Moskaus Niederlage in Cherson – warum sie für Putin gefährlich ist Analyse und Einordnung

Es sind Szenen in der Stadt Cherson, die bewegen: Menschen, die vor Glück schreien und heulen, die versuchen, die ankommenden ukrainischen Soldaten zu umarmen und ihnen um den Hals zu fallen, oder ihnen wenigstens durchs Fenster ihrer Autos die Hände zu drücken. Lautstarker Jubel, Hupkonzerte, Kuchen, Küsse und Blumen für die Befreier. Es sind Bilder wie diese, die das Narrativ von Putins Propaganda in Ost wie West zerlegen: Ähnliche Szenen aufrichtiger, echter Freude waren aus Ortschaften, die von den russischen Truppen besetzt – und nach Moskauer Lesart „befreit“ wurden, nicht zu sehen. Im Gegenteil: Im gleichen Cherson etwa kam es nach der Besatzung anfangs noch zu Demonstrationen gegen den russischen Einmarsch – die dann aber mit Gewalt und Warnschüssen aufgelöst wurden. Die Kreml-Propaganda versuchte zwar Bilder von angeblicher Freude über den russischen Einmarsch zu inszenieren, aber die wirkten absurd.

„Wir haben so auf Euch gewartet“, sagen hier heulende, gerührte Frauen in einem Vorort den ankommenden ukrainischen Soldaten: „Schütze Euch Gott!“

In einem der Videos ist eine improvisierte Siegesparade zu sehen, bei der ein Lied läuft, dass nur aus zwei Reimen besteht: „Russland ist ein Saustall und Putin ein Schwanz“:

Die Szenen in der ukrainischen Großstadt sind die maximale Demütigung für Putin – dessen Sprecher noch vor wenigen Wochen bei der offiziellen Annexion von Cherson erklärt hatten, es sei eine ur-russische Stadt. In der kurzen Zeit der Besatzung hatte Moskau versucht, die Region zu russifizieren. Wer nicht mitmachte oder gar Widerstand leistete, riskierte sein Leben. Zahlreiche Männer wurden verhaftet und kamen in sogenannte „Filtrationslager“. Viele sind dort verschwunden.

Der erzwungene Rückzug aus Cherson ist für Putin und seine Generäle ein Desaster. Er zeigt erneut, wie desolat die Zustände in der russischen Armee sind. Auf dem Papier war und ist diese zwar stark – doch wegen der massiven Korruption existiert vieles nur auf dem Papier und große Teile der Rüstungs-Milliarden sind auf Konten im Ausland abgeflossen. Gleichzeitig fehlten etwa für viele der mobilisierten jungen Männer einfachste Ausrüstungsgegenstände und moderne Waffen. Die Berichte von Reservisten sind abenteuerlich. Warme Kleidung fehlt ebenso wie Munition und Verpflegung. Bisher gibt die Realität an der Front keinen Anlass, diesen Schilderungen keinen Glauben zu schenken.

Es wird immer deutlicher, dass Putins Truppe gemessen an den eigenen Ansprüchen ein Papiertiger ist – und Putin selbst der Potemkinschen Täuschung der eigenen Generäle erlegen ist und seine eigene Armee maßlos überschätzt hat.

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Aus meinen russischen Quellen habe ich sehr glaubhafte Informationen über eine völlig desolate Moral in der Truppe. Viele glauben nicht an die Kriegsziele, die der Kreml ausgibt; selbst diejenigen, die daran glauben, werden zu einem großen Teil durch die allgegenwärtige Korruption, die desolate Versorgung und die feudalen Befehlsstrukturen demoralisiert – einfache Soldaten werden von ihren Vorgesetzten oft wie Leibeigene behandelt. Die Kommandokette reißt ständig – was auch erklärt, warum die Ukrainer bereits viele Generäle töten konnten: Diese mussten an vorderste Front, um selbst direkt Befehle zu erteilen. Hinter den Frontlinien sind teilweise tschetschenische Einheiten im Einsatz, um Jagd auf Deserteure zu machen bzw. Soldaten vom Desertieren abzuschrecken. Wenn ich Bekannten oder Lesern von den Zuständen innerhalb der russischen Armee berichte, muss ich immer wieder feststellen, dass diese außerhalb des Vorstellungsvermögens von im Westen sozialisierten Menschen liegt.

Bereits während der Besatzung gab es in Cherson und der Umgebung massive Partisanen-Aktivitäten, die den russischen Besatzern und ihren Kollaborateuren schwer zu schaffen machten. Mit ihren neuen Präzisionswaffen konnten die Ukrainer zudem die russischen Nachschubwege entscheidend stören. Laut Insidern war bereits Mitte Oktober klar, dass Moskau Cherson nicht halten kann. Anders als etwa im Gebiet Charkiw erfolgte der Rückzug aber nicht planlos und chaotisch, sondern geordnet. Das russische Militär soll in großem Umfang eigene Soldaten als „Zivilisten“ verkleidet gemeinsam mit Zivilisten über den Dnjepr nach Osten evakuiert und so vor Gefangennahme und Bombardierung beim Abzug geschützt haben.

