Manchmal fällt es einem schwer in diesen verrückten Zeiten, sich zu entscheiden, worüber man sich mehr wundert. Über das, was gerade wieder passiert ist, oder über die Naivität so vieler Beobachter und Kollegen. Aber vielleicht ist ja auch alles umgekehrt, und man hört selbst das Gras wachsen. Aber alles der Reihe nach – damit Sie sich selbst ein Bild machen können. Und das bitte mit mir teilen, etwa in den Kommentaren unten, weil ich sehr gespannt bin.
Vorgestern habe ich hier darüber berichtet, dass gegen den CDU-Abgeordneten Axel Fischer ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Fischer gilt als expliziter Kritiker Merkels und des harten Lockdowns. Er stimmte am Donnerstag gegen die Verlängerung der pandemischen Lage. Kaum gab er seine Stimme gegen den Gesetzesentwurf der eigenen Fraktion ab, schon beschloss der Immunitätsausschuss, seine Immunität aufzuheben, und sofort wurden sein Büro, seine Wohnung sowie weitere private Räume durchsucht. Zufall? Mag sein. Mag aber auch nicht sein. Fakt ist: Die Aktion ist ausgesprochen symbolträchtig. Alle, die in der Unionsfraktion gegen Merkel und ihren harten Kurs sind, und das sind nicht wenige, werden sich ihren Teil denken.
Es geht aber noch weiter: Bereits vorige Woche gab es eine Untersuchungsaktion beim CSU-Abgeordneten Georg Nüßlein. Auch Nüßlein, der die Vorwürfe gegen ihn bestreitet, hatte Ende Januar eine „Exitstrategie für ein definitives Ende des Lockdowns Mitte Februar“ gefordert: „Es ist wegen der massiven Auswirkungen nicht verantwortbar, solange einen flächendeckenden Lockdown zu verordnen, bis die Inzidenz-Zahl unter 50 oder unter 35 sinkt“. Ebenso wie im Fall Fischer ermittelt gegen ihn die Staatsanwaltschaft München. Die ist weisungsgebunden. Ihr oberster Dienstherr ist Markus Söder.
Gestern las ich im Internet, unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, dass gegen zwei weitere Abgeordnete der Union Vorwürfe im Zusammenhang mit Masken-Einkäufen laut wurden. Einer der beiden, Hans-Jürgen Irmer, ist mir persönlich bekannt – er ist ebenso wie Fischer ein Kritiker Merkels und stimmte ebenso wie Fischer schon im November gegen das Gesetz über die pandemische Lage – als nur einer von acht Unionsabgeordneten, die sich gegen die Parteilinie stellten. Neben Irmer geriet noch ein weiterer Abgeordneter ins Visier der Medien: Nikolas Löbel. Ich war sofort elektrisiert: Ist er auch ein Kritiker des Lockdowns? Eine kurze Recherche im Internet brachte Aufklärung: Auch Löbel war einer der acht Unions-Abgeordneten, die im November von der Fraktionslinie abwichen. Und auch er kritisierte den Lockdown.
Gegen Lockdown-Kritiker Nüßlein wird ermittelt, gegen Irmer und Löbel ist es aktuell nur die Presse, die ihnen vorwirft, sich mit Masken-Deals bereichert zu haben. Dabei wird so berichtet, dass bei eiligen Lesern – auch bei mir beim ersten Überfliegen – der Eindruck entsteht, auch sie seien im Visier der Staatsanwaltschaft. Das ist aber nicht der Fall. Zumindest nicht offiziell. Ins Rollen gebracht hat die neue Welle der Spiegel. Irmer wehrt sich entschieden und spricht von Irreführung – aber auch dazu später mehr.
Dem Lockdown-Kritiker Fischer wird vorgeworfen, er habe sich von Aserbaidschan bestechen lassen. Ich kann die Stichhaltigkeit der Vorwürfe nicht beurteilen. Aber ich kann meinen Verstand gebrauchen. Ein Kollege, den ich außerordentlich schätze, schrieb mir gestern nach meinem Artikel über die Ermittlungen gegen Fischer: „Lieber Boris, mit Deiner Einschätzung zum Fall Fischer liegst Du falsch. Die Vorgeschichte (Aserbaidschan) reicht bis ins Jahr 2012 zurück – und ausserdem hat das Merkel-Lager ihn politisch längst kaltgestellt, indem er nicht mehr für die nächste Wahl nominiert wurde. Das wurde schon lange vor seiner Lockdown-Kritik angezettelt.“
Dass er schon vorab wegen seiner Merkel-Kritik „politisch kaltgestellt“ wurde, hatte ich auch geschrieben. Vielleicht war ich wirklich zu lange in Russland und betrachte alles durch die russische Brille – wo mit Wladimir Putin jemand regiert, der in einer kommunistischen Kaderorganisation sozialisiert wurde. Aber in Berlin regiert auch jemand, der in einer kommunistischen Kaderorganisation sozialisiert wurde. Und bei allen Unterschieden zwischen Merkel und Putin – hier die Ideologin, dort der ideologiefreie Pragmatiker – erkenne ich doch ständig eine gemeinsame Handschrift in der Taktik (ich muss endlich einmal den schon lange geplanten Artikel darüber machen).
