Es ist eines der größten Paradoxe in Deutschland: Allein im Mai gab es 2,7 Millionen Arbeitslose im Land – 172.000 mehr als im April. Parallel suchen Arbeitgeber quer durch Deutschland fast schon verzweifelt nach Mitarbeitern. Und zwar auch nach unqualifizierten. „Wie passt das bitte zusammen?“, fragt jetzt die „Bild“ – und erwähnt dabei einen der wichtigsten Faktoren nur ganz am Rande und beiläufig: das Bürgergeld.
Insgesamt gab es im Mai 2024 durchschnittlich rund 5,5 Millionen Bürgergeldempfänger in Deutschland. Rund 4 Millionen davon waren erwerbsfähig, nur 1,5 Millionen nicht erwerbsfähig. Diese Zahlen zeigen deutlich: Die Anzahl der Leistungsempfänger ist im Vergleich zu den Vorjahren gestiegen und auf dem höchsten Stand seit 2018.
„Wir bürgern jetzt“ – vor diesen drei Worten haben Arbeitgeber in ganz Deutschland Angst. Erst kürzlich erzählte mir eine Ärztin, dass wieder eine Mitarbeiterin von ihr ins Bürgergeld gewechselt ist. Und sie fürchtet, dass ihr weitere folgen. Eine Bekannte in Berlin, die an einer Hotelrezeption arbeitet, klagt, sie käme mit Bürgergeld besser weg als mit ihrer Arbeit – vor allem, weil dann etwa noch viele soziale Vergünstigungen für ihre Kinder dazukämen.
Doch Hinweise auf diese Fehlsteuerung sind in Deutschland weitgehend tabu. Wie so vieles, was nicht ins rot-grüne Weltbild passt.
Ein Heer von Fachleuten, oft genug direkt und indirekt vom Steuerzahler bestellt, ist hauptberuflich damit beschäftigt, Nebelkerzen zu werfen.
„Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit können gleichzeitig zunehmen“, sagt etwa Lydia Malin, Fachkräfte-Expertin vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln, die von der „Bild“ zitiert wird. Als Hauptgrund für die Diskrepanz gibt Malin an: Die Qualifikationen der Arbeitslosen passen häufig nicht zu den Stellengesuchen; der Großteil verfüge über gar keinen berufsqualifizierenden Abschluss. „Gebraucht werden aber Handwerker, Erzieher, Sozialarbeiter etc., also Berufe, für deren Ausübung eine bestimmte Qualifikation erforderlich ist“, so Malin.
Natürlich hat sie damit recht.
Einerseits.
Andererseits können aber auch massenhaft Stellen nicht besetzt werden, die keine besondere Qualifikation fordern. Und das Bürgergeld ist eine Anti-Motivation für seine Empfänger, wenn es darum geht, sich neu zu qualifizieren oder umzuqualifizieren.
„Es gibt in Deutschland derzeit rund 1,57 Millionen offene Stellen zu besetzen, rund 700.000 davon sind bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet“, heißt es in der „Bild“: „Überall in Deutschland hängen Zettel und Plakate mit Stellengesuchen: in Gaststätten, Metzgereien, in Arztpraxen, vor Kitas.“
„Die Motivation fehlt bei vielen, wenn die Steuerlast so hoch ist. Der Unterschied zwischen versteuertem Verdienst und Bürgergeld ist zu klein“, zitiert das Blatt einen Metzger, der händeringend – und vergeblich – nach Mitarbeitern sucht.
„Von rund 700 Stellen in der Alten- und Behindertenpflege sind bei uns 75 nicht besetzt, also mehr als jede zehnte“, klagt Sabine Jung, Theologische Geschäftsführerin der Krankenhausgesellschaft „Diakovere“ in Hannover dem Bericht zufolge: „Wir suchen Krankenpflegepersonal. Hilfskräfte bekommen wir noch, aber wir haben ein großes Problem bei Fachkräften.“
Jung erklärt: „Eine außertarifliche Bezahlung ist leider nicht möglich. Als Anreiz bieten wir aber bei der Dienstplan-Gestaltung bestmögliche Flexibilität.“ Ihr Unternehmen wirbt auf Großplakaten, sogar auf Lastwagen, und in sozialen Netzwerken um Personal.
Dirk Bähr aus Dresden sucht für seinen Cateringservice „Kulinair“ dringend Personal – unter anderem einen Fahrer, eine Küchenhilfe und jemanden, der kalte Speisen zubereitet und ausgibt. Doch niemand will die Jobs haben. Auch Stefan Main, Geschäftsführer der Max Schulz Automobile in Weimar, klagt laut dem Bericht „Ich brauche aktuell acht bis zehn Monteure, doch wir finden fast keine. Früher habe er für eine freie Stelle 30 Bewerber gehabt, heute sei er froh, wenn sich überhaupt jemand bewirbt, so Main.
„Ich suche einen Mitarbeiter für die Küche und einen im Service in Vollzeit“, klagt Frank Markus, Chef des „Dom im Stapelhaus“ in Köln. Sein größtes Problem dem Text zufolge: „Die melden sich an und kommen dann einfach nicht! Diese Unzuverlässigkeit ist das Schlimmste bei der Suche nach Mitarbeitern.“ Zudem hätten viele Bewerber große sprachliche Probleme, ihr Deutsch sei zu schlecht: „Sie können nicht einmal die Speisekarte lesen und auch nicht auf Deutsch schreiben. Mit denen kann ich in der Gastronomie dann nichts anfangen.“
Der Bericht in der „Bild“ ist ein klassisches Beispiel dafür, wie nicht nur die Politik, sondern auch die Medien wegsehen vor Problemen, die als politisch heikel gelten. Hier ist das Thema Bürgergeld tabu. Und generell die Sozialvollkasko in Deutschland.
So sinnvoll es ist, wenn der Staat einspringt, wenn jemand unverschuldet in Not gerät oder seine berufliche Existenzfähigkeit verliert – so fatal ist es, wenn der Staat regelrechte Anreize für Bürgergeld-Karrieren schafft. Und es als absolutes Tabu gilt, wenn im Gegenzug für die Sozialleistungen von gesunden und voll arbeitsfähigen Empfängern derselben Gegenleistungen wie gemeinnützige Arbeiten verlangt werden.
Ein gutes Beispiel für die staatlichen Fehlanreize sind die Flüchtlinge aus der Ukraine, die in Deutschland quasi automatisch Bürgergeld erhalten. Der Anteil derjenigen unter ihnen, die arbeiten, ist um ein Vielfaches niedriger als in anderen europäischen Ländern. Im Schnitt waren 18 Prozent aller erwerbsfähigen ukrainischen Geflüchteten im Frühjahr 2023 in Deutschland erwerbstätig. In Ländern mit weniger sozialer Vollkasko wie Polen liegt dieser Anteil bei 65 Prozent. In Schweden, Litauen, dem Vereinigtes Königreich, Irland, Italien und Schweiz liegen die Beschäftigungsquoten zwischen 40 und 65 Prozent.
Bezeichnend ist auch, dass es zu Migranten etwa aus Syrien oder dem Irak keine entsprechenden Zahlen über die Beschäftigungsquote gibt. Weil diese die Bevölkerung verunsichern könnten?
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