Putins Terror gegen Zivilisten in Grosny INNENANSICHTEN AUS RUSSLAND

So sehr ich Russland und die Menschen dort liebe – in 16 Jahren Moskau habe ich das System Putin in- und auswendig kennengelernt. Selbst Putins aktueller Sprecher ist ein Duzfreund von mir aus besseren Zeiten. In den 22 Jahren, die ich mich mit Putin befasse, wurde mir immer mehr klar, was für eine Gefahr von ihm ausgeht. Ja, die Medien haben uns über Putin in die Irre geführt. Aber nicht durch „Bashing“. Sondern durch Verharmlosung. Immer wieder erlebte ich auf meinen Vorträgen, wenn ich die russische Propaganda im Original vorführte mit deutscher Übersetzung, dass die Menschen danach entsetzt waren und meinten, davon hätten sie aus der deutschen Berichterstattung keinen blassen Schimmer (hier, hier, hier und hier finden Sie solche Videos, die ich bei meinen Vorträgen zeigte). Ja, auch unsere Medien betreiben Propaganda. Ich kritisierte sie dafür ausgiebig. Aber so eine Kriegstreiberei ist mir bei uns noch nie vor die Augen gekommen. Und sie ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber sie ist der Kern des Systems Putin.

Ich bin zutiefst überzeugt: Der Zynismus, die Verlogenheit und die Aggressivität dieses Systems kann man sich, wenn kein Russisch kann, wenn man es nicht aus der Nähe erlebt hat, nur schwer vorstellen. Was jetzt in der Ukraine geschieht, ist nicht neu. Lesen Sie hier meine Reportage aus Grosny von 2001 – die tschetschenische Hauptstadt ließ Putin mit unvorstellbarer Brutalität faktisch dem Erdboden gleich machen. Und danach die Erinnerung tilgen – im Internet findet man heute nur noch wenige Photos der unvorstellbaren Zerstörung. Alles liest sich im Nachhinein wie eine Blaupause für das, was Putin jetzt in der Ukraine macht. Die Welt sah weg, man machte mit Putin 20 Jahre lang weiter Geschäfte – trotz weiterer Überfälle von ihm, auf Georgien und auf die Ukraine 2014.

 Hier mein Bericht aus Grosny von 2001:

Wenn es dunkel wird, geht die Angst um in Grosny. „Jede Nacht hier ist russisches Roulette. Die Militärs beschiessen und bombardieren uns regelmäßig. Sinnlos. Aus Dummheit, aus Bosheit oder im Suff. Wenn ich einschlafe, weiss ich nie, ob ich am Morgen noch einmal aufwachen werde“, klagt die Markthändlerin Asja Guchajewa: „Die wahren Terroristen sind nicht die Tschetschenen, sondern die russischen Militärs! Sie machen uns das Leben zur Hölle.“ 

Grosny 15 Monate nach Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges: Ein Bild des Grauens. Keine Spur von Frieden. Panzerwagen und Soldaten mit Kalaschnikows an allen Ecken und Enden. Immer wieder Schüsse. Nichts als Ruinen, soweit die Augen reichen. Kein einziges Haus weit und breit, das ganz geblieben ist. Grausame Folgen für eine „Anti-Terror-Aktion“ – wie die Russen den Krieg gegen die aufständische Kaukasus-Republik bis heute nennen. „Der Krieg ist vorbei, wir haben es nur noch mit Terrorakten zu tun“, heißt es in Moskau. Die Wirklichkeit: Jeden Tag legen die Rebellen neue Sprengsätze. Jeden Tag neue Schusswechsel, neue Bombardements, neue Opfer.  

Tausende Menschen leben in der unheimlichen Trümmerlandschaft von Grosny – in halbzerstörten Wohnungen. Ohne Fenster. In Kellern. Düsteren, feuchten Verliesen voller Ratten. Kein Strom, keine Heizung, kein Wasser. 

