Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung
Was also ist nach der Analyse des deutsch-amerikanischen „Welt“-Journalisten Hannes Stein der Plan des amtierenden US-Präsidenten? Der Plan, der nicht nur Joe Biden überleben wird, sondern auch die bisherige „amerikanische Demokratie“?
„Um das zu verstehen, müssen wir uns die europäische Geschichte anschauen“, so Stein, denn „die europäischen Faschismen waren allesamt ökonomisch links: Sie schufen Wohlfahrtsstaaten oder bauten diese aus.“ – Da denkt man als deutscher Leser fast automatisch an Otto von Bismarck (1815-1898), der als Reichskanzler den modernen Sozialstaat begründet hat.
Bismarck, Hitler oder doch lieber Mussolini?
Aber da der Monarchist mit den gleichnamigen Heringen und dem billigen Fusel im Supermarktregal nicht so recht ins moderne Psycho(patho)gramm von Donald Trump passen will, wählt Stein einen anderen Vertreter der dunklen Seite: Benito Mussolini. Der Duce war nämlich – anders als sein fast schon keusches deutsch-österreichisches Pendant – genauso Macho wie Trump. Und eben dieser Mussolini schuf, so Stein, „auf Drängen der faschistischen Gewerkschaften die ‚Opera Nazionale Dopolavoro’, die ein Vergnügungsprogramm für die italienischen Arbeiter organisierte — Kino, Urlaub, Sport und Spiel. Von 1931 bis 1939 stellte der faschistische Staat jedes Jahr Sonderzüge bereit, mit denen die Arbeiterfamilien billig ans Meer oder in die Berge fahren konnten. Kein Wunder, dass der Duce beliebt war!
„Der amerikanische Faschismus hat nichts dergleichen zu bieten“, so Stein. „Trumps einziges Angebot ist Hass: Hass auf die Andersgläubigen, Hass auf die Einwanderer, Hass auf die Dunkelhäutigen, wenn sie sich weigern, sich der überkommenen Hierarchie der Rassen zu fügen; Hass auf die Linken, Hass auf die Konservativen, die den Rechtsstaat verteidigen.“ Kurzum: „Hass“ als Parteiprogramm.
Hass als „Parteiprogramm“
Trotzdem fragt man sich nach soviel „Hass“ – in Worten: sieben Mal – schon auch, ob der „Welt“-Autor hier nicht selbst dem Hass anheimgefallen sein könnte? Dem Hass auf den Nationalstaat und seine Rückkehr unter Trump, dem Hass auf Trumps Mauer zu Mexiko, dem Hass auf Trumps Kritik an der Antifa und an BLM, dem Hass auf alte Männer, auf weiße Männer und auf superreiche Männer mit super viel Immobilienbesitz.
„Dieser Hass“ – also der von Trump, nicht der von Stein – „hat große Gewalt“, so Stein weiter. Eine bemerkenswerte Feststellung, denn gemeinhin würde man annehmen, dass das Gefühl „Hass“ Gewalt sähen oder Gewalt-Potential haben kann – nicht aber, dass so ein Gefühl bereits Gewalt selbst haben im Sinne von besitzen kann. Der „Hass“ à la Trump scheint also bereits weiter gediehen zu sein. Er ist also mehr als nur das feindselige Gefühl, denn er besitzt „große Gewalt. Ein Drittel der amerikanischen Gesellschaft“, so Stein weiter, „ist Trump mittlerweile hörig – vor allem Weiße in den ländlichen Gebieten, aber nicht nur sie. Auch Männer hispano-amerikanischer Herkunft ohne höhere Schulbildung sind für diese Botschaft zunehmend empfänglich.“
Nun ja, auch große Teile der LGBT-Community sind dem amerikanischen Duce trotz fehlendem „Vergnügungsprogramm“ inzwischen „hörig“. Hatten 2016 nur etwa 16 Prozent der Lesbian-, Gay-, Bisexual- und Transgender-Menschen für den Vertreter des „amerikanischen Faschismus“ gestimmt, waren es bei der Präsidentschaftswahl 2020 laut PinkNews schon 28 Prozent.
Und auch bei den Frauen (Weiße + 5 %, Schwarze + 5 %, Latinas + 3 %) und bei den „Männern hispano-amerikanischer Herkunft“ (+ 3 %) konnte Trump von 2016 auf 2020 Zugewinne erzielen. Das scheint gemessen an dem von Stein zuvor diagnostizierten „Hass auf die Dunkelhäutigen“ schon erklärungsbedürftig. Genauso wenig korrelieren die Werte in Trumps männlicher, weißer Wählerschaft mit Steins Analyse. In diesem Segment nahm die „Hörigkeit“ des Wahlvolks nämlich von 2016 auf 2020 um 5 Prozent ab – nicht zu.
