Steinmeiers Rede: Die normierte Ambivalenz Wie „Wehrhaftigkeit“ den Geist der Demokratie verengt

Ein Gastbeitrag von Bianca Dolores Stein

Frank-Walter Steinmeier hat am 9. November auf Schloss Bellevue eine Rede gehalten – an jenem Datum, das in sich die ganze widersprüchliche Geschichte dieses Landes trägt: Revolution und Reaktion, Befreiung und Pogrom, Mauerfall und Wiedervereinigung. Er nennt ihn „zutiefst ambivalent“, einen Tag, der sich „jeder Vereinfachung widersetzt“. Und doch ist seine Rede das genaue Gegenteil davon: eine Vereinfachung der Ambivalenz, ein moralischer Ordnungsruf im Gewand des Gedenkens.
Der 9. November als „Seismograph“, so Steinmeier, zeige uns, was uns verbindet und was uns auseinandertreibt. Doch er liest diesen Seismographen nicht, er kalibriert ihn. Er legt fest, welche Erschütterung zulässig ist – und welche als Gefahr gilt. Die Komplexität, die er beschwört, wird zur Kulisse einer Eindeutigkeit: Demokratie, so klingt es, müsse heute nicht mehr diskutiert, sondern verteidigt werden. Gegen die Feinde, gegen die Zweifel, gegen das Falsche, gegen die Opposition.

Aber was heißt Verteidigung der Demokratie, wenn sie zur Einhegung des demokratischen Diskurses führt? Was heißt Freiheit, die der Rede, der Meinung, der Grundordnung, wenn sie nur dort gilt, wo sie sich im Einklang mit dem moralischen Konsens einer bestimmten Blase bewegt?

Steinmeier ruft zur Wehrhaftigkeit auf – und verschiebt damit den grundsätzlichen Charakter der Demokratie. Aus dem offenen System des Austauschs wird ein geschlossener Schutzraum. Unsere Demokratie – als könne man in ihrem Besitz sein. Demokratie wird nicht länger verstanden als Prozess der Streitkultur, sondern als Exzess Sicherheitsarchitektur. Die Sprache der Demokratie, einst auf Austausch und Verständigung gerichtet, wird zur Sprache der potenziellen Gefahrenabwehr. Der Gegner ist nicht mehr nur politisch, nein, er ist existenziell.

Man kann das gut meinen, doch dann ist es nicht durchdacht. Und es wird gefährlich. Denn wo der Staat beginnt, sich gegen seine „inneren Feinde“ zu verteidigen, wird die Grenze zwischen Schutz und Kontrolle äußerst schwammig – ein Gedanke, der uns an eine Zeit erinnern könnte, in der die Republik sich selbst als „antifaschistisch“ bezeichnete und doch den eigenen Bürger zum Objekt ständiger Beobachtung machte. „Wer sich gegen den freiheitlichen Kern unserer Verfassung stellt, der kann nicht Richterin, Lehrer oder Soldat sein“, sagt Steinmeier. Formal durchaus korrekt – und doch verräterisch im Ton. Denn dieser Satz trägt das Echo jener Systeme in sich, die einst definierten, wer „würdig“ sei, dem Staat zu dienen. Es sind Systeme, die einen Feind brauchen; und ist man abgekoppelt genug von der Außenwelt, dann findet sich der Feind eben innen.

Die Demokratie, die hier verteidigt werden soll, ist keine offene und freiheitliche, sondern eine kuratierte Demokratie. Sie erlaubt Dissens nur innerhalb eng gesetzter und genehmigter Parameter. Eine Demokratie, die nur kontrollierten Widerspruch zulässt, nähert sich gefährlich jener Haltung, die einst behauptete, es gebe nur eine richtige Meinung – und dass Abweichung ein Zeichen mangelnder Einsicht sei. Opposition – einst das Rückgrat der parlamentarischen Kultur, beizeiten gar außerparlamentarisch zelebriert – wird in dieser Logik zur potenziellen Bedrohung. Wer sich zu weit hinauslehnt, steht unter Generalverdacht. Und so wird aus der Mahnung „Nie wieder!“ langsam ein „So nicht!“.

Steinmeier beschwört die Ambivalenz des geschichtsträchtigen Datums, um sie gleichzeitig zu neutralisieren. Er ruft zur Vielfalt, um sie zu begrenzen. Seine Rede ist ein Musterbeispiel dafür, wie das demokratische Ideal in einen einseitigen moralischen Imperativ verwandelt wird. Wer sich auf den Geist der Demokratie beruft, spricht nicht mehr mit ihr, sondern über sie – als wäre sie ein Schutzgut, das verwaltet, nicht ein Raum, der geteilt werden will.

