Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
„Was kann schöner sein auf Erden
Als Politiker zu werden?“
So sang Reinhard Mey schon 1974, und er erläuterte seine Auffassung unter anderem mit den Zeilen:
„Etwas Anständiges hab‘ ich Gott sei Dank nicht gelernt.
Hielt mich stets vom rechten Pfad der Tugend entfernt.
Und so steht, wenn ich mir meine Fähigkeiten überleg‘,
Einer Laufbahn als Politiker schon gar nichts mehr im Weg.“
Das ist 50 Jahre her, doch könnte sich der eine oder die andere an Politiker von heute erinnert fühlen, die nicht viel wissen, nicht viel können, aber sich anmaßen, über das Schicksal eines ganzen Landes zu entscheiden.
Zu allem Übel scheint ihr mühsames Geschäft sie auch noch über Gebühr zu beanspruchen und da man selbstverständlich alles Belastende der Öffentlichkeit anvertrauen muss, teilt man uns diese Überforderung in deutlichen Worten mit. „Ich kann mir gerade nicht vorstellen, mit Ende vierzig noch im Bundestag zu sitzen,“ verkündet beispielsweise der achtundzwanzigjährige Bundestagsabgeordnete Bruno Hönel, und da es sich um einen Grünen handelt, will ich ihm sein mangelndes Vorstellungsvermögen nicht vorhalten: Je weniger Grüne im Bundestag, desto besser. Natürlich meint er es anders, er leidet unter dem unmenschlichen Stress, dem er sich für ein lächerliches Monatsgehalt in Höhe von mehr als 11.000 Euro aussetzt. „Wenn man nach einem harten Tag dann in die stille Wohnung kommt,“ so fährt er fort, „kann das schwierig sein. Manchmal fühle ich mich auch einsam.“ Wem kämen hier nicht die Tränen? Es soll aber auch andere Menschen geben, die ihre Zeit nicht damit verbringen, das Land zu ruinieren, sondern ernsthaft arbeiten und dafür deutlich schlechter bezahlt werden – und wenn die dann in ihre „stille Wohnung“ kommen, mögen sie sich auch einsam fühlen, nur eben mit geringerem Gehalt und unter Umständen bei niedrigen Temperaturen, weil ihr Gehalt nicht mehr ausreicht, um die stille Wohnung wenigstens zu einer warmen Wohnung zu machen.
Doch Hönel ist nicht der Einzige. Der SPD-Abgeordnete Robin Mesarosch hat zum Beispiel festgestellt, dass es manchmal schwierig ist, Beruf und Familie zu verbinden. „Faktisch muss man sagen: Mein Sohn und die Politik stehen jetzt in einem zeitlichen Konkurrenzverhältnis.“ Ei der Daus! – möchte man ausrufen, das ist ja bisher in keinem Beruf jemals vorgekommen. Selbstverständlich kann beiden leicht geholfen werden. Niemand hindert sie daran, ihr Mandat niederzulegen und sich mit Arbeit außerhalb der politischen Blase durchzuschlagen, sofern jemand bereit ist, sie einzustellen. Aber ganz so schlimm scheint das Leben eines Abgeordneten dann doch nicht zu sein, noch sind beide im Amt.