Den Berichten zufolge haben sich „fast zwei Dutzend der Volksvertreter“ für Firmen eingesetzt. Dass ausgerechnet in einer Zeit, in der die Loyalität in der Unionsfraktion zu bröckeln droht, in der immer mehr Menschen Zweifel am Lockdown-Kurs der Kanzlerin haben, von „zwei Dutzend“ genau jene vier Abgeordneten ins Visier der Ermittler bzw. der regierungsnahen Medien geraten, die ihre Zweifel an Merkels Kurs öffentlich äußern, erinnert mich unwillkürlich an Moskau und die Methoden, die ich von dort kenne. Wer sich dort gegen Putin stellt, kann fast sicher damit rechnen, schnell ins Visier von Staatsanwaltschaft und/oder Presse zu geraten – oft genug wegen „Korruption“. Das Motto dort ist: Dreck am Stecken hat jeder, aber tätig werden Staatsanwaltschaft und Medien erst, wenn jemand politisch illoyal wird.
Ich kann Ihnen hier keine Wahrheit anbieten. Ich halte es durchaus für möglich, dass ich überempfindlich geworden bin in meinen 16 Jahren in Moskau und das Gras wachsen höre. Dass es ein reiner Zufall ist, dass ausgerechnet vier Lockdown-Kritiker an den Pranger gestellt und damit in der Öffentlichkeit faktisch politisch hingerichtet werden – und kein einziger Abgeordneter, der brav loyal zu Merkel und ihrem Lockdown steht. Dass dies ausgerechnet vor zwei wichtigen Landtagswahlen geschieht – obwohl es dort der CDU aller Voraussicht nach massiv schaden wird. Und etwa in Baden-Württemberg den Grünen nutzen. So sehr ich einen Irrtum für möglich halte: Ich zweifle, dass dies Zufall ist. Zu sehr steht es für die Polit-Methoden, die ich aus Moskau bestens kenne. Und die hier in Deutschland seit Angela Merkel massiv um sich greifen. Egal, ob ich mich irre oder nicht: Fakt ist, dass nun wohl jeder Lockdown-Kritiker in der Politik es sich zweimal oder noch öfter überlegen wird, ob er seine Kritik öffentlich ausspricht.
Noch dubioser wird das Ganze, wenn man genauer hinsieht. Der Abgeordnete Irmer sagte im Gespräch mit reitschuster.de, er habe sich auf Bitte eines Unternehmers aus seinem Wahlkreis, der Masken geliefert habe, die dann nicht bezahlt wurden, an das Gesundheitsministerium gewandt mit der Bitte, die Rechnung zu begleichen. So ein Einsatz für Unternehmer, Verbände und Einzelpersonen aus dem eigenen Wahlkreis sei die Standardaufgabe von Abgeordneten, sagte Irmer: „Für jeden, der sich an mich wendet, lege ich eine Handakte an, und ich habe 3.000 bis 4.000 solcher Akten; es ist mein Job, den Wählern zu helfen.“ Monate später, so Irmer, sei in der Zeitung, die er seit 1982 herausgebe, eine Anzeige von einer anderen Firma geschaltet worden, die mit dem maskenliefernden Unternehmer verbunden ist. „Meine Zeitung hat im Jahr rund 700 Anzeigen, große und ganz kleine, ich setzte mich nicht wegen einer einzelnen Anzeige in die Nesseln, es geht da um eine Größenordnung von 1000 Euro! Einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Anzeige und meinem Einsatz dafür, dass eine begründete Rechnung für längst gelieferte Masken auch ordnungsgemäß bezahlt wird, ist völlig absurd.“ Leider, so Irmer, würden in vielen Medien diese Details verschwiegen. Ja es werde sogar so berichtet, dass bei eiligen Lesern der Eindruck entstehe, auch gegen ihn würde ermittelt. Das sei falsch und völlig irreführend, so Irmer.
Während es sich im Falle des Unions-Urgesteins aus Wetzlar nach seiner Darstellung um den normalen Einsatz eines Abgeordneten für seine Wähler im Wahlkreis handelt, scheint der Fall Löbel völlig anders gelagert zu sein. Tatsächlich soll er dem Spiegel bestätigt haben, dass er Provisionen in Höhe von 250.000 Euro bei Maskenbestellungen kassiert hat. „Der CDU-Bundestagsabgeordnete hatte eine Beteiligung an den Geschäften bestätigt und Fehler eingeräumt“, meldet der öffentlich-rechtliche Sender SWR: „In einer schriftlichen Stellungnahme äußerte sich Löbel dem SWR gegenüber, er hätte gerade in der besonderen Pandemie-Situation auch in seiner unternehmerischen Tätigkeit sensibler handeln müssen. ‘Diesen Fehler mache ich mir selbst zum Vorwurf.'“
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Bild: mhp/Shutterstock
Text: br