alles richtig und falsch ist. Durch Austausch kommt man der Realität meistens etwas näher. Hauptziel ist, dass wir eine übermäßige Sterbe-Angst überwinden und eine übermäßige Abhängigkeit von Autoritäten – genau letztere bricht in uns auf. Wir müssen uns fragen: Wie gehe ich mit Krankheiten und Sterben um? So, dass ich mir keine übermäßige Angst einjagen lasse? Wie frei bin ich? Wie abhängig bin ich? Und was behindert meine Unabhängigkeit?

Frage: Wenn Menschen andere wegen deren Meinungsäußerungen beschimpfen, aggressiv werden, ist das also eher ein Hilfeschrei, ein Zeichen, dass sie unsicher sind?
Maaz: Es ist ein Zeichen, dass sie verunsichert sind. Dass sie das, was der andere sagt, nicht wahrhaben wollen. Das löst dann Aggressivität aus. Das ist in der Regel ein Zeichen für eine Selbstunsicherheit. Denn ein selbstsicherer Mensch würde sagen: Aha, da ist einer, der sieht das so, das ist ja ganz anders, als ich das sehe – da muss ich mich mal auseinandersetzen damit. Da muss ich doch nicht böse werden deshalb. Er kann ja auch recht haben. Und vielleicht habe ich ja auch selbst etwas noch nicht richtig verstanden. Oder ich habe mich geirrt. Das wäre eine gesunde Auseinandersetzung, bei einem gesunden Selbstwert. Da muss man nicht Menschen beschimpfen und verfolgen, die anders denken. Sondern immer fragen: Aha, was hat der für ein Motiv, wie kommt der dazu? Was davon kann ich teilen, oder was eben nicht, weil ich da bei meiner, anderen Meinung bleibe. Demokratie bedeutet immer gelebte Auseinandersetzung. Dabei ist es wichtig, zu verstehen, dass Inhalte Motive aus der eigenen Persönlichkeitsstruktur und Lebenslage haben, und auch Interessen mitspielen, persönlich etwas erreichen zu wollen. Das muss man in einer Demokratie akzeptieren.

Lesen Sie im ersten Teil des Interviews mit Maaz (Link hier):

  • Wie die Corona-Krise unsere Urängste weckt.
  • Wie und warum Politik und Medien diese schüren.
  • Wie die Panik Rettungs- und Erlösungswünsche weckt.
  • Warum in der Krise die Sehnsucht nach autoritärer Führung wächst.
  • Warum die Krise die Spaltung der Gesellschaft wachsen lässt.
  • Warum die Ausgrenzung von Andersdenkenden so gefährlich ist.

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Hans-Joachim Maaz, Bestsellerautor und seit 40 Jahren praktizierender Psychiater und Psychoanalytiker, war Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik des Diakoniekrankenhauses Halle. Er ist ein gefragter Analytiker insbesondere der gesellschaftlichen Befindlichkeit in Ostdeutschland. Seine Bücher “Die narzisstische Gesellschaft” und “Gefühlsstau” sind Standard-Werke. Zuletzt erschien im März sein Buch “Das gespaltene Land” im C.H.Beck Verlag.


Bilder: Kremlin.ru./bearbeitet Reitschuster C.H.Beck

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