Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung*
Am 11. Dezember 2020 schrieb die Süddeutsche: „Anwälte von Trump und seinen Unterstützern haben bereits mehr als 50 Klagen gegen die Wahl verloren.“ Ganz ähnlich las sich das bei Zeitonline zwei Tage später: „Das Trump-Lager hat bislang mehr als 50 juristische Niederlagen kassiert.“ Und die Tagesschau erklärte am 20. Dezember: „Mehr als 50 Klagen des Trump-Lagers wurden bislang abgeschmettert, zwei davon vor dem Supreme Court.“
Das klang eindeutig, denn höher als der US Supreme Court kann man als Kläger in den USA nicht gehen. Darüber hinaus hatte Zeitonline den Leser darüber in Kenntnis gesetzt (13.12.), dass die Klagen „unabhängig davon abgewiesen [wurden], ob [die Richter] von demokratischen oder republikanischen Präsidenten nominiert worden waren.“ Es waren also nicht etwa 50 zufälligerweise demokratisch besetzte Gerichte gewesen, sondern es handelte sich hier um eine parteiübergreifende juristische Meinung.
Trotz dieses eindeutigen Befundes musste man einen Tag später (21.12.) in der Süddeutschen lesen: „Trump weigert sich weiterhin, seine Niederlage anzuerkennen. Der 74-Jährige sieht sich durch Wahlbetrug um seinen Sieg gebracht. Weder Trump noch seine Anwälte haben Beweise dafür vorgelegt. Dutzende Klagen wurden abgeschmettert.“ Bei der Satzkonstruktion musste man davon ausgehen, dass das „Abschmettern“ durch die Gerichte im kausalen Zusammenhang damit stand, dass „weder Trump noch seine Anwälte“ Beweise vorlegen konnten. Nur wer sich an ein Verb aus der Formulierung bei Zeitonline am 13. Dezember erinnern konnte, hätte da noch Zweifel haben können. Denn dort hatte es richtigerweise geheißen, dass die Klagen „abgewiesen“ worden waren. Es war also gar nicht zu einem Gerichtsverfahren mit Beweisen, Zeugenaussagen und der Möglichkeit, weitere vorzuladen und Beweismittel zu sichern, gekommen.
Nun wäre es bei Klagen einer unterlegenen Minderheit bei der Wahl zum Vorsitz eines Kleingärtnervereins wohl durchaus Schnuppe gewesen, ob die Klagen nun mit oder ohne Gerichtsverhandlung abgewiesen worden sind. Aber bei Klagen zu einer US-Präsidentschaftswahl sieht die Sache wohl etwas anders aus. Trotzdem fabrizierten die großen deutschen Medien den Eindruck, dass Donald Trump seine Wahlniederlage nicht eingestehen würde, obwohl seine Klagen den Praxistext vor den Gerichten nicht bestanden hatten.
Dabei scheint den einzelnen Verfassern diese Schieflage durchaus bewusst gewesen zu sein, denn sie mieden die eigentlich simple Satzkonstruktion mit der Konjunktion „obwohl“. Stattdessen reihten sie Hauptsätze aneinander und überließen dem Leser die kausale Verkettung. Und das mit überraschender Präzision. Vergleichen Sie selbst!
Süddeutsche 12.12.2020: „Bislang räumte Trump seine Niederlage bei der Wahl aber nicht ein, sondern behauptet hartnäckig, er sei durch massiven Betrug um den Sieg gebracht worden. Weder Trump noch seine Anwälte oder Unterstützer legten stichhaltige Beweise für diese Behauptungen vor. Mehr als 50 Klagen des Trump-Lagers wurden bislang abgeschmettert, zwei davon vor dem Supreme Court.“
Tagesschau 20.12.2020: „Bislang weigert sich Trump, seine Niederlage bei der Wahl einzugestehen. Er behauptet hartnäckig, er sei durch massiven Betrug um den Sieg gebracht worden. Weder Trump noch seine Anwälte oder Unterstützer haben stichhaltige Beweise für ihre Wahlbetrugsbehauptungen vorgelegt. Mehr als 50 Klagen des Trump-Lagers wurden bislang abgeschmettert, zwei davon vor dem Supreme Court.“
Auf diese Weise wurde unkenntlich gemacht, dass es bei den Klagen der Trump-Anwälte und Organisationen in ihrem Umfeld in den allermeisten Fällen überhaupt nicht zu einem Gerichtsverfahren gekommen war. Die Klagen wurden vielmehr vorher abgewiesen.