Immerhin greift man den beiden überlasteten Ampel-Politikern von Unionsseite ein wenig unter die Arme. In Anbetracht des verheerenden Zustandes der Ampel-Koalition, die ich nur deshalb nicht mit drei verfeindeten Spielkindern im Sandkasten vergleiche, weil ich die Kinder nicht beleidigen will, haben Politiker von CSU und CDU Lösungswege aufgezeigt. Alexander Dobrindt von der CSU vertraute kürzlich der „Bild am Sonntag“ an, die Koalitionspartner hätten geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. „Dazu gehört auch die Bereitschaft, eine gescheiterte Koalition aufzulösen. Wenn die Chaos-Ampel dazu nicht in der Lage ist, sollte der Bundespräsident den drei Ampel-Parteien in einem Gespräch die Möglichkeiten zur Trennung aufzeigen.“ Und der CDU-Politiker Matthias Middelberg forderte: „In dieser Dauerstarre einer Regierung müsste jetzt der Bundespräsident eingreifen, ermahnen und eine klare Frist setzen: Entweder es kommt jetzt das Programm für den Aufschwung oder die Ampel muss den Weg frei machen.“
Ich gebe den Lesern gerne einen kurzen Moment des Innehaltens und der Erholung von dem unvermeidlichen Lachanfall, der von Dobrindts Idee, Politiker könnten ihren Amtseid ernst nehmen, verursacht worden sein dürfte. Aber was besagt dieser geniale Vorschlag der beiden Spezialisten eigentlich? Dobrindt meint, Steinmeier sollte den Koalitionären „die Möglichkeiten zur Trennung aufzeigen“. Aber warum sollte er das? Der Bundespräsident, dessen Verhältnis zu seinem Amtseid noch nicht vollständig geklärt ist und dem leider noch niemand das Prinzip präsidialer Überparteilichkeit erklärt hat, ist nicht im mindesten an einer Auflösung der Koalition interessiert. Es sind seine Gesinnungsgenossen, die sich da durch die Macht dilettieren, und ihm ist ohne Frage an ihrem Wohl gelegen – warum sollte er sie dann zur Trennung bewegen? Und was sollte er da überhaupt tun? Die „Möglichkeiten zur Trennung“ kann den Koalitionären sowohl Hinz als auch Kunz aufzeigen: Sie müssen einfach nur gehen und den Weg für Neuwahlen oder wenigstens eine neue Regierung freimachen; selbst Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wissen, wie das geht, dazu braucht man keinen sozialpädagogisch eingreifenden Bundespräsidenten – wobei ich hier nicht der Frage nachgehen will, wofür man ihn überhaupt braucht.
Aber Middelberg sagt es noch besser. Der Präsident müsse „eingreifen, ermahnen und eine klare Frist setzen,“ und wenn es dann kein Programm für einen Aufschwung gebe, müsse die Ampel den Weg frei machen. Einen Aufschwung kann man sich immer herbeiphantasieren; sollte Steinmeiner da irgendwelche Zweifel haben, genügt ein kurzes Gespräch mit Robert Habeck. Doch selbst, wenn er es wollte: Steinmeier hat als Bundespräsident nicht die geringste Möglichkeit, die Ampel vom Hof zu jagen. Es gibt in Deutschland das sogenannte Grundgesetz, das man in Politikerkreisen immer mehr als Relikt aus alter Zeit zu betrachten pflegt, längst überholt und ersetzt durch eine neue und bessere Moral. Der Jurist Middelberg sollte schon einmal etwas davon gehört haben. Der Präsident kann zwar Minister entlassen, aber nur auf Vorschlag des Bundeskanzlers, das steht in Artikel 64 des Grundgesetzes. Er kann auch den Bundeskanzler entlassen, er muss es sogar, sofern ein konstruktives Misstrauensvotum des Bundestages vorliegt, das findet man in Artikel 67. Und er kann zwar nach Artikel 68 nach einer verlorenen Vertrauensfrage des Kanzlers den Bundestag auflösen, doch nur auf Vorschlag eben dieses Kanzlers, der gerade eine Vertrauensabstimmung verloren hat.
Die Regierung einfach entlassen kann er nicht. Ganz abgesehen davon, dass er das ganz sicher auch nicht will, gibt ihm das Grundgesetz keine entsprechende Befugnis. Zur Zeit der Weimarer Republik war das noch anders. Nach Artikel 53 der Reichsverfassung wurde der Reichskanzler vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen, Paul von Hindenburg machte von dieser Regelung mehr als einmal Gebrauch. Sollte Middelberg etwa Steinmeier mit Hindenburg verwechselt haben und sich in der Weimarer Zeit wähnen? Deutschen Politikern ist alles zuzutrauen.
Wechseln wir den Schauplatz des Grauens und wenden uns einer anderen politischen und intellektuellen Größe zu: Marie-Agnes Strack-Zimmermann, frisch gebackene EU-Abgeordnete und bekannt für ihr freundlich-liebenswertes Wesen und ihre Friedensliebe. Keine Gelegenheit lässt sie aus, um uns an ihren Erkenntnissen teilhaben zu lassen. Auf die Nachricht, dass nordkoreanische Soldaten in stattlicher Zahl die russische Armee verstärken sollen und schon in der Grenzregion Kursk angekommen sind, gab sie zum Besten: „Wir haben es hier mit einer unvorstellbaren Provokation der freien westlichen Welt gegenüber zu tun. Die Achse des Bösen ist aktiv.“
Ja, das Böse ist immer und überall, das wusste schon vor langer Zeit die österreichische Band Erste Allgemeine Verunsicherung. Worin nun allerdings über den Krieg hinaus die weitere „unvorstellbare Provokation“ der westlichen Welt liegen soll, ist nicht unmittelbar einsichtig, aber die wackere Abgeordnete lässt uns nicht lange auf eine Erläuterung warten. „Es ist klar,“ so meint sie, „dass wir so etwas nicht zulassen dürfen. Wer garantiert uns denn, dass nicht in wenigen Jahren nordkoreanische Soldaten im Baltikum eingesetzt werden oder die Chinesen diese einkaufen, um Taiwan anzugreifen?“ Deutschland, die NATO, der freie Westen, den sie gerade beschworen hat, sind allerdings noch immer keine Kriegsparteien, und niemand wird sie fragen, was sie zulassen wollen oder nicht. Und den Menschen im Baltikum oder den Taiwanesen wäre es gegebenenfalls wohl herzlich egal, ob sich an ihren Grenzen nur russische bzw. rotchinesische Truppen versammeln oder noch ein paar Tausend Nordkoreaner dabei sind. Strack-Zimmermanns Frage ist von herzerfrischender Sinnlosigkeit.