Polit-historische Geisterfahrt
Über dem profanen Datensalat der Meinungsforschungsinstitute schwebend, analysiert Polit-Brandinspektor Stein allerdings bereits schon weiter und erklärt: „Trumps Hass reicht wahrscheinlich aus, um 2024 gegen den Willen der Mehrheit die Macht zu erobern.“
Dass die „Machteroberung“ – Tusch! – „gegen den Willen der Mehrheit“ – Tusch! – kein böser Trick, sondern Teil der US-Verfassung ist, berichtet Hannes Stein seinen Lesern nicht. So fühlen sich all jene, die es nicht besser wissen, bestätigt im geltenden Psycho(patho)gramm des Machtmenschen Donald Trump. Und jene, die wissen, dass in den USA ein Präsident durchaus mit der Minderheit der Wählerstimmen, aber mit der Mehrheit der Wahlmännerstimmen ins Amt gewählt kann, denken sich, dass das nicht nur kompliziert, sondern auch ungerecht ist. Dabei fällt dann für Steins deutsche Leser das wonnig warme Gefühl ab, es in der Bundesrepublik mit dem Verhältniswahlrecht demokratischer und besser zu haben als in den USA. Allerdings birgt die auf den ersten Blick komplizierte und ungerechte Konstruktion einige Vorteile, denen sich US-Neubürger Stein bei seiner polit-historischen Geisterfahrt offenbar gar nicht bewusst war:
- Das US-Wahlsystem funktioniert seit fast 250 Jahren, was für eine gewisse Stabilität spricht, und die wiederum ist für die Tauglichkeit einer Verfassung eine durchaus wesentliche Größe. Demgegenüber hat das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland gerade mal 71 Jahre auf der Uhr. Nicht mal ein Drittel der US-Leistung. Und auch das politische System unseres direkten Nachbarn Frankreich zeigte sich trotz erfolgreicher Revolution im Jahr 1789 nicht ansatzweise so stabil wie die USA. So kommen die Franzosen in den letzten 232 Jahren auf fünf Republiken, zwei Kaiserreiche und ein Königreich.
- Die oft kritisierte Anzahl der Wahlmännerstimmen, die jeder Bundesstaat an den siegreichen Präsidentschaftskandidaten vergibt, stellt kleinere Bundesstaaten besser als größere, was zu der von Stein monierten Verzerrung „gegen den Willen der Mehrheit“ führt.
So kommen auf eine/n Wahlfrau oder -mann in bevölkerungsreichen Staaten wie Kalifornien oder Texas mehr als 600.000 Einwohner, während es im kleinsten US-Bundesstaat gerade einmal halb so viele sind. Einen ähnlichen Vorteil wird den Kleinen bei der Wahl der Senatoren gewährt. So entsendet jeder Staat unabhängig von seiner Bevölkerung zwei Senatoren in den Kongress. Diese Gewichtung mag auf den ersten Blick unsinnig, ja sogar ungerecht erscheinen, sie gewährleistet aber mittel- und langfristig, dass nicht wenige bevölkerungsreiche Bundesstaaten die Politik in Washington D.C. alleine bestimmen.
- Darüber hinaus zwingt das spezielle Wahlmänner-Verfahren die Präsidentschaftskandidaten dazu, die Fläche des ganzen Landes zu bereisen bzw. politisch zu beackern. Das wäre bei einem Verhältniswahlrecht so nicht der Fall. Hier könnte sich ein Kandidat auf die Bevölkerungshochburgen beispielsweise an den Küsten konzentrieren und gewinnen. Das würde aber mittel- und langfristig die ländlichen Regionen, wo weniger Menschen leben, von der Politik in der US-Hauptstadt abkoppeln.
„The Winner takes it all“
Insofern macht das Wahlsystem in den USA, die ein großes Flächenland mit fünf kontinentalen Zeitzonen sind, durchaus Sinn. Und auch das in den USA weit verbreitete und bei uns teils aus überheblicher Unkenntnis verpönte Mehrheitswahlrecht („The Winner takes it all“) hat einen Sinn, indem es klare Ergebnisse schafft – man könnte fast sagen, sie erzwingt – und eine parteipolitische Zersplitterung in viele kleine Akteure verhindert. Für Letzteres benutzen wir in der Bundesrepublik die 5-Prozent-Hürde.