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Besonders interessant ist das Schicksal der Antoniwkabrücke über den Dnjepr. Die Russen sprengten die bereits durch Beschuss der Ukrainer schwer beschädigte Brücke nach Abzug selbst. Das zeigt, dass sie offenbar nicht planen, in absehbarer Zeit Cherson erneut zu attackieren. Denn zu einer groß angelegten Flussüberquerung ohne Brücken sind sie logistisch kaum in der Lage. Insgesamt soll Moskau bis zu 40.000 Soldaten aus Cherson abgezogen haben.

Die Aufgabe Chersons räumt auch mit zwei Legenden auf: Zum einen der, dass die Ukraine militärisch keine Chance habe gegen Russland, wie sie etwa der Ex-Merkel-Berater und Ex-General Erich Vad vertritt. Die Anhänger dieser These unterschätzen, dass die ukrainische Armee im Gegensatz zur russischen höchst motiviert ist und die Moral in der Truppe gut – was bei Armeen, die ihre Heimat verteidigen, regelmäßig der Fall ist. Zum anderen verfügt die ukrainische Armee über moderne westliche Waffen und westliche Aufklärung.

Die zweite Legende, die Chersons Aufgabe widerlegt, ist die, dass Russland kurz vor dem Einsatz nuklearer Waffen gestanden habe. Wäre der wirklich beabsichtigt und nicht nur eine Drohkulisse, wäre es wahrscheinlich, dass Cherson ein Anlass dafür gewesen wäre. Denn die Aufgabe der Stadt ist aus Sicht des Kremls ein „GAU“, also ein „Größter anzunehmender Unfall“. Die stets so vollmundigen Kreml-Propagandisten stehen jetzt ziemlich kleinlaut da. Sie hatten noch wenige Tage vor dem kampflosen Abzug erklärt, Moskau werde um jeden Zentimeter Boden kämpfen. Und auch die ohnehin miserable Moral in der Truppe ist noch weiter gefallen.

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Die Schmach von Cherson dürfte die ohnehin heftigen Machtkämpfe im Kreml noch einmal verschärfen. Die Hardliner werfen der Armee um Verteidigungsminister Sergej Schojgu und Generalstabschef Gerassimow seit langem vor, nicht hart genug zu sein und zu rücksichtsvoll. Die Generäle wiederum klagen hinter vorgehaltener Hand, Putins Einmischung in den Kriegsverlauf wirke sich sehr negativ aus. Im Gegensatz zu Wolodymyr Selenski, der seinen Generälen freie Hand lässt, erteilt Putin seiner Militärführung immer wieder Anweisungen und setzt sich über deren Anweisungen und Warnungen hinweg.

Der Kreml-Chef ist längst eine Geisel des Krieges geworden. In der „Vertikale der Macht“, die er geschaffen hat, zählen Gesetze und Verfassung nichts. Wie in einem Wolfsrudel ist ein inoffizielles, auf Dominanz gebautes Machtsystem entstanden. Der „Leitwolf“ darf darin nie Schwäche zeigen – aber genau die zeigt Putin nun zunehmend mit den militärischen Niederlagen. Seit er, falsch informiert von den willfährigen eigenen Geheimdiensten, im Glauben an einen leichten, schnellen Sieg den Einmarschbefehl in die Ukraine gab, hat er sein eigenes Schicksal mit dem Schicksal des Krieges verbunden. Alexander Dugin, der lange als Putins Lautsprecher agierte und von manchen auch „Putins Hirn“ genannt wird, machte Aussagen, die viele als Aufruf zum Sturz seines früheren Idols interpretierten. Er kritisierte die Misserfolge in der Ukraine scharf. Später zog er allerdings insofern zurück, dass er sagte, er habe nicht zum Sturz Putins aufgerufen, und es gebe kein Zerwürfnis.

In jedem Fall besteht die große Gefahr, dass der Kreml-Chef mit weiteren Niederlagen, mit dem Rücken zur Wand, noch unberechenbarer werden könnte – im schlimmsten Fall nach dem Motto: Und nach mir die Sinnflut. Leider gibt es diverse Warnsignale in diese Richtung. Aber auch das gegenteilige Szenario ist wenig rosig: Sollte sich das Kriegsgeschick wenden und Putin erfolgreich sein, so zwingt seine gesamte politische Laufbahn ebenso wie eine Analyse des Systems Putin den Schluss geradezu auf, dass er dann in naher Zukunft den nächsten Krieg vom Zaun bricht.

Einziges positives Szenario wäre ein „Deus ex machina“ – in Form eines Machtwechsels oder einer Palastrevolte in Moskau. Das ist zwar nicht auszuschließen – aber alles andere als wahrscheinlich. Und selbst wenn es dazu kommt, kann der Schuss auch nach hinten losgehen. Denn es ist alles andere als ausgemacht, dass dabei die moderaten Kräfte an den Steuerknüppel kommen. Sollten künftig Männer wie Tschetschenen-Oberhaupt Rasan Kadyrow oder der Chef der Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, an die Macht kommen, könnte es sein, dass wir uns noch nach Putin zurücksehnen.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

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Bild: Anatolii Siryk/Imago Images

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