Aber noch ist sie nicht am Ende. Denn natürlich muss die westliche Welt auf die neue Situation, die in Wahrheit nicht allzu viel Neues gebracht hat, reagieren. „Und sei’s, dass jedem nordkoreanischen Soldaten in russischer Uniform ein Nato-Soldat in ukrainischer Uniform gegenüber steht.“ Das ist nun wirklich eine neue Entwicklung. Die Nato-Soldaten in ukrainischer Uniform sollen den nordkoreanischen Truppen sicher nicht gegenüber stehen, um ihnen freundlich zuzuwinken, sondern an Kampfhandlungen teilnehmen. Sollten sich also Deutsche unter den Nato-Truppen befinden, treten dann deutsche Soldaten gegen nordkoreanische Truppen an, die in einem von Russland geführten Krieg auf der russischen Seite kämpfen. So etwas nennt man einen Kriegseintritt, Deutschland würde auf diesem Weg schneller Kriegspartei als Strack-Zimmermann ihre Frisur ordnen kann.
Dass sie ukrainische Uniformen tragen sollen, macht es nicht besser. Sie bleiben dennoch deutsche – oder französische oder amerikanische oder sonstige – Soldaten, die im Auftrag ihres Staates kämpfen. Und da sie fremde Uniformen tragen sollen, Uniformen einer Armee, der sie nicht angehören, wäre es möglich, dass sie von der Gegenseite nicht mehr als reguläre Kombattanten anerkannt werden, sondern als irreguläre Kämpfer gelten, mit eher unschönen Folgen für den Fall einer Gefangennahme.
Man könnte entgegnen, dass all diese Argumente auch für die nordkoreanischen Soldaten in russischer Uniform gelten. Das stimmt. Aber ein eventueller Kriegszustand zwischen der Ukraine und Nordkorea hätte wohl keine nennenswerten Konsequenzen; es ist nicht anzunehmen, dass im Gegenzug ukrainische Truppen Nordkorea angreifen. Zudem ist dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un sein Volk ohnehin völlig egal. Ein ebenso eventueller Kriegszustand zwischen Russland und Deutschland dürfte etwas konsequenzenreicher sein und ich werde mich jetzt keinen Spekulationen darüber hingeben, wie interessiert oder desinteressiert Strack-Zimmermann am Leben der Deutschen und der Europäer ist, die sie im Parlament vertreten soll.
Die einen ignorieren fröhlich das Grundgesetz, die anderen plädiert für Aktionen, die man als deutschen Kriegseintritt verstehen kann. Von Friedrich Dürrenmatt stammt der Satz, eine Geschichte sei dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen habe. Würde er heute eine Geschichte über deutsche Politiker schreiben, dann fände er in der traurigen Realität genügend Beispiele, um sie in seinem Sinn zu Ende zu denken.
„Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd“
sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Bei uns ist es wohl eher ein guter Anwalt – und der kostet Geld. Augsburgs CSU-Oberbürgermeisterin Eva Weber hat mich gerade angezeigt, weil ich es gewagt habe, ihre Amtsführung zu kritisieren. Es geht um mehr als nur diesen Fall. Es geht um das Recht, Kritik an den Mächtigen zu üben, ohne kriminalisiert zu werden. Helfen Sie mir, dieses wichtige Recht zu verteidigen! Jeder Beitrag – ob groß oder klein – macht einen Unterschied. Zusammen können wir dafür sorgen, dass unabhängiger Journalismus stark bleibt und nicht verstummt. Unterstützen Sie meine Arbeit:
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
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