Realitätsflucht live: Abrechnung bei Grünen-Parteitag geht viral Mathias Ilkas Kritik trifft die einstigen „Alternativen" – Netz feiert ihn als Helden

Es waren unglaubliche Szenen auf dem Grünen-Parteitag – die jetzt, obwohl schon einige Tage vergangen sind, in den sozialen Netzwerken viral gehen. Zu sehen ist Mathias Ilka, der sich für den Parteivorsitz bewarb, wie er in seiner Rede die Führungsriege der Partei heftig kritisierte. Unter anderem warf er ihr vor, sich von der Realität entkoppelt zu haben. Immer wieder ist dabei Kultur-Staatsministerin Claudia Roth zu sehen, der die Gesichtszüge völlig entgleisen – und deren Mimik genau das zu bestätigen scheint, was Grünen-Mitglied Ilka der Parteiführung vorwirft. Auch die anderen Grünen-Oberen sehen einfach weg oder lenken sich ab – so als wollten sie die Vorwürfe belegen. Dass sie das gar nicht mehr merken, spricht in der Tat für eine Entkopplung von der Wirklichkeit.

Als Ilka, ein langjähriges Mitglied der Partei aus Hessen, der sich insbesondere im Bereich Umwelt- und Klimaschutz engagiert, den Chef-Grünen mangelnde Selbstkritikfähigkeit und inhaltliche Beliebigkeit vorwarf, reagierte Ministerin Roth besonders  empört. Die Gesichtsausdrücke in der ersten Reihe sagen in diesen Momenten mehr als viele politische Analysen. Offenbar kommt es an wie eine Gotteslästerung, wenn Ilka Sätze wie diesen sagt: „Es fehlt mir ein bisschen das Selbstkritische, so einfach nur uns zu feiern,  ohne Substanz, ist ein bisschen wenig.“

Oder wenn er ausführt: „Robert – also die Ampel ist gescheitert. Robert stellt sich wieder als Kanzler auf, da frage ich mich, mit was für einem Grund?“  Roth wird dabei so ungehalten, dass sie jeden Anstand fallen lässt – und mit einer Scheibenwischergeste reagiert. Interessant: Wenn das ein Kritiker der Grünen bei einer Rede eines Grünen gemacht hätte – wäre dann mit einer Anzeige und einer Hausdurchsuchung im Morgengrauen zu rechnen gewesen?

Ilka ignorierte die Flegeleien und das demonstrative Nicht-Zuhören in der ersten Reihe und rechnete weiter ab: „Wir waren von 98 bis 2005 in der Bundesregierung. Wir haben es auch zugelassen, dass es zum Beispiel keine Verkehrswende gab, keine Agrarwende, dass die Schulen nicht gut ausgestattet wurden, dass sie regelrecht verfallen sind, dass überall weiter Personal fehlt… Gesundheitswesen, die Renten… wir haben eigentlich nichts gelöst.“

Die Reaktionen in den sozialen Medien waren heftig und teilweise voller Sarkasmus. Ein Nutzer auf X kommentierte: „Man musste ja fast Angst haben, dass der Mann von der Bühne abgeführt wird.“ Eine klare Anspielung auf die Neigung der Grünen, Kritiker juristisch zu verfolgen – ein Seitenhieb, der den Kern der Kritik vieler Nutzer traf. Die Szene mit Claudia Roths Scheibenwischergeste wurde besonders oft geteilt, begleitet von Kommentaren wie: „Wenn Blicke sprechen könnten, hätte man Ilka gleich an Ort und Stelle verhaftet.“

Ein anderer Nutzer auf X spottete: „Ilka hat mehr Substanz in zehn Minuten geliefert als die gesamte Parteiführung in den letzten zehn Jahren – und wird dafür behandelt, als hätte er gerade das Parteilogo geschändet.“ Viele Nutzer fühlten sich durch Ilkas Rede bestätigt in ihrer Ansicht, dass die Grünen nicht kritikfähig seien. Ein weiterer ironischer Kommentar lautete: „Die Grünen fordern doch immer mehr Transparenz – warum also so viel Aufregung, wenn sie mal einen ehrlichen Spiegel vorgehalten bekommen?“

Ebenso bemerkenswert wie die Rede von Ilka ist die Tatsache, wie die Grünen darauf reagierten: Er bekam lediglich eine Handvoll Stimmen bei den Vorstandswahlen – was zeigt, wie sehr sich die einstigen „Alternativen“ zu einer Funktionärspartei alten Typs gewandelt haben, in der Anpassung und Stromlinienförmigkeit ganz oben stehen.

