Russland und die Ukraine sind Brudervölker. Die meisten Russen und Ukrainer haben Verwandte, Freunde oder sonstige Beziehungen in das Nachbarland. Fast alle Ukrainer verstehen Russisch; sehr viele von ihnen sprechen es sogar als Muttersprache – was in vielen Fällen eine Folge von sprachlichen Zwangsmaßnahmen in der Sowjetunion ist. Westliche Beobachter, die das Land kaum kennen, halten die Russischsprachigkeit von Ukrainern aber regelmäßig irrtümlich für ein Anzeichen dafür, dass diese Ukrainer Russen seien. Gegensätze zwischen dem sehr prowestlich ausgerichteten ukrainischen Westen und dem – auch sprachlich – eher nach Russland orientieren Osten des Landes gab es immer; genauso wie zwischen Bayern und Preußen. Von interessierten Kräften wurde jahrelang versucht, einen Keil zwischen die Regionen zu treiben. Auch die Ukrainer trafen unglückliche Entscheidungen in Sachen Sprachen. Aber die Schwarz-Weiß-Darstellung vom russischen Osten, der weg will von Kiew, ist eine Propaganda-Mär.
Wladimir Putin ist nun aber das gelungen, was bisher Kiew selbst nicht schaffte: Mit seinem Angriff hat er die Ukrainer in Ost und West ganz fest zusammengeschweißt. Das immer eher nach Moskau orientierte Charkiw leistet den Angreifern erbitterten Widerstand. Als russische Truppen jetzt versuchten, an Ukrainer in besetzten Gebieten humanitäre Hilfe zu leisten, weigerten sich diese offenbar. Das ist aktuell zwar noch nicht zu verifizieren – passt jedoch haargenau zu dem, was mir meine vielen ukrainischen Freunde erzählen. Selbst diejenigen von ihnen, die bisher kritisch gegenüber Selenskyj waren, verehren ihn jetzt regelrecht.
Putins Krieg ist deshalb nicht nur für die Ukraine eine Tragödie, sondern auch für Russland. Auf sehr, sehr lange Zeit hat es die Ukraine verloren: Die Herzen und die Seelen der Ukrainer. Selbst wenn es die Menschen dort mit Panzern zur Ruhe zwingt – der Hass auf die Besatzer wird riesig sein. Und es droht ein zweites Afghanistan. Putin hat damit selbst seinen Traum vom großrussischen Reich zerstört.
Putin hat mit seinem Angriffskrieg auch dem eigenen Land massiv geschadet. Warum agiert er so? Weil er so tickt. Statt den Nachbarn dadurch an sich zu binden, dass er ein attraktives Politik- und Gesellschaftsmodell aufgebaut hätte, agiert er mit Panzern – weil er immer noch in den Kategorien des 19. Jahrhundert denkt – mit Landeroberung und Einflusssphären. Kein einziges Nachbarland findet das russische Modell attraktiv. Hier mein Video-Kommentar zu dieser Tragödie.
Bild: Gil Corzo/ShutterstockText: br