Die vertuschte Corona-Analyse: Der Medien-GAU

+++ Aktualisierung 13.5.20, 00.40 Uhr +++

Als sich Experten, die den Autor der kritischen Corona-Studie aus dem Innenministerium berieten, über den Umgang mit dieser beschwerten, reagierte der FOCUS, für den ich 16 Jahre in verantwortlicher Position arbeitete, als sei er die Regierungspressestelle (wohin zwei Focus-Redakteurinnen übrigens wechselten). Der Beitrag dort, am Dienstag Abend ganz groß oben auf der Seite, könnte in künftigen Journalismus-Seminaren als Beispiel dafür dienen, wie Informations-Nebelkerzen aussehen, mit denen von inhaltlicher Debatte und problematischem Handeln der Regierung abgelenkt und der Leser in eine bestimmte Richtung geleitet wird. So erwecken Autor und Redaktion den Eindruck, die entscheidende Frage sei, ob Peter Schirmacher, Direktor des Pathologischen Instituts des Universitätsklinikums Heidelberg und Mitglied der „Leopoldina“, der renommierten Nationalen Akademie der Wissenschaften, die Anfrage des Ministeriums für offiziell oder für nicht offiziell hielt. Was eigentlich kaum eine Rolle spielt. Aber so wird unterschwellig und durch die Überschrift („Skandal um Corona-Papier: Beteiligter Arzt wusste nichts von Beamten-Alleingang“) das Thema so dargestellt, dass der flüchtige Leser den Eindruck bekommt, Schirmacher habe sich von dem Papier distanziert. Das hat er aber nicht. Im Gegenteil. Und erst am Ende des sechsten Satzes wird das nach langer Skandalisierung beiläufig erwähnt. In meinen Augen ist das so nicht zulässig, ja verstößt gegen journalistische Sitten.

Schirmachers Position ist deshalb so brisant, weil die Kanzlerin auf das Wissen der „Leopoldina“ setzt und dort auch ihr Mann tätig ist. Nicht deutlich wird in dem Focus-Bericht, dass ausgerechnet der Experte der Kanzler-Akademie die Erklärung der Experten mitunterzeichnete, in der diese das Vorgehen des Ministeriums kritisierten (im Wortlaut auf reitschuster.de hier). Das wäre der brisanteste Teil der Nachricht, und das hätte in die Überschrift gehört. Stattdessen wird diese Erklärung in dem Focus-Beitrag nur indirekt und in einem Satz im neunten Absatz erwähnt, mit dem negativen Hinweise, einer der Experten habe sie nicht unterzeichnen wollen. Kein klarer inhaltlicher Verweis auf die Erklärung, keine Verlinkung. Zudem wird in dem Beitrag etwa behauptet, einer der Experten habe gewußt, dass die Studie nicht im offiziellen Auftrag erstellt worden sei – in dessen Zitat ist so eine Aussage dann aber gar nicht zu finden. Die Liste der Merkwürdigkeiten ließe sich fortsetzen.

+++ Ende der Aktualisierung +++

12.5.2020

Vernichtender kann ein Urteil über die Medien in der Bundesrepublik Deutschland eigentlich kaum ausfallen als in der 93-seitigen Corona-Analyse aus dem Innenministerium, die hart mit den Corona-Maßnahmen ins Gericht geht und diese als weitgehend unnötig und schädlich charakterisiert. Paradoxerweise bestätigt die Reaktion von Funk und Presse haargenau die Kritik: Die meisten verschweigen das Papier bzw. spielen es herunter als „Privatmeinung“ eines Beamten – was völlig absurd ist und die Intelligenz der Leser bzw. Zuschauer beleidigt.

Hier die Medien-Passage aus der Analyse, die auch in den wenigen kritischen Berichten über die Studie völlig unverdienterweise untergeht: „Die Rolle der Bundeskanzlerin, die einer gesonderten Untersuchung bedarf, war vielfach nicht transparent, vielleicht sogar missverständlich, aber bei den Medien und der Bevölkerung kam das Agieren der Kanzlerin gut an. Dieser Komplex müsste aus drei Gründen näher untersucht werden: 1. Publikumsgefallen ist keine Garantie und noch nicht einmal überhaupt ein Kriterium für richtige Entscheidungen. Mit ihm kommt ein sachfremder Motivator ins Spiel, der anfällig für Fehlentscheidungen macht. 2. Übergroße Zustimmung und Akzeptanz selbst für Unsinn erzielen zu können, birgt eine große Gefahr für unser Gemeinwesen in sich. 3. Die nahezu durchgängige positive Resonanz der Medien insbesondere auf jegliche Aktivität der Bundeskanzlerin, egal was sie gerade ankündigte und wie und mit welchem Timing sie ihre Haltung zu bestimmten Fragen als alternativlos darstellte oder auch änderte, bestätigt leider negative Vorurteile über die Presse. Als Korrektiv für Fehlentwicklungen z.B. in einem suboptimalen Krisenmanagement scheint der übergroße Teil der (freien) Presse mehr oder weniger unbrauchbar. Aus gesamtstaatlicher Sicht muss das als Warnsignal angesehen werden. Es empfiehlt sich sehr, bei künftigen Anpassungen der rechtlichen oder Rahmenbedingungen auf eine wieder größere Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit hinzusteuern. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Presse die Regierung geschlossen massiv einseitig und ungerecht kritisierte, und durch ihren Einfluss eine politische Machtveränderungen einfach auslösen könnte, dürfte gegen null gehen. Die Gefahr, dass die Bevölkerung alles glaubt, was sie von den meisten Medien serviert bekommt, und sich dies unkritisch zu eigen macht, liegt sehr hoch.“