Ich fand die Rede Ilkas so bemerkenswert, dass ich sie hier in Auszügen wiedergeben möchte (ansehen können Sie sie sich hier – mitsamt der Reaktionen der Parteispitze):

„Wir waren von ’98 bis ’25 in der Bundesregierung. Wenn wir jetzt ins Innere mal gehen, wir haben da nicht viel für gemacht. Auch wir haben es zugelassen, zum Beispiel, dass es keine Verkehrswende gab, keine Agrarwende, dass die Schulen nicht gut ausgestattet wurden, dass sie regelrecht verfallen sind, dass überall weiterhin Personal fehlt und, und, und, und, und. Wir haben eigentlich nichts gelöst. Wir haben zum Beispiel mit Schröder zusammen die schlimmsten sozialen Einschnitte und Einschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen. So viel zur sozialen Gerechtkeit. Das hatte seine Auswirkungen. Strukturen, die wir zerschlagen haben. Ich kann ein Beispiel nennen: Bei uns oben in Lindenfels, das ist Kreis Bergstraße, Kurerholungsort, da gab es ein Krankenhaus. Das haben wir mit abgewickelt. Und jetzt wird da oben ein AfD-Kandidat antreten, der früher bei uns Grünen gewesen ist. Es fehlt mir ein bisschen das Selbstkritische. So einfach, uns zu feiern, ohne Substanz, ist ein bisschen wenig. Friedrich Merz, wo einige von uns Grünen schon kokettieren, dass wir mit ihm in einem Boot sitzen werden, ist ein Blackrockianer. Finde ich ganz witzig und das ist genau mein Humor. Wir haben gegen die Bevölkerung LNG-Terminals eingerichtet. Fracking Gas, ja, wir fördern es nicht in Deutschland, aber auch in anderen Ländern ist es eben stark toxisch.

Wir haben eine, meines Erachtens, Realitätsprokrastination. Wir schieben die Realität vor uns her. Dieser Parteitag, was ich bis dato gehört habe, hat einen gewissen Grad an Beliebigkeit. Das hätte doch 2015 sein können, während ich mit Menschen zu tun habe, die ihre Heizung im November noch nicht angemacht haben. Robert, übrigens kenne ich viele Menschen, die können leider dich nicht einladen, weil sie keine Wohnung haben, in der ein Küchentisch stattfindet. Dass wir einfach sagen, Robert, also die Ampel, ist ja gescheitert. Das habe ich auch schon geschrieben, noch bevor sie gescheitert war. Robert stellt sich wieder als Kanzler auf. Ich frage mich: mit was für einem Grund? Nicht immer diese Lippenbekenntnisse: ‚Wir sind für Freiheit, wir sind für Gleichberechtigung, wir stehen für soziale Gerechtigkeiten, alles drum und dran.‘ That’s not true. Denn das, was wir tun, also was wir sagen, was wir tun, das geht Richtung kognitive Dissonanz. Unserer Cum-Ex-Kanzler Scholz, der zum Schluss mal ein bisschen Schwung bekommen hat. Ansonsten hat man gedacht, dass er eventuell unter Narkolepsie leidet. Es gibt eine Studie, die sagt, mittlerweile die 9 –14-Jährigen, 20 Prozent davon, wissen gar nichts vom Klimawandel oder Klimakollaps. Wir haben eine ganze Generation verpasst, in den Schulen darauf vorzubereiten, was jetzt passiert.

Und dementsprechend waren bei der Europawahl die Jungen eher von AfD und anderen Gruppierungen begeistert als von uns. Ich danke für eure Aufmerksamkeit und wünsche ein gutes Wählen.“

„Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd“

sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Bei uns ist es wohl eher ein guter Anwalt – und der kostet Geld. Augsburgs CSU-Oberbürgermeisterin Eva Weber hat mich gerade angezeigt, weil ich es gewagt habe, ihre Amtsführung zu kritisieren. Es geht um mehr als nur diesen Fall. Es geht um das Recht, Kritik an den Mächtigen zu üben, ohne kriminalisiert zu werden. Helfen Sie mir, dieses wichtige Recht zu verteidigen! Jeder Beitrag – ob groß oder klein – macht einen Unterschied. Zusammen können wir dafür sorgen, dass unabhängiger Journalismus stark bleibt und nicht verstummt. Unterstützen Sie meine Arbeit:

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