Für die Abweisungen gab es insgesamt vier Gründe und nur einer bezieht sich auf die Qualität der in den Klageschriften vorgebrachten Beweise selbst.
Grund Nummer 1 geht darauf zurück, dass es kurz nach der Wahlnacht einen regelrechten Run unter den Trump-Anhängern gegeben hatte, wer als erster den vermeintlichen Wahlbetrug nachweisen könnte. So flossen in einige Klageschriften wie etwa in die der Anwältin Sidney Powell auch eher krude Theorien ein, wie der Betrug orchestriert gewesen sei. Eben diesen Teil der über 50 Klagen wiesen viele Gerichte aus formalen Gründen ab, weil sie die Plausibilität der geschilderten Vorwürfe nicht nachvollziehen konnten.
Grund Nummer 2: Das Standing. Darunter versteht man, ob der Kläger zu seiner Klage berechtigt ist oder nicht. Ein recht anschauliches Beispiel hierfür ist die bekannte Klage des US-Bundesstaates Texas vor dem US Supreme Court gegen die Wahlergebnisse in mehreren Bundesstaaten. Das höchste Gericht hatte diese Klage mit dem Verweis abgewiesen, dass Texas für seine Klage kein „standing“ habe. Vereinfacht gesagt ist Texas nicht berechtigt, einem anderen Bundesstaat in seine Wahlen und deren Durchführung reinzureden. Fertig.
Eine andere Klage hat das Supreme Court indes nicht abwiesen und sie betrifft ebenfalls die US-Präsidentschaftswahl, kam aber in den deutschen Medien so gut wie gar nicht vor.
Es ist eine Klage der Republikanischen Partei des Bundesstaates Pennsylvania gegen die dortige Staatsministerin (Secretary of State) Kathy Boockvar und ihre Handhabung der sogenannten Absentee-Ballots (Abwesenheitsstimmen), eine spezielle Art der Briefwahl. Aber da Pennsylvania nur 20 Wahlmännerstimmen zu vergeben hat, ist eine Supreme-Court-Entscheidung für das Gesamtergebnis der Präsidentschaftswahl nicht entscheidend. Eben das mag ein Grund für die geringe Eile der Verfassungsrichter in diesem Fall sein, denn die Klage ist bereits seit Ende September 2020 anhängig.
Inzwischen hat das Gericht auch eine Meinung zu dem Fall abgegeben, die aufhorchen lässt: „Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Oberste Gerichtshof des Staates [Pennsylvania] mit seiner Entscheidung gegen die Bundesverfassung verstößt.“ Damit hatte das US Supreme Court eine Entscheidung des Obersten Gerichts von Pennsylvania zugunsten von Boockvar mit einem dicken Fragezeichen versehen. Und das könnte man durchaus als Vorentscheidung zugunsten der Republikaner in diesem Fall interpretieren.
Zumal Richter Samuel Alito die Staatsministerin Anfang November 2020 dazu anwies, alle Stimmzettel, die per Post nach 20 Uhr am 3. November eingegangen waren, zu separieren. Wörtlich heißt es: die Stimmzettel sind „in einem sicheren und versiegelten Behälter getrennt von anderen Stimmzetteln“ aufzubewahren.
Auch Grund Nummer 3, an dem die Klagen der Trump-Anwälte bisher gescheitert sind, bezieht sich nicht auf deren Beweise oder Indizien, sondern auf „Laches“. Laches ist eine juristische Doktrin, die aus dem französischen Recht stammt. Vereinfacht gesagt bedeutet sie: der Kläger kommt mit seinem Anliegen zu spät, denn das durch die Klage angegriffene Recht oder Gesetz ist bereits seit längerem in Kraft.
