Was motiviert Putins Sympathisanten mitzuspielen? Überlegungen zu Kostümfragen der deutschen Putin-Versteher

Ein Gastbeitrag von Arnold Vaatz, Vize-Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

„SPD-Linke fordern Waffenstillstand und Friedensverhandlungen mit Russland“ lautet die Schlagzeile in Deutschland am 26. August 2022. Und sie sind nicht allein. Die Militärs Kujat und Vad, der Ministerpräsident Kretschmer und die AfD – sie alle plädieren seit langem ebenso. Alle diese Leute verbindet eines: Sie wollen, dass Putin

  • die gegenwärtig besetzten Gebiete der Ukraine behalten soll,
  • Gelegenheit erhält, einen (in Russland) glaubhaften Sieg zu verkünden,
  • mit dem Sieg im Rücken die Volkswut auf die Spezialoperationsgegner im eigenen Land weiter anfacht, um diese in die Lager zu schicken oder umbringen zu lassen,
  • eine Atempause erhält, um seine durchlöcherte Armee zu regenerieren und sein Waffenarsenal zu ertüchtigen: für einen Angriff auf Moldawien, Estland, Lettland, Litauen und Finnland – wenigstens,
  • durch seine Sprachrohre Dugin und Medwedjew die Phantasien der russischen Babuschkas von einer Welt von Wladiwostok bis Lissabon unter russischer Knute beflügeln kann.

Habe ich etwas Falsches unterstellt? Dann will ich gern um Entschuldigung bitten! Dann mögen die Friedensbringer bitte erklären, wie genau sie diese Folgen ihrer Vorschläge verhindern wollen. Durch Diplomatie, nicht wahr? Durch die gleiche Diplomatie etwa, die auch den Überfall vom 24. Februar verhindert hat? Und was z. B. heißt „den Konflikt einfrieren“ (Kretschmer). Was liegt in der Gefriertruhe? Ich ahne es: die Krim, der Donbas, Cherson und Enerhodar – konserviert in russischem Eis.

Die Debatte darüber ist müßig. Es geht um Hintergründe und Motive. Putin braucht dringend eine Pause, um sein Ziel, die Wiederherstellung der Sowjetunion, insbesondere die Auslöschung der Ukraine durch Besetzung, Terror und Deportation sowie die Einnahme des Baltikums und Moldawiens langfristig weiter zu verfolgen. Ein Krieg gegen die Nato ist aus seiner Sicht unausweichlich, die russische Bevölkerung wird täglich darauf eingestimmt, aber er ist nur zu gewinnen, wenn man ihm eine Atempause gewährt. Gänzlich ins Wasser fallen seine Pläne, wenn ihm weiterhin jede Woche Munitionsdepots um die Ohren fliegen oder gar eines Tages die Bruchstücke des großen Prestigeobjekts, der neuen Brücke nach Kertsch, durch die sozialen Medien geistern.

Das liegt an den aus seiner Sicht verfluchten Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine, deren Ausbleiben Angela Merkel versprochen hatte und deren Möglichkeit die Dummschwätzer vom GRU im Vorfeld der Spezialoperation so mir nichts dir nichts vom Tisch gewischt haben. Die Waffenlieferungen, ohne die die Ukraine längst überrollt wäre. Deshalb jagt Putin seine Minenhunde und Trolle durch die politische Landschaft in Deutschland und sucht die Bevölkerung weichzuklopfen.

Aufstand gegen Waffenlieferungen

Zunächst war das Ziel: einen Aufstand gegen die Waffenlieferungen zu organisieren. Oder sie wenigstens auf die lange Bank zu schieben (wie in Deutschland gehandhabt) und auf eine zwischenzeitliche Kapitulation der Ukraine zu hoffen. Das scheiterte an der Zähigkeit der ukrainischen Armee. Und die blöden Umfragen im Westen ergaben kein klares Bild des Widerstands gegen die Waffenlieferungen. Tja, das waren noch Zeiten, Wladimir Wladimirowitsch, als die sowjetisch gesteuerte „Friedensbewegung“ im Westen Riesenaufstände gegen die Nachrüstung aufbrachte und zugleich grenzenloses Verständnis für die russische Stationierung von SS20-Atomwaffen auf dem Gebiet der DDR empfand (Wehner damals: „Die sowjetische Rüstung ist defensiv“). Alles Schnee von gestern.