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Außer den Reaktionen auf den „Anlagenband zum ´Auswertungsbericht´ vom 7. Mai 2020“ des Referenten K. Dass die meisten Medien fast wortgleich die Beschwichtigung aus dem Ministerium übernehmen, ist nicht nur eine grobe Verletzung der journalistischen Ethik und bestätigt das vernichtende Urteil aus der Analyse – es ist auch völlig absurd. Denn Hand aufs Herz: Können Sie sich vorstellen, dass ein verantwortlicher Beamter in einem Ministerium, der im Referat KM 4 (Schutz kritischer Infrastrukturen) in der Hierachie an zweiter Stelle stand, eine 93-seitige Analyse einfach nur als Privatvergnügen und ohne Auftrag erstellt und die dann auch noch lange im Ministerium zirkuliert? Alle Begleitumstände lassen die offiziellen Erklärungen aus dem Hause Seehofers absurd erscheinen (der frühere russische Vize-Regierungschef Alfred Koch macht sich auf facebook darüber lustig – unten der Text des Bürokratie-Kenners in Übersetzung aus dem Russischen). Dass so viele Kollegen diese haarsträubende Erklärung ohne Hinterfragen schlucken, ist nicht nur eine journalistische Bankrott-Erklärung. Es bestätigt paradoxerweise exakt die Thesen und Vorwürfe aus dem Papier.

Zur Veranschaulichung hier zwei Pressestimmen: spiegel.de: „Das Bundesinnenministerium von Horst Seehofer (CSU) muss sich mit einem pikanten Vorgang im eigenen Haus beschäftigen. Ein Referent des Ministeriums hat, ohne dafür einen Auftrag bekommen zu haben, ein Papier zur Coronakrise verfasst – das im völligen Widerspruch zur Haltung des Ministeriums steht. Das gut 80 Seiten umfassende Papier soll er nach SPIEGEL-Informationen sowohl intern wie extern an einen großen Verteiler verschickt haben. Am Wochenende landete es dann auf der rechtskonservativen Seite „Tichys Einblick“ – wo der Referent als eine Art Whistleblower dargestellt wird.“

n-tv: „Ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums (BMI) in Berlin hat auf eigene Faust eine Analyse zum Umgang der Bundesregierung mit dem neuartigen Corona-Virus erstellt und versendet – an einen großen Verteiler mit Empfängern sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Seehofer-Behörde. Pikant: Die Thesen des Papiers, das am Wochenende auf dem rechtskonservativen Blog „Tichys Einblick“ veröffentlicht wurde, widersprechen der Haltung des Ministeriums diametral.“

In einer noch halbwegs funktionierenden freien Presse- und Medienlandschaft mit wirklichem Pluralismus und einem nicht nur zur Potemkinschen Fassade verkommenen Kontrollauftrag der Medien wären die Vorwürfe aus der Analyse, insbesondere der Nutzlosigkeit und Gefährlichkeit der Corona-Maßnahmen, und der Protest der Experten tagelang ein großes Thema. Leitmedien würden intensiv recherchieren, was dahinter steckt, warum das Papier vertuscht wird. Dass dies nicht geschieht, dass die Thesen aus dem Papier nicht einmal wiedergegeben, geschweige denn diskutiert werden, und dass stattdessen die Kollegen wie Sprachrohre der Regierung funktionieren und sich nicht entblöden, dummdreiste Rechtfertigungsversuche aus dem Ministerium als Fakten wiederzugeben, dass sie damit selbst Teil der Vertuschung wurden, ist ein Medien-GAU.P.S.: Facebook-Text des frühere russische Vize-Regierungschefs und Leiter der russischen Privatisierungsbehörde Alfred Koch, der Bürokratien von ganz oben und auch von innen kennt, über die Absurdität der Erklärungen des deutschen Innenministeriums zu der Analyse (Übersetzung aus dem Russischen):

Liebend gerne würde ich so einen Menschen einmal mit eigenen Augen sehen – einen Beamten, der aus eigener Initiative einen 80-seitigen Bericht verfasst hat, ihn aus eigener Initiative an die Mitarbeiter seines eigenen Ministeriums verteilt, und das alles, obwohl er damit Gefahr lief, bei seinen Vorgesetzten in Ungnade zu fallen! Ich habe noch nie in meinem Leben so einen Beamten gesehen! Es ist offensichtlich, dass dies ein vertrauliches Dokument war, das zu erstellen die Leitung des Ministeriums diesem Beamten angeordnet hatte. Er hat dienstbeflissen gehorcht, die Analyse erstellt und sie dann auf den Instanzenweg geschickt. Und dabei ist sie versehentlich in die Öffentlichkeit gelangt. So lief es in meinen Augen in Wirklichkeit ab. Und diese Version des Geschehens steht im Einklang mit meinen Vorstellungen über deutsche Beamte (die ich bereits recht gut studiert habe). Und nicht nur über deutsche.“Und zu den Erklärungsversuchen des Ministeriums:

„Das ist eine typische Reaktion von Bürokraten darauf, dass vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit geraten. Was sollen sie sonst schon sagen? Dass alles genau so zutrifft und sie sich in die Hose gemacht haben? Dass solche Berichte schon lange intern zirkulieren und alle schon alles verstanden haben?Haben Sie jemals Beamten gesehen, die zugeben, dass sie ihrem Heimatland mindestens eine Billion Euro Schaden zugefügt haben (…)Nein, es ist einfacher zu sagen, dass irgend ein Beamter auf unterer Ebene seine Autorität überschritten und auf Eigeninitiative einen 80-seitigen Bericht erstellt hat. (…)Glauben Sie wirklich solchen Unsinn? Müssen Sie da wirklich nicht lachen.

 


Bild: publicdomainvectors.org/CC0 1.0 Universal (CC0 1.0), Pixabay

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