Von Sönke Paulsen
Als das Bundesverfassungsgericht die Bundesnotbremse, welche bundesweite Lockdowns vorschrieb, rechtfertigte, gab es wenige Stunden später eine Stimme aus dem Kanzleramt, die nun eine allgemeine Impfpflicht forderte. Kanzleramtsminister Helge Braun nutzte den Urteilsspruch sofort, um eine quasi diktatorische Maßnahme zu fordern. Ganz nach dem Motto: „Der Weg ist frei, marschieren wir durch!“
Die Ampel ist da zunächst nicht mitgegangen, wurde aber inzwischen gebeugt. Eine Debatte im Bundestag über eine allgemeine Impfpflicht, mit Abstimmung ohne Fraktionszwang, soll der Ausweg sein. Was für ein Ausweg? Die FDP ist inzwischen umgekippt und die Union will mit dem Reinwaschen der eigenen Pandemiepolitik fortfahren, was zugleich ein Anliegen der SPD ist.
Wenn diese allgemeine Impfpflicht beschlossen würde, könnte sie frühestens im Februar nächsten Jahres wirksam werden. Dann nämlich, wenn eine allgemeine Impfung auch organisiert werden kann. Einen Zwang kann es aus verfassungsrechtlicher Sicht aber nicht geben, die Nichteinhaltung wird voraussichtlich mit Bußgeldern, als Ordnungswidrigkeit, geahndet werden.
Aber noch ist es ja nicht so weit und ich hoffe sehr, dass die Abgeordneten des neuen Bundestags ihren Verstand benutzen und die allgemeine Impfpflicht ablehnen werden. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Seit Wochen schreien die „obersten Manipulationsorgane“ unseres Landes nach einer solchen Impfpflicht und malen quasi diktatorische Verhältnisse an die Wand, welche klar gegen das Grundgesetz verstoßen würden.
Gleich im zweiten Artikel heißt es:
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte Anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“
Damit ist eindeutig nicht das Recht gemeint, gegen ein Virus verteidigt zu werden, und auch nicht das Recht auf ewiges Leben! Damit ist gemeint, dass staatliche Eingriffe in diese Grundrechte verboten sind.
Das Bundesverfassungsgericht, seit dem Ende der Amtszeit von Vosskuhle und der Übernahme durch den „Merkel-Getreuen“ Stephan Harbarth nicht mehr so sehr an den Geist des Grundgesetzes gebunden, hat daraus ein „Recht auf Verhältnismäßigkeit“ gemacht. Sogar den ersten Artikel darf eine Regierung beugen, wenn es irgendwie verhältnismäßig erscheint! Das ist, mit Verlaub, der Anfang vom Ende unseres Rechtsstaats und einer rechtsstaatlichen Demokratie, die noch bereit ist, sich an Grundregeln zu halten.
Womit wir zurück zur Ampel kommen.
Mit dem Programm dieser Koalition bin ich zum großen Teil nicht einverstanden. Ich bin aber mit dem Weg einverstanden, auf dem die drei Parteien zu diesem Programm gekommen sind. Das waren ehrliche Verhandlungen, die nicht durch hinterhältige Manipulationen, sondern durch sachlichen Austausch geprägt waren. In unserer Republik eine Besonderheit!
Wir haben ein politisches Klima, das eher an den spätrömischen „Circus Maximus“ erinnert als an eine vernünftige und patriotische Republik, in der Meinungs- und Entscheidungsträger das Wohl des Landes im Auge haben. Unter Merkel haben wir ein politisches Klima der Verantwortungslosigkeit auch gegenüber der Demokratie bekommen, fast so, als wären die meisten Leute dieser Staatsform müde geworden.
Merkel hat es vorgemacht! Ihr Desinteresse an demokratischen Entscheidungsprozessen im Sinne der Verfassung dürfte nicht nur wegen der schleichenden Übernahme aller Entscheidungsbefugnisse der Ministerpräsidenten in der Pandemie sprichwörtlich werden, wenn ihre lange Regierungszeit erst richtig aufgearbeitet wird. Denn dieser kleine Staatsstreich gegen das Grundgesetz ist kein Einzelfall.
Wir erinnern uns an den Angriff auf die Unversehrtheit unserer Grenzen während der Migrationskrise, wir erinnern uns an den Eingriff in eine Landtagswahl in Thüringen, und wir erinnern uns noch ganz frisch an das dreiste Übergehen Polens bei den Gesprächen mit Lukaschenko über seine „Flüchtlingsangriffe“ auf die polnische Grenze. Merkel ist selbstherrlich und weist eine geringe Bindung an die Demokratie auf. Das hat sie uns immer wieder vorgeführt. Auch in der Bankenkrise, die sie unter der Hand mit Josef Ackermann geregelt hat, und während der Eurokrise, in welcher sie die Südeuropäer mit einem Hitler-Bärtchen versehen haben.
Eine laut grölende Republik ohne Sensibilität und Verstand
Wir wachen nach Merkel in einer laut grölenden Republik ohne Sensibilität und Verstand auf.