Die sogenannte Friedensbewegung hat zwar gezeigt, dass Deutschland für russische Wühlarbeit empfänglich ist. Aber außenpolitisch ist Deutschland bedeutungslos. Schröder, Merkel, Westerwelle, Steinmeier, Maas und ihre Büchsenspanner haben das in den letzten 25 Jahren geschafft. Zum Glück für die Ukraine. Die Deutschen können fordern, was sie wollen: Wenn sie mit Liebesentzug durch den Stopp von Waffenlieferungen und Aufbauhilfe drohen, ist das zwar bitter, aber für die Ukraine verkraftbar, denn sowohl die Briten als auch die Amerikaner, die Skandinavier und die Osteuropäer pfeifen auf die intellektuellen Ergüsse in deutschen Talkshows. Sie haben begriffen, was die Stunde geschlagen hat.

Ein Fehler der russischen Politik war es, die Schwäche Deutschlands pars pro toto für den Westen insgesamt zu nehmen: die deutschen Meinungsführer, die noch angesichts der Krimannexion Putins dicke Freunde blieben (Schröder), ihm bauchpinselnd zu Füßen saßen (Kaeser, Stoiber, Seehofer, Söder, Kretschmer), ihn in Talkshows wacker verteidigten (Schmidt, Krone-Schmalz, Platzeck, Wagenknecht), die autarken Energieversorgungsquellen Deutschlands zerstörten und der Ukraine Waffenhilfe expressis verbis verweigerten (Merkel), die russischen Großmachambitionen („von Wladiwostok bis Lissabon“) verteidigten (Dehm, Neu) oder gar eine deutsche Staatskanzlei faktisch zu einer Kreml-Filiale umfunktionierten (Sellering, Schwesig). Wenn es heute zuweilen heißt, „der Westen“ sei schuld am Überfall auf die Ukraine, so ist daran insofern ein Stück Wahrheit, als die eben aufgezählten politischen Leuchten in Deutschland ja zum Westen gehören. Sie haben die Selbstüberschätzung des Kremlherrschers durch eindrucksvolle Proben ihrer Dummheit, Arroganz, Eitelkeit, Weltfremdheit, moralischer Beliebigkeit oder schlichter Verliebtheit ins Kapitulieren gedüngt und gemästet.

Was motiviert Putins deutsche Sympathisanten in Politik und Gesellschaft, Putins Spiel mitzuspielen?

Einem Nachbarvolk, das diesen Politikern und Industriellen nie etwas zuleide getan hat, und dem grundlos die eigenen Väter oder Großväter unermessliches Leid angetan haben, wird gegenwärtig Land geraubt und das Existenzrecht bestritten. Ein Staat, der diesem Nachbarvolk einst staatliche Souveränität zusagte, macht dort jetzt Siedlungen dem Erdboden gleich, tötet oder entführt willkürlich Menschen, fängt Kinder und gibt sie zur Adoption frei, foltert und kastriert Kriegsgefangene oder bringt sie um, stiehlt Ernte, Energie und Bodenschätze. Was motiviert die deutschen Friedensbringer, dies alles nonchalant abzutun? Ach so: „Die Ukrainer begehen auch Kriegsverbrechen!“ – schallt es einem gelegentlich entgegen. Ja, bedauerlicherweise. Aber die Ukrainer hätten nicht ein einziges Kriegsverbrechen begangen, wären Putins Leute nicht seit dem Frühjahr 2014 zehntausendfach „in Vorleistung“ gegangen. Dieser Vorwurf an die Ukrainer mag im Einzelfall berechtigt sein – und ist dennoch genauso zynisch, als wollte man den deutschen Einmarsch von 1941 mit den russischen Kriegsverbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung 1945 rechtfertigen. Also: Was motiviert Putins deutsche Sympathisanten in Politik und Gesellschaft, Putins Spiel mitzuspielen?

Das Kontinuum, das Hitler und seine Kinder, die 68er, miteinander und mit den Zöglingen aus der Schule der Thälmannpioniere, der FDJ und SED verbindet, ist der Antiamerikanismus. Der Hass auf die USA, was immer diese tun. Soweit die Deutschen im Westen, nach Hitlers verbrecherischem Krieg in Demokratie, Frieden, Selbstbestimmung und Wohlstand aufwachsen durften, verdanken sie das ausschließlich den USA, die mit einer halben Million Soldaten 45 Jahre die sowjetische Expansion nach Westen verhinderten. Das wollen die Nutznießer dieser Politik nicht hören. Die unter US-amerikanischem Schirm ermöglichte Trias aus Freiheit, Demokratie und Wohlstand machte für die Ostdeutschen die Wiedervereinigung erstrebenswert. Unter russischer Fuchtel in Ost und West hätte es einer solchen nicht bedurft. Dann müssten wir möglicherweise noch heute in ganz Deutschland bei Regenwetter Zinkbadewannen unter die Löcher in unseren Dächern stellen, für den Winter unsere Kohlekarten einlösen, ein komplettes Auto in Ersatzteilform im Keller horten, im Altbau ein Gemeinschaftsklo im Treppenhaus mit zwei anderen Mietparteien teilen und im Parteilehrjahr gegen den Schlaf kämpfen. Im Osten ist das Feindbild USA mit hochaggressiver Propaganda vom Kindergarten an in die Gehirne der Menschen tätowiert worden. Die Intensität dieses Bombardements überforderte bei jedem Kind die Fähigkeit zur Kritik von vornherein. Die Brutalität, mit der jedes alternative Denken schon im Ansatz unterbunden wurde, die absolute Herrschaft über die Begriffe, machte fast alle bis tief in die Kirchen und später die Oppositionsgruppen hinein – ob sie es selbst wahrnahmen oder nicht – der Denke nach zu Marxisten und Sowjetmenschen. Obendrein konnte man beobachten, wie im Westen nahezu die gesamte Generation der Achtundsechziger dem Kommunismus und damit der Sowjetunion in die Arme lief. Das Schizophrene daran (dem Kapitalismus, wünschte man, während man an seiner Brust nuckelte und sich von ihm pampern ließ, zugleich den Tod) nahm man im Osten wahr, im Westen nicht. Ein Ausbruch aus dem sowjetisch geprägten Antiamerikanismus mochte also individuell möglich sein, als politische Massenerkenntnis war er ausgeschlossen.

Diese so entstandene tiefsitzende Affinität zu Russland macht große Teile besonders der Ostdeutschen, die es einerseits und berechtigterweise an Klarheit in der Bewertung des deutschen Faschismus nicht mangeln lassen, zu verlässlichen Komplizen des russischen Faschismus. Dessen Taten interessieren sie nicht. Dass es zwanzig bis dreißig Millionen Menschen waren, die Stalin in Friedenszeiten töten, verhungern oder deportieren ließ, ist ihnen seit Jahrzehnten keiner Beachtung wert. Wenn Putin die demokratisch gewählte Kiewer Regierung als faschistisches Regime bezeichnet, nicken manche eifrig – ohne jeden Beweis zu fordern. Wenn sich aber Dmitri Utkin explizite Nazi-Insignien auf den Hals tätowieren lässt, seine Hitler-Begeisterung durch die Wahl des Namens „Wagner“ (armer Richard Wagner!) als Hitlers Lieblingskomponisten für eine der bestialischsten Mörderbanden unmissverständlich demonstriert und diese Bande in russischen Diensten morden lässt, so hinterlässt dies in den Augen seiner Freunde bei Putin im Westen keinerlei Flecken auf dessen weißer Weste.

Bedrohung der westlichen Zivilisation durch Öko- und die Genderreligion

Die bisher erwähnten Komponenten des Antiamerikanismus sind historisch eher im Abnehmen. Es gibt aber eine weitere, aufstrebende und weit mächtigere Komponente des Antiamerikanismus, die sich im Gegensatz zu den bereits genannten auf eine tatsächliche von den USA ausgehende Gefahr gründet, die Fähigkeit der Demokratie nämlich, sich selbst abzuschaffen. Dieser Teil der Amerikafeindschaft ist provoziert durch selbstzerstörerische Pseudoreligionen, die von dort aus wie eine riesige Flutwelle über die westliche Welt hereinbrechen: Die große Dekonstruktion, welche die westliche Hemisphäre gegenwärtig heimsucht.

