Von Christian Euler
Auch hier zunächst ein wichtiger Hinweis. Dieses Thema, das selbsternannte „Faktenchecker“ sicherlich mit Verve ins Visier nehmen und als Paradebeispiel für eine besonders krude Art der Verschwörungstheorie in Verruf bringen möchten, ist Gegenstand in den öffentlich-rechtlichen Medien.
Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden psychisch unter der Coronakrise, viele von ihnen benötigen dringend Hilfe. Laut der im Februar veröffentlichten COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) leidet fast jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten. Die Analyse ist bundesweit die erste und international eine der wenigen Längsschnittstudien ihrer Art.
„Sorgen und Ängste haben noch einmal zugenommen, auch depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden sind verstärkt zu beobachten“, schreiben die Forscher. Betroffen seien vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund.
„Es gibt psychiatrische Erkrankungen in einem Ausmaß, wie wir es noch nie erlebt haben. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind voll, dort findet eine Triage statt“, sagte Jakob Maske, Sprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, gegenüber der Rheinischen Post. „Wer nicht suizidgefährdet ist und ’nur‘ eine Depression hat, wird gar nicht mehr aufgenommen.“
Enormer Anstieg der Patienten macht Auswahl nötig
In der ersten Phase seien die pauschalen Einschränkungen wie Schul- und Kitaschließungen noch nachvollziehbar gewesen. „Aber inzwischen haben wir gelernt, dass Kinder die Infektion deutlich weniger weitertragen und selbst deutlich seltener erkranken als Erwachsene.“
Mittlerweile müsse sehr genau hingeschaut werden, wer wann behandelt werde. Darin sieht Maske eine große Gefahr. Wenn keine zeitnahe Therapie erfolge, könnten sich psychiatrische Symptome zu Krankheiten entwickeln, befürchtet der BVKJ-Sprecher.
Gegenüber dem Südwestrundfunk SWR bestätigt auch Christian Fleischhaker, der kommissarische ärztliche Direktor der Freiburger Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter, einen enormen Anstieg der Patienten, sodass eine „Auswahl“ getroffen werden müsse.
„Die Suizidversuche und die Suizidgedanken nehmen drastisch zu, sodass wir immer schwerere, immer mehr suizidale Patienten hier aufnehmen müssen und da massivst unter Druck kommen. Wenn sie akut suizidal sind, wenn sie ein Problem haben, wo es um Leib und Leben geht, werden sie sofort aufgenommen. Aber alles was dazwischen liegt, da müssen sie halt viel länger warten.“
Für Kinder- und Jugendpsychiater Christian Fleischhaker sind „viele niedergelassene Kollegen so überfüllt, dass sie für die Psychotherapie niemanden mehr auf die Warteliste aufnehmen.“ Er konstatiert massiv steigende Wartezeiten. „Wenn sie zum Beispiel aus einer Angststörung heraus nicht mehr in die Schule gehen können oder den Online-Unterricht nicht schaffen, da müssen sie momentan im Bereich Freiburg/Breisgau rund neun Monate warten, bis sie eine angemessene psychotherapeutische Behandlung bekommen.“
»Normale Reaktionen von Kindern auf unnormale Bedingungen«
Derweil betonen die Kliniken, dass akut gefährdete Kinder nicht weggeschickt werden. „Für ganz Deutschland kann man sagen, dass die notfallmäßig vorgestellten Kinder versorgt werden“, zitiert der SWR Tobias Renner, den Leiter der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie. Damit die Notfallversorgung garantiert bleibe, arbeiteten viele Kliniken aber an und über der Belastungsgrenze. In Tübingen würden derzeit erheblich mehr Patienten versorgt, als die Klinikkapazität vorsehe.
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie DGKJP sah sich gar bemüßigt, eine Presseerklärung herauszugeben, in der sie kurz und knapp befand: „‘Triage‘ findet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht statt!“ Die Behauptungen seien unwahr: „Vielfach haben wir es mit normalen Reaktionen von Kindern auf unnormale Bedingungen zu tun.“
Die Hilferufe von Kinder- Jugendpsychiatern sowie -ärzten auf diese Weise abzubügeln, zeugt von einem offensichtlichen Mangel an Empathie. Manchen Eltern betroffener Kinder dürfte dies wie blanker Zynismus erscheinen. Hält man es hingegen mit einem viel bemühten Sprichwort, offenbart sich angesichts der Presseerklärung der DGKJP der Ernst der Situation: Getroffene Hunde bellen.
Bild: Moshe EINHORN/Shutterstock (Symbolbild)
Text: ce
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