Die Medienlandschaft und die öffentlichen Manipulationsorgane, die sie in ihren vier Legislaturperioden herangezüchtet hat, sind entsprechend verantwortungslos, aggressiv und selbstherrlich geworden.
Vielleicht liegt es an uns Deutschen? Die meisten Filme aus deutscher Produktion kann ich nicht anschauen, weil dort regelmäßig geschrien wird. Wann den Leuten das endlich mal auffällt? Immer, wenn es emotional werden soll, wird es stattdessen laut. Man schreit sich an und hält das für emotionalen Ausdruck. Ich kenne kein Land auf der Welt, das einen derartig groben und holzschnittartigen Zugang zur Emotionalität hat wie Deutschland. Aber auch am Intellekt fehlt es. Die Proletarisierung unserer Kultur hat zur „Emanzipation der Dummheit“ im öffentlichen Leben geführt. Feine Zwischentöne sind verpönt.
Nun also schreien eben diese „Kulturträger“ die Impfpflicht herbei und schämen sich nicht. Sie haben keinerlei Respekt vor unserem Grundgesetz und nicht die Spur einer Ahnung, was Demokratie bedeutet. Sie denken, es ist das „Recht der Lautesten“, die von sich behaupten, dass sie „die Mehrheit“ sind. Sie agieren mit ihren Daumen und fühlen sich dadurch legitimiert. Wer einen Daumen hat, kann ihn heben oder senken. Das sei Demokratie.
Nein, das ist nicht Demokratie! Demokratie ist der Respekt vor der Meinung der Anderen. Alles andere ist „grölende Dummheit“, vornehmer ausgedrückt „Massenpsychologie“. Die gibt es auch in Russland und China und hat mit Demokratie nichts zu tun.
Unser Frontalhirn, das wir brauchen, um Entscheidungen zu treffen und uns zu kontrollieren, reift nach neurowissenschaftlichen Erkenntnissen mit etwa einundzwanzig Jahren aus. Davor sind wir mehr oder weniger Impulsbündel und stark abhängig von manipulativen Einflüssen. Die Ampel hat das Wahlrecht ab sechzehn Jahren in ihr Programm geschrieben. Damit geht sie noch einen Schritt weiter auf dem Weg zur „manipulierten Gesellschaft“ und ebnet den Ideologen den Weg. Es kann nur gehofft werden, dass eine solche Grundgesetzänderung im Bundestag keine Zweidrittel-Mehrheit findet. Eine Dummheit, die ebenso wie die Legalisierung von Cannabis als Zugeständnis an die „Nicht-Denker“, die Demokratie für eine Manipulations-Arena ohne Grenzen halten, ins Programm aufgenommen wurde. Genau die haben bei uns die Oberhand bekommen und ziehen unser Land herunter.
Wenn die Spitzen der Ampel weiterhin demokratische Kultur für sich reklamieren wollen, dürfen sie sich nicht von den Schreihälsen treiben lassen und schon gar nicht vom „Machtwort Merkels“, wie gerade geschehen. Die Krise unserer Demokratie ist in Wirklichkeit eine ausgeprägte Krise des Intellekts, welcher es in Deutschland nie besonders leicht hatte.
Das Land der Dichter und Denker ist eine Legendenbildung. Den Intellekt haben wir in Deutschland immer nur als sorgsam verborgene Antithese zur vorherrschenden Geistlosigkeit erlebt. Insofern gibt es hier keine historischen Brüche.
Wie auch immer.
Dummer Aktionismus beherrscht unser Land
Der selbstherrliche Aktionismus der Kanzlerin in der Pandemie ist gerade zur Maxime der designierten Bundesregierung geworden. Er ist so sinnlos, dass man den Mund nicht mehr zubekommt vor Staunen. Eine Impfpflicht rettet jetzt niemanden. Das Virus wird weiter mutieren und einen Circulus Vitiosus immer neuer Impfkampagnen erzwingen. Dabei wird es uns immer einen Schritt voraus sein. Die 2G-Diktatur hat nur einen Sinn, wenn man Ungeimpfte zur Impfung erpressen kann, aber keinen Effekt gegen die Pandemie, wie wir leidvoll während der vorangegangenen Lockdowns erfahren mussten. Die häuslichen Regeln, die da lauten: „Gib Dich nicht mit Ungeimpften ab“, fallen ebenfalls in diese Kategorie. Auch die vollständigste Durchimpfung einer Bevölkerung kann die Pandemie nicht besiegen.
Was wir brauchen, sind medizinische Puffer in einem gut aufgestellten Gesundheitssystem. Warum wurden diese Puffer in der Pandemie abgebaut und nicht aufgebaut? Es wurde viel Geld verschleudert und nicht dahin investiert, wo wir es gebraucht hätten. In die Krankenhäuser und ihre Intensivbereiche.
Aktionismus eben. Keine Vernunft!
Dummheit pur!
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.
Bild: Alexandros Michailidis/Shutterstock, Ekaterina QuehlText: Gast