Hierzu gehören die Öko- und die Genderreligion. Immer mehr Menschen sehen in ihnen eine finale Bedrohung der westlichen Zivilisation – ihrer Grundlagen, Traditionen und Werte; denn alle diese Religionen münden in einen einzigen Endzustand: den unversöhnlichen Hass der Gesellschaft auf sich selbst. Nicht Lösungen – also Ressourcenschonung, die Aufhebungen von Benachteiligungen von Frauen oder den wenigen Diversen – sind das Ziel. Das Ziel ist der Schuldspruch. Unter dem Schuldspruch gegen sich selbst soll sich die Gesellschaft krümmen. Als Sühne soll sie aufhören, zu wirtschaften, zu essen, zu atmen, sich fortzupflanzen. Propagiert wird Sexualität, nicht aber Zeugung. Propagiert wird die Abtreibung, nicht aber die Geburt. In einem großen Bildersturm werden die Selbstverständlichkeiten früherer Zeiten – die Ehe zwischen Mann und Frau, das generische Maskulinum, unter „kulturelle Aneignung“ firmierende Moden, Filme, Straßennamen, Lehrbücher – demontiert und landen auf dem Abfallhaufen der Geschichte. Neue Kastenstrukturen werden aufgebaut: Die Frau ist besser als der Mann, die farbige Person ist besser als die weiße, der Muslim besser als der Christ. Der Pluralismus in der Gesellschaft ist einer nicht mehr überbrückbaren Konfrontation gewichen, bei der die etablierten, vor jedem Wettbewerb geschützten Staatsmedien stramm auf einer Seite stehen und statt Information nur noch Erziehung und Kulturkampf betreiben. Immer mehr Menschen fühlen sich diesen aus Amerika herüberquellenden Angriffen auf ihre intimsten Lebensentscheidungen hilf- und schutzlos ausgeliefert.

Der Dekonstruktivismus aus Amerika liefert der russischen Faust nun einen neuen Handschuh

Auch ohne diesen neuen Hass auf Amerika, der eine sehr nachvollziehbare Ursache hat, wird die eigentliche Tiefe der Wurzel, welche die Komplizenschaft mit Russland im Wesen mancher Deutscher geschlagen hat, schon durch eine einfache Beobachtung deutlich: Sie hat nämlich einen wichtigen Kostümwechsel überlebt. Der Handschuh, in dem die russische Hand vor dem Oktoberputsch 1917 im Verlauf von fast 500 Jahren nach Westen, nach Süden und in den Kaukasus zugegriffen hatte, trug die Insignien eines feudalen Autokratenstaates, der sich nicht wesentlich von anderen zeitgenössischen Mächten unterschied. Unter Lenin, Stalin und Breshnew trug der Handschuh, in dem die russische Faust steckte, die Insignien des Kommunismus – Hammer und Sichel. So kostümiert wurde sie von zahllosen westlichen Intellektuellen aus sicherer Entfernung als künftiger Befreier der Menschheit gefeiert. Heute hat die russische Faust diesen Handschuh abgelegt und agiert mit der nackten Haut. Und siehe: Die Freundschaft der Kommunisten (Dehm, Wagenknecht, Neu), der alten SED-Kader (Modrow) und der Sozialisten (Schröder) mit Russlands Mächtigen überdauerte den Kostümwechsel. Sie galt gar nicht der Befreiung der Welt durch Sozialismus. Die Freundschaft galt nicht dem Handschuh. Sie galt und gilt der Faust darin. Der Dekonstruktivismus aus Amerika liefert der russischen Faust nun einen neuen Handschuh. Auf ihm steht geschrieben: Ich rette die Welt aus dem Öko- und dem Genderwahn. Die Putin-Sympathisanten unter den deutschen (und europäischen) Rechten haben die russische Faust mit ihm neu kostümiert. Dass viele Menschen sich bei der Abwehr der Missionierung durch Öko- und Genderideologen im Bunde mit einem Massenmörder wähnen, ist eine gefährliche Gedankenlosigkeit, aber auch ein historisches Versagen der deutschen Konservativen, die diesen Pseudoreligionen hätten glaubhaft widersprechen müssen, statt zu ihnen zu konvertieren.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Arnold Vaatz ist ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und war von 2002 bis 2021 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 2021 trat er nicht mehr zur Wiederwahl in den Bundestag ein. Ich lernte ihn kennen als Volontär bei der Augsburger Allgemeinen, als er noch Umweltminister in Sachsen war (an das Treffen kann er sich selbst sicher nicht mehr erinnern). In meiner Tätigkeit als Moskau-Korrespondent des Focus lernte ich Vaatz außerordentlich schätzen. Er hat mir in beeindruckender Weise den Rücken gestärkt, als ich als Journalist unter Druck geraten bin – eine Unterstützung, die ich von vielen Kollegen und anderen Politikern teilweise schmerzhaft vermisste.

Bild: Shutterstok
Text: Gast

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