Sind die klaren Verhältnisse dann hergestellt, ist die komplizierte staatliche Konstruktion der USA darum bemüht, dem Präsidenten in der kurzfristigen Exekutive – also bei einem Notfall oder im Krieg mit dem Ausland – möglichst viel Macht und Spielraum zu gewähren, während man ihm in der mittel- und langfristigen Perspektive mit dem Senat und dem Repräsentantenhaus gleich zwei legislative Kammern gegenübergestellt hat, die seine kurzfristige Machtfülle im Alltagsgeschäft begrenzen und ihn zu Kompromissen zwingen.
Machtloses Muskelpaket
Dass europäische Journalisten diesen Teil meist gar nicht wahrnehmen, liegt auch daran, dass sie die USA vor allem von außerhalb betrachten. Dort ist die Machtfülle eines US-Präsidenten fraglos riesengroß. Hier kann er Flugzeugträger rund um den Erdball schicken, deren Feuerkraft ausreicht, um die Armeen ganzer Länder zu pulverisieren. Aber wendet sich dieses Muskelpaket nach innen, ist es in vielerlei Hinsicht doch nur ein Papiertiger in einem weiten Land, dessen Alltag von den Gouverneuren in den Bundesstaaten bestimmt wird.
Eine parlamentarische Republik so zu konstruieren, kann man als US-Neubürger, wie Hannes Stein einer ist, selbstverständlich schrecklich kompliziert und wahnsinnig veraltet finden, trotzdem könnte man seinen deutschen Leser über die spezielle Mechanik auch in Kenntnis setzen – und zwar bevor man plump-dreist davon schreibt, dass Donald Trump 2024 die Macht „gegen den Willen der Mehrheit“ erobern würde.
Bidens Plan und Vermächtnis
Aber anstatt sich in die Niederungen des US-Wahlsystems herabzubegeben, ist WELT-Korrespondent Stein bereits weitergeeilt, um für seine Leser der Frage nachzugehen, ob denn der ganze „Hass“ ausreichen wird, um Trump nach seiner Machteroberung auch an der „Macht zu halten“?
„Hier“, so Stein, „setzt Joe Bidens Plan an – das Vermächtnis, das ihn überleben wird. Dieses Vermächtnis ist der Infrastrukturplan. Die amerikanische Infrastruktur ist marode; sie instand zu setzen, wird Jahre dauern; der Infrastrukturplan wird also auf Jahre hinaus Arbeitsplätze schaffen. Wenn es auch noch gelingt, Joe Bidens ‚Build Back Better’-Plan zu verwirklichen, der Dinge wie kostenlose Kitas für alle, ein massives Arbeitsbeschaffungsprogramm im Klimaschutz, vielleicht sogar bezahlte Elternzeit beinhaltet, werden die Vereinigten Staaten anfangen, einem modernen europäischen Sozialstaat zu gleichen. Wären die Trumpisten klug“ – was sie selbstverständlich nicht sind. Tusch! – „würden sie Bidens Vermächtnis einfach kooptieren. Sie würden frech“ – Tusch! – „behaupten, das Infrastrukturprogramm sei von Trump erdacht und ins Werk gesetzt worden. Aber das können sie nicht tun. Sie können es nicht, weil Trumps einziger Programmpunkt, wenn er an die Macht zurückgekehrt ist, Rache sein wird“ – also Rache und Hass als Parteiprogramm. Doppel-Tusch! – „und weil die Republikanische Partei jegliches Interesse an Regierungsarbeit verloren hat. Das kommende Trump-Regime wird also alles versuchen, um Bidens Vermächtnis zu zerstören. Und dabei wird [das Regime] eine interessante Entdeckung machen – Bidens Infrastrukturprogramm wird sehr populär sein. Trumps Regime wird einen Widerstand hervorrufen, der viele Bevölkerungsklassen und Ethnien vereint,“ soweit die Prognose von Hannes Stein.
„Is’ mir egal, ob Trump Schwarze mag“
Nicht enthalten in dieser multi-ethnischen und klassenlosen Widerstandsbewegung werden allerdings die Latinos sein, denn viele von ihnen sind gläubige Katholiken. Als solche sehen sie Bidens Familien- und Abtreibungspolitik durchaus kritisch. Auch Teile der schwarzen Community hadern mit dem Thema. Ein Beispiel hierfür ist