Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung*
Unter der Führung von Angela Merkel hat die Union viel von ihrem politischen Kapital verloren. Auf das konnte sich die Partei in Krisen und hart geführten Wahlkämpfen bisher immer zurückziehen und doch noch irgendwie punkten. Innere Sicherheit, Bundeswehr, transatlantische Partnerschaft mit den USA, Ehe und Familie sowie ein wie auch immer geartetes patriotisches Bekenntnis zu Deutschland. Das waren nicht nur konservative Kronjuwelen, sondern auch Mittel, um den politischen Gegner anzugreifen und dem Wähler klar zu machen, Stabilität gibt es nur mit der Union. Dass sich das im vergangenen Jahrzehnt geändert hat, kann man positiv eine Modernisierung der Partei nennen. Es war allerdings auch ein Raubbau am politischen Instrumentarium und damit am Waffenschrank für Wahlkämpfe.
Bürgerliche Grüne
Es ist also nicht nur der Verlust von Kapital und liebgewonnenen Kronjuwelen, sondern auch ein Verlust von bisher von der Union besetzten Themen. Themen, mit denen sie ihr Profil geschärft und gleichzeitig anderen Akteuren wie den Grünen Ernsthaftigkeit und Tauglichkeit für die große Bundespolitik abgesprochen hat.
Das Wandeln auf diesem Kriegspfad hat die Union spätestens nach der Flüchtlingskrise 2015 endgültig eingestellt. Und eben das hat Bündnis90/Die Grünen aufgewertet. Als staatstragend, kompatibel mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland, der NATO, der inneren Sicherheit usw. Und so ging mit dem – stillen und heimlichen – Schließen des traditionellen Waffenschranks der Union der Aufstieg der Grünen zur bürgerlichen Partei einher. Das war selbstverständlich auch den Wahlerfolgen der Grünen geschuldet, aber eben nicht nur. Inzwischen kann man sich in Deutschland problemlos einen Bundeskanzler Habeck oder eine Bundeskanzlerin Baerbock vorstellen, ohne dass CDU/CSU-Politiker die Grünen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik angreifen würden.
Corona überdeckt das Tief der Union
Neben diesem Verlust an politischem Kapital und wahlkampftauglichen Brot-und-Butter-Themen steckt die Partei noch in einem strategischen Dilemma, das von den sensationell guten Umfragewerten nach dem ersten Lockdown lediglich überdeckt wurde. So stand die Union bei der Sonntagsfrage von Forsa am 6. Juni 2020 bei 40%. Der beste Wert seit drei Jahren. Zuvor hatte sich die Partei allerdings in einem stetigen Sinkflug befunden. 27. Oktober 2018: 26 %. 15. Juni 2019: 24 %. 7. März 2020: 26 %. Dann kam Corona und die Welt der CDU/CSU schien wieder in bester Ordnung. Inzwischen liegt die Partei allerdings wieder bei 33 Prozentpunkten (10. März 2021) und damit ziemlich genau dort, wo sie bei der letzten Bundestagswahl gelandet war (32,9 %). Es war das schlechteste Ergebnis der Union seit 1949, also in fast 70 Jahren.
In einem Dilemma gefesselt
Grund hierfür ist auch, dass sich die Union selbst gefesselt hat, indem sie in den Chor aller anderen einstimmte, die AfD als nicht demokratische Partei aus der parlamentarischen Arbeit auszuschließen. Zum Wohl der Demokratie. Kurzfristig fühlte sich diese moralisch aufgeladene Festlegung verdammt gut an. Man konnte sich als staats- und demokratietragend darstellen und die AfD gleichzeitig giftig angreifen. Mittelfristig sieht die Sache allerdings anders aus. Mit der strikten Festlegung haben sich die Christdemokraten eines Mittels beraubt bzw. berauben lassen, AfD-Wähler zurück zu gewinnen und/oder die AfD zu entzaubern. Nämlich in einer bzw. durch eine Koalition.
Die Option, die der Hamburger CDU-Chef Ole von Beust angesichts der erstarkten Schillpartei 2001 gezogen hatte, fiel damit bundesweit weg. Nicht mal eine Duldung durch die AfD ist denkbar.