Die Kombination von beiden Abweisungsgründen – „Laches“ und „Standing“ – hatte vor dem Obersten Gericht von Pennsylvania zu einer fast bizarren Situation geführt, die der republikanische Senator Ted Cruz so beschreibt: „Vor der Wahl können wir das [neue] Wahlrecht [in Pennsylvania] nicht anfechten, weil wir kein Standing haben, und nach der Wahl nicht, weil wir dann zu spät gekommen sind. Damit setzt man uns in einen Catch-22.“
Catch-22 ist ein in den USA populäre Ausdruck für ein Dilemma. Er geht auf den gleichnamigen Roman von Joseph Heller aus dem Jahre 1961 zurück. Dort beschreibt Heller die Situation eines Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Der will sich weil geisteskrank vom Kriegsdienst freistellen. Was ihm aber nicht gelingt, denn sein Antrag auf Freistellung von den lebensgefährlichen Einsätzen wird als logisches Zeichen für seine geistigen Gesundheit ausgelegt. Und so bleibt er trotz schriftlicher Möglichkeit, sich freistellen zu lassen, beim Militär und im Krieg.
Grund Nummer 4 sind die „Remedies“, was soviel wie Abhilfe oder Wiedergutmachung bedeutet. Also das, was die Trump-Anwälte von den Gerichten in ihren Klageschriften als Abhilfe für den beklagten Zustand erwarten. Egal, worauf die vielen verschiedenen Klagen im einzelnen abzielten, in den allermeisten Fällen verlangten sie als „Remedy“ das Annullieren von Stimmzetteln. Beispielsweise die, die in einem bestimmten County gezählt worden waren, oder solche, die über eine spezielle Wahlmethode abgegeben wurden.
Im Endeffekt bedeutet das, dass Stimmen von Bürgern, die – davon muss jedes Gericht erstmal ausgehen – in gutem Glauben ihre Stimme abgegeben hatten, wegen Fehlern anderer – zum Beispiel wegen Manipulation oder Betrug – entwertet werden müssen. „Disenfranchise“ sagen die Amerikaner dazu, was eher dem deutschen „Entrechten“ entspricht. Und eben das ist logischerweise nur sehr schwer durchsetzbar, denn welches Gericht möchte schon in einer Demokratie Wählerinnen und Wähler entrechten?
Dagegen zu argumentieren, dass sonst das Votum aller Wähler verfälschen würde, ist zwar richtig. Es ist allerdings eher ein indirektes Entrechten im Sinne eines Verwässerns.
Vereinfacht gesagt, kamen die Trump-Lager bei den Gerichten an und sagten: Hier, ganz viele Indizien, Analysen und Zeugenaussagen, dass es bei der Wahl zu Betrug gekommen ist. Wir müssen das untersuchen und dann die betroffenen Stimmen aus dem Gesamtergebnis rausstreichen! – Und die Richter sagten: Beweisen Sie bitte erstmal, dass der Wahlbetrug so groß gewesen ist, dass er das Gesamtergebnis ändern würde.
In gewisser Hinsicht war das der zweite Catch-22 für die Anwälte der Trump-Seite, denn wie sollten sie den Betrug und seine Größe zweifelsfrei nachweisen, wenn sie gar nicht an die Stimmzettel und die Auszählmaschinen rankamen?!
Aus den vielen Niederlagen vor Gericht zogen die Trumpianer irgendwann den Schluss, sich besser mal an die Parlamente in den umstrittenen Bundesstaaten zu wenden. Aber die hatten sitzungsfreie Zeit und die Gouverneure wollten die Parlamente auch nicht zu einer Sondersitzung einberufen, obwohl die US-Verfassung der Legislative der Bundesstaaten eigentlich die Hoheit über ihre Wahlen zuspricht und nicht der Exekutive, also den Gouverneuren. Ein kritischer Punkt, den Texas in seiner Klage vor dem Supreme Court Mitte Dezember auch als Hebel benutzen wollte – hätten die Texaner Standing gehabt.