Ein Dutzend Süßigkeiten, ein paar Laib Brot und billige Zigaretten – das ist das ganze Kapital der Markthändlerin Guchajewa. Ihre Wohnung, ihr ganzes Hab und Gut – alles Schutt und Asche. Rund zwei Mark am Tag verdient die gelernte Ingenieurin an ihrem Marktstand: „Das reicht gerade für das Brot. Das Geschäft läuft miserabel. Wir Tschetschenen haben kein Geld – die Russen sind knausrig mit uns.“

Die „Sparsamkeit“ der Militärs hat handfeste Gründe. Wehrpflichtige bekommen oft nur einen Hunger-Sold von acht Mark. Offizieren und Zeitsoldaten gehen bei den Zahlmeistern regelmäßig leer aus. „1000 Dollar Kampfzulage im Monat – damit haben sie uns angeworben. Keine Kopeke davon habe ich gesehen“, klagt Sergei in der russischen Kommandozentrale Chankala bei Grosny. Der „Kontraktnik“, zu deutsch Zeitsoldat, zittert am ganzen Leib. 

Trotz leeren Geldbeutels – Sergej will heute feiern: „Ich habe gerade wieder einen neuen Geburtstag gehabt“. Auf der Rückfahrt aus der Argun-Schlucht, einer Hochburg der Rebellen, ist der Russe eine Stunde zuvor mit seinem Laster auf einen Straßen-Sprengsatz geraten: Drei Reifen hat es zerfetzt. Splitter-Durchschläge und Dellen am ganzen Wagen. „Es ist ein Wunder, dass keiner umkam. Nur mein Beifahrer hat einen Splitter ins Auge bekommen. Wie eine neue Geburt! Beim letzten Sprengsatz hatte es noch zwei zerfetzt.“

Sergejs Kameraden schiessen aus Übermut in die Luft, öffnen eine Flasche Wodka nach der anderen: „Wir leben!“  Zwei Tage zuvor hatten die kleine Einheit weniger Glück. „Oben in der Schlucht hat es wieder einen von uns zerlegt. Der ist beim Pinkeln auf eine Mine getreten.“ Es kommen jedes Mal weniger von uns aus den Bergen zurück als hochfahren, erzählt ein Soldat: „Die offiziellen Gefallenen-Zahlen sind erlogen“. 

Das Elend in Chankala ist nur mit Wodka zu ertragen

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In der Zeltstadt Chankala mit ihren tausenden uniformierten Bewohnern versinkt alles knöcheltief im Schlamm. Schüsse und Artillerie-Donner rauben einem den Schlaf. Aus Versehen werden schon mal die eigenen Kameraden bombardiert. Schlechter als die Moral der Truppe ist nur das Essen: Ein Löffel voll Büchsenfleisch mit Getreidegrütze. Zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend. Tag für Tag. ein Ein Major schiebt angewidert seinen Teller zur Seite: „Ich kann’s nicht mehr runterwürgen.“ 

Aggression überall. Die jüngeren Soldaten werden von den älteren schikaniert und gequält – oft bis aufs Blut. „Erst gestern hat einer zwei Kameraden erschossen – weil er sich im Suff mit ihnen gestritten hat“, berichtet ein junger Soldat.

Außerhalb der Kasernen haben Gräueltaten und Korruption noch ganz andere Ausmaße. Soldaten verkaufen Waffen an den Feind, lassen die Rebellen gegen Bestechungsgeld die Straßensperren und Blockaden passieren, wie hinter vorgehaltener Hand erzählt wird.

Gelder zum Wiederaufbau aus Moskau werden mit makabren Deals in die eigenen Taschen umgeleitet, heißt es: Ein Angriff der Rebellen, gegen Bezahlung – und es läßt sich wunderbar nach Moskau berichten, bei der Attacke sei leider ausgerechnet das Bauwerk zerstört worden, das man zuvor für viel Geld wieder aufgebaut habe. Dabei wird in Wirklichkeit kein einziger Ziegelstein gelegt. Offiziere verscherbeln angeblich auch ganze Lebensmittel-Transporte – und lassen die Laster danach zur Beweis-Vernichtung von den eigenen Leuten in die Luft jagen. 

Die Rebellen wiederum zahlen hohe Belohnungen für jeden toten Russen – je nach Dienstgrad sind 50 bis 100 Hammel auf jeden Offizier ausgesetzt. Bevorzugte Tötungsart: Langsames Quälen und Abschneiden des Kopfes. Geplündert wird an allen Ecken und Enden – von beiden Seiten. 

Die russischen Militärs pressen selbst Berichterstattern Geld ab.

Fünf Mark die Tagesration Grütze, 300 Mark die Fahrt nach Grosny, 2.500 Mark der Hubschrauberflug nach Tschetschenien – „den Landweg empfehlen wir nicht, das ist Selbstmord.“ Die Habgier ist grenzenlos; die Preise für den Hubschrauber steigen schon mal nachträglich: „Wir haben seit heute Nacht neue Preise. Sie müssen jetzt noch 4.000 Mark nachzahlen. Sie haben nicht soviel dabei? Dann bleiben Sie hier in Chankala!“ Krieg als Geschäft. Solange die Waffen nicht schweigen, rollt der Rubel. Frieden wäre wohl schlecht fürs Geschäft. 

Vergangene Woche riss selbst Präsident Wladimir Putin der Geduldsfaden. Moralisch, disziplinarisch und technisch sei die Truppe in vielem untauglich – so das vernichtende Urteil des Kreml-Herrn.

Während die einen Kasse machen, müssen die anderen leiden. „Jeden Tag wird getötet und schikaniert“, klagt Mufti Achmad Schamajew, geistlicher Oberhirte der Tschetschenen: „Mich selbst haben sie verhaftet, ohne Grund, fünf Tag in einem Loch gefangen gehalten und wie einen Hund behandelt. Überall nehmen sie Bestechungsgelder. Das ist ein Kommerz-Krieg!“ 

„Ja, es gibt Säuberungen, und es kommt vor, dass Leute verschwinden“, gesteht selbst Abdula Budajew, Vize-Chef der kremltreuen Übergangs-Verwaltung in Gudermes. Die Rebellen drohen ihm und seinen Kollegen mit dem Tod – weil sie „Marionetten Moskaus“ seien. 

Vor dem Amtszimmer von Vize-Verwaltungschef Budajew wartet Tamara Datschajewa. Ängstlich sieht sich die Chefin der Handelsabteilung um, flüstert: „Hier wird ein ganzes Volk vernichtet! An jeder Ecke werden wir angehalten, kontrolliert, müssen Bestechungsgelder bezahlen, um weiterzukommen. Die Russen kommen im Morgengrauen in die Dörfer, maskiert, plündern alles und nehmen die Männer mit. Viele kommen nie zurück“. 

Zwei Verwandte Datschajewas sind spurlos verschwunden:

„Es gibt 1.000 solcher Fälle. Nein, wir sind nicht auf Seiten der Islamisten; ich selbst wurde von denen gekidnappt und war monatelang in Geiselhaft. Das sind Banditen. Aber ihre Gräueltaten rechtfertigen doch nicht, dass die Russen unser Volk vernichten!“

„Meinen Sohn haben sie an einem Kontrollpunkt so verprügelt, dass er heute Invalide ist. Ohne Grund, einfach so, weil sie Blut sehen wollten“, klagt Sina Ulabajewa. Die 44-Jährige arbeitet in Gudermes als Putzfrau – an drei Arbeitsplätzen gleichzeitig. Nur so kann sie ihre 11-köpfige Familie durchfüttern: „Wir leben seit fünf Jahren ohne Fenster in unserem Haus. Seit die Russen wieder da sind, ist nichts besser geworden. Dafür bringen sie unsere jungen Männer um. Einen Bekannten von mir haben sie lebend begraben.“ 

In Grosny hat eine russische Journalistin die Markthändlerin Guchajewa vor laufender Kamera ins Kreuzverhör genommen. „Geben Sie es zu, auch Ihre Kinder sind Terroristen!“. Guchajewa läuft rot an: „Die meisten Jungen kämpfen doch nur für die Rebellen, weil sie keine Chance haben, ehrlich Geld zu verdienen. Bei uns bekommen viele seit drei Monaten keinen Lohn! Das müsstet Ihr Russen ändern, nur dann könnte es Frieden geben.” Die Journalistin lächelt höhnisch: „Ja und? Was regt ihr Euch auf? Bei uns in Russland bekommen viele jahrelang keinen Lohn!“ Guchajewa schüttelt den Kopf: „Ist das alles, was Ihr Russen uns nach der Eroberung zu bieten habt?“

PS: Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet die Verteidiger von Putin, der in Tschetschenien derart gegen eine aufständische Republik vorging, jetzt der Ukraine vorwerfen, sie sei in Donezk und Luhansk brutal gegen aufständische Teilrepubliken vorgegangen – wobei diese „Aufstände“ von Moskau initiiert waren.

Lesen Sie mehr in meinem Buch „Putins Demokratur – Was sie für den Westen so gefährlich macht.“ Aktualisierte Auflage 2018 (Erstauflage 2006).

 

 

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!
Bild: Screenshot/Youtube
Text: br

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