Beides setzt vor allem die ostdeutschen Landesverbände machtpolitischen Gefahren aus, denn die AfD zeigte dort, dass sie locker für 25 Prozentpunkte bei einer Landtagswahl gut sein kann. Selbst mit einem schwachen Kandidaten wie Andreas Kalbitz holte sie in Brandenburg am 1. September 2019 23,5 Prozent. Ähnlich war es in Thüringen. Von solchen AfD-Ergebnissen, die zu einem großen Teil auf Kosten der CDU gegangen waren, wurden die Christdemokraten im Osten in immer farbenfrohere Koalitionen gedrückt. Als man schließlich sogar von ihnen erwartete, sie mögen doch bitte alsbald ihre „Äquidistanz“ zur Partei Die Linke aufgeben, hat sich der eine oder andere Ost-CDUler wohl wie in einem Schraubstock gefühlt. Von der einen Seite kamen Björn Höcke und Konsorten, von der anderen Seite lächelte Ministerpräsident Bodo Ramelow. Einladend, unschuldig und von den Medien zum „Bürgerlichen“ hoch geschrieben. Und wenn man mit dem Bodo schon nicht koalieren konnte, dann musste man seine rot-rot-grüne Landesregierung doch wenigstens dulden können. Für die Demokratie und das große Ganze.
Getrieben vom politischen Gegner
Das waren schon nicht mehr nur Fesseln. Das glich schon mehr einer Treibjagd, der sich die CDU-Oberen nur mit lahmen Phrasen erwehren konnten, so als würden sie insgeheim hoffen, dass mal jemand von den Demokraten links der Mitte auf den Tisch haut und die mit sich ringenden Christdemokraten in Schutz nimmt: „Klaus-Dieter, hack’ nicht immer auf Christoph rum, nur weil der nicht mit dem Bodo spielen will!“
Aus dieser Zwickmühle ist die Partei bis heute nicht nur nicht herausgekommen, sie drückt sich auch um die Einsicht herum, dass die Zwickmühle überhaupt existiert, dass sie sich ihres politischen Handlungsspielraums hat berauben lassen. Statt Selbstreflexion und Problemanalyse zu betreiben, verstehen sich die Christdemokraten-West inzwischen als Tugendwächter über die ostdeutschen Landesverbände. Argwöhnisch wachen sie darüber, dass die in ihrem Aktionsradius empfindlich Gehemmten in Halle oder Potsdam mal ja nicht auf blöde Gedanken kommen und sich mit AfD-Abgeordneten zum Broiler treffen. Derartiges, fürchten die Merkelianer-West nicht zu Unrecht, könnte vor allem in den großen Städten und Ballungsräumen zu empfindlichen Verlusten führen.
Die Brandmauer der Merkelianer
Und so sind die Fesseln der Ost-CDU die Brandmauer der West-CDU. Die Gefahr, dass dieser starre Weg in die politische Mitte mittel- und langfristig nicht nur Profil, sondern auch Wählerstimmen kosten könnte, sieht man in der West-CDU offenbar nicht. Hier scheint immer noch zu gelten, dass man eine Wahl dann gewonnen hat, wenn die SPD sie verloren hat. Dass an die Stelle der Sozialdemokraten inzwischen die Grünen getreten sind, scheint man lediglich ahnen zu wollen. Obwohl die Grünen gerade in den letzten Jahren massiv an Wählbarkeit gewonnen haben. Sie stehen für Europa, für die Ehe für alle, für den Klimaschutz, sind gegen Rassismus und die braune Gefahr von rechts. Und all das ist echtes politisches Kapital, denn es ist nicht nur sachlich richtig, sondern auch glaubwürdig und nachvollziehbar für den vor der Wahl unschlüssigen Wähler. Gestützt wird der grüne Höhenflug nicht nur von großen Teilen der Presse, sondern auch von der Union selbst, denn die hat es schon lange eingestellt, die grüne Wählbarkeit zu attackieren oder gar zu bestreiten.
Und so haben sich die Grünen mit der Absolution der CDU zu einem politischen Magnet entwickelt. Nicht nur wählbar, sondern auch noch anziehend. Im Umkehrschluss bedeutet das für die christdemokratischen Wahlkämpfer: sie verlieren im Westen an die Grünen und im Osten an die AfD. Langfristig und strukturell.
Das verstoßene Familienmitglied AfD
Früher konnte die CDU/CSU – überspitzt gesagt – erfolgreich Angst-Wahlkämpfe führen. Das griffigste Beispiel hierfür ist der Slogan „Keine Experimente! Konrad Adenauer“ von 1957. Dieser Trumpf ist nun futsch, auch wenn einige in der Union offenbar meinen, dass ein Wahlkampf für die Demokratie und gegen die Schwefelbuben von der AfD die gleiche Wirkung entfalten würde. Tut er nicht. Kann er gar nicht. Die AfD ist nämlich nicht der originäre politische Gegner von CDU/CSU, sondern strukturell ein verstoßenes Familienmitglied. Verstoßen, weil zu unmodern, zu rechts, zu radikal. Das sollte man im Konrad-Adenauer-Haus langsam mal begriffen haben. Und der verstoßene Rotzlöffel ist gut 25 Prozent-Punkte schwer. Also kein Fliegengewicht. Den und seine Wähler mit dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke in Verbindung zu bringen, macht sich gut in 45 Minuten Anne Will, löst aber nicht das mittel- und langfristige Problem der Union.
Hoffnungsträger Armin Laschet
Um unter diesen Vorzeichen in Armin Laschet die Lösung zu erkennen, bedarf es einiger Phantasie. Der 60-Jährige hat zwar 2017 einen großen Wahlsieg für die CDU in NRW eingefahren und in einer Koalition mit der FDP die zuvor rot-grüne Landesregierung abgelöst, aber wohl eher, weil die Wählerinnen und Wähler Ministerpräsidentin Kraft nach sieben Jahren an der Macht abgewählt haben.
Sie haben Hannelore Kraft das politische Vertrauen mehr entzogen, als es Armin Laschet geschenkt. Die Nagelprobe einer Wiederwahl hat der NRW-Ministerpräsident und CDU-Bundesvorsitzende bisher nicht bestanden. Zum Vergleich: Sowohl Helmut Kohl als auch Gerhard Schröder traten erst als Kanzlerkandidat an, nachdem sie ihre Ämter als Regierungschefs auf Landesebene erfolgreich verteidigt hatten. Kohl 1975, Schröder 1994 und 1998. Und sowohl Kohl als auch Angela Merkel mussten sich vor ihrer Kanzlerwahl auf den harten Bänken der Opposition im Deutschen Bundestag bewähren. Kohl sechs Jahre lang. Angela Merkel drei.
Und auch die inzwischen bereits völlig in Vergessenheit geratene Ex-CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hatte ihre Landesregierung erfolgreich 2017 verteidigt, bevor sie anschließend nach Berlin gegangen ist.
Nun kann es sein, dass Armin Laschet an der Aufgabe, die vor ihm liegt, wächst. Allerdings ist es eine Herkules-Aufgabe, und der Spielraum der Union, sich zu profilieren, wird in einer Koalition mit den von der Presse gemochten Grünen eher kleiner als größer.
Geheimrezept: Wahlen in der Mitte gewinnen
Im Niedergang der ehemals mächtigen Volkspartei bekommt man zunehmend den Eindruck, dass irgendwann irgendwer in der Union die Parole von den Wahlen, die in der Mitte gewonnen werden, sehr wörtlich genommen hat. Gemeint war allerdings wohl eher, dass man große Wahlen nur dann gewinnen kann, wenn man auch die politische Mitte bedient. Dauerhaft nur in der Mitte rumzustehen, ist für eine Volkspartei zu wenig. Man muss vielmehr das eine tun und das andere nicht lassen. Zu glauben, die AfD würde sich in Flügelkämpfen selbst zerlegen, ist eine passive Hoffnung, kein aktives Handeln. Genauso wenig ist es eine Lösung, den Verfassungsschutz auf die ungeliebte Partei rechts von der CDU zu hetzen. Erstens ist der Inlandsnachrichtendienst eigentlich nicht dazu da, politische Parteien beim Ringen um die Wählergunst zu unterstützen. Zweitens verschwindet das Wählerpotential der AfD ja nicht dadurch, dass man der Partei den Stecker zieht. Vor allem nicht im Osten.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
*) Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: photocosmos1/Shutterstock
Text: Gast
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