In der Zwischenzeit waren bei Vize-Präsident Mike Pence in Washington die von den Exekutiven zertifizierten Umschläge mit den Wahlmännerstimmen der Bundesstaaten eingegangen sowie Umschläge mit dem Votum alternativer Wahlmänner, die die Republikaner in den umstrittenen Staaten aufgestellt hatten.
Insgesamt hatte Pence also Anfang Januar 2021 nicht sieben Umschläge aus den Staaten Arizona, Georgia, Nevada, New Mexiko, Michigan, Pennsylvania und Wisconsin erhalten, sondern vierzehn. Dazu kam noch Post von Parlamentsausschüssen aus mindestens drei Bundesstaaten: Arizona, Georgia und Pennsylvania.
In diesen Briefen legte ein Teil der Abgeordneten dar, dass die durch die Exekutiv erfolgte Zertifizierung nicht rechtmäßig gewesen sei, weil die Parlamente der Bundesstaaten nicht angehört worden waren, obwohl es Unregelmäßigkeiten, Betrugsvorwürfe usw. bezüglich der Wahl gegeben habe, die bislang nicht ausgeräumt worden seien.
Deshalb baten die Parlamentarier Vize Mike Pence, die Wahlmännerstimmen ihrer Staaten am 6. Januar 2021 nicht zu zählen, sondern quasi an die Bundesstaaten zurückzugeben. Damit die dortigen Parlamente fünf Tage später, also ab dem 11. Januar, wenn ihre reguläre Sitzungsperiode begonnen hätte, darüber beraten können.
Eben das hatte auch Donald Trump in seiner viel beachteten Rede vor dem sogenannten „Sturm auf das Kapitol“ gefordert und gesagt: „Alles, was Vize-Präsident Pence tun muss, ist, die Briefe an die Bundesstaaten zurückzuschicken, damit sie dort re-zertifiziert werden können.“ Aber Pence interpretierte seine verfassungsrechtliche Rolle am 6. Januar als Vorsitzender des Kongresses eher formal und passiv wie die eines Zeremonienmeisters.
Andere Verfassungsrechtler maßen Pence beim Öffnen und Zählen der Wahlmännerstimmen dagegen eine aktivere Rolle bei. Beide juristischen Lager beziehen sich bei ihren Interpretationen auf den 12. Zusatzartikel der US-Verfassung und den sogenannten Electoral Count Act von 1887. Zwei Dokumente, die sich teilweise widersprechen und die in der Geschichte der USA bisher nicht so zur Anwendung gekommen sind, so dass man daraus eine eindeutig gültige Praxis ableiten könnte.
Und damit wäre man dann eigentlich wieder am Anfang: bei den Stimmzetteln.
Denn sind die Betrugsvorwürfe unbegründet oder das Betrugsausmaß zu klein, um das Gesamtergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 zu ändern, wird Mike Pence in den Geschichtsbüchern der Zukunft wahrscheinlich genau das Richtig getan haben. Umfassen Betrug, Manipulation und verfassungsrechtliche Bedenken aber eine Größenordnung, die das Gesamtergebnis hätten ändern können, werden zukünftige Historiker die Rolle des US-Vizepräsidenten am 6. Januar 2021 äußerst kritisch kommentieren.
Die hier berichteten Probleme vor den US-Gerichten und den über die Wahl entbrannten Streit sollte man aber nun nicht als ein Zeichen für ein insgesamt politisch marodes Systems werten. Das wäre ein Fehler. Denn der Streit erzählt eben auch von einer lebendigen Gesellschaft mit streitbaren Bürgern, die in der US-Verfassung IHRE Verfassung erkennen. Insofern ist deutsche Besserwisserei – von links wie von rechts – hier fehl am Platz. Sie würde lediglich den typisch deutschen Hang zur Überheblichkeit belegen und das obwohl unser Grundgesetz nicht mal auf ein Drittel der Lebenszeit und Debattenkultur(zeit) der US-Verfassung zurückblicken kann.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
* Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Aaron of L.A. Photography/Shutterstock
Text: Gast
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