„Wir wissen doch“, sagt Steinmeier. Ein Satz, der Gewissheit behauptet, wo Demokratie eigentlich Zweifel aushalten müsste. Demokratie war einmal die Kunst, mit Unsicherheit zu leben. Sie war die Abwesenheit aktiver Kontrolle über den Bürger. Passiv wirkten die Gesetze als Regelwerk, doch innerhalb des Rahmens der Straffreiheit durfte jeder nach seinem Gusto agieren. Und das soll sich wohl ändern – man hört es inzwischen ganz offen, mit jener Selbstverständlichkeit, die nur entsteht, wenn man die Kontrolle schon für Fürsorge hält.

Das ist der stille Widerspruch seiner Rede: Sie will den 9. November als Tag der deutschen Identität würdigen – und macht daraus ein Ritual staatlich verordneter Einigkeit. Linientreue. Sie spricht von Licht und Schatten, aber nur, um am Ende das Licht zu definieren. Was bleibt, ist eine Demokratie, die sich selbst zur Norm erklärt – wehrhaft, sicher, fest umrissen. Aber ihrer ursprünglichen Zuschreibungen enthoben ist. Sie ist nicht mehr frei im alten Sinne – sondern wohlmeinend überwacht, wie man einst sagte: zum Schutz des Volkes.

HELFEN SIE MIT –
DAMIT DIESE STIMME HÖRBAR BLEIBT!

Im Dezember 2019 ging meine Seite an den Start. Heute erreicht sie Millionen Leser im Monat – mit Themen, die andere lieber unter den Teppich kehren.

Mein Ziel: 

Sie kritisch durch den Wahnsinn unserer Zeit zu lotsen.
Ideologiefrei, unabhängig, furchtlos.

Ohne Zwangsgebühren, ohne Steuergelder oder Abo‑Zwang. Ohne irgendjemanden zur Kasse zu bitten. Nur mit Herzblut – und mit Ihnen an meiner Seite. Jede Geste, ob groß oder klein, trägt mich weiter. Sie zeigt: Mein Engagement – mit all seinen Risiken und schlaflosen Nächten – ist nicht vergeblich.

Der direkteste Weg (ohne Abzüge) ist die Banküberweisung:
IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71.

Alternativ sind (wieder) Zuwendungen via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – allerdings werden dabei Gebühren fällig. Über diesen Link

Auch PayPal ist wieder möglich.
Nicht direkt – aber über Bande, dank Ko-fi: Über diesen Link

(BITCOIN-Empfängerschlüssel: bc1qmdlseela8w4d7uykg0lsgm3pjpqk78fc4w0vlx)

Wenn Ihr Geld aktuell knapp ist – behalten Sie es bitte. Niemand muss zahlen, um kritisch informiert zu bleiben. Mir ist es wichtig, dass jeder hier mitlesen kann – ohne Ausnahme. Gleichzeitig bin ich umso dankbarer für jede Unterstützung, die keinen Verzicht abverlangt. Jede Geste, ob groß oder klein, ist für mich ein wertvolles Geschenk und trägt mich weiter.

Dafür: Ein großes Dankeschön– von ganzem Herzen!

Meine neuesten Videos und Livestreams

CDU-Außenminister gibt jetzt die Baerbock – Moral-Wahn statt Vernunft, und wir alle zahlen den Preis

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Heute Bolz – morgen Sie? Warum diese Hausdurchsuchung ein gezieltes Warnsignal an uns alle ist

Real-Satire pur: Von der Leyen lobt Freiheit – und vor ihren Augen nimmt Polizei Kritiker fest

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Über Bianca Dolores Stein: Geboren im März des Mondlandungsjahrs, aufgewachsen in der Natur, ausgebildet im Journalismus, in Sprachen und im Ernährungswesen, ungeimpft und bis heute glücklich darüber. Mutter eines erwachsenen Sohnes. Mensch.

Bild: EUS-Nachrichten / Shutterstock.com

Bitte beachten Sie die aktualisierten Kommentar-Regeln – nachzulesen hier. Insbesondere bitte ich darum, sachlich und zum jeweiligen Thema zu schreiben, und die Kommentarfunktion nicht für Pöbeleien gegen die Kommentar-Regeln zu missbrauchen. Solche Kommentare müssen wir leider löschen – um die Kommentarfunktion für die 99,9 Prozent konstruktiven Kommentatoren offen zu halten.

Mehr zum Thema auf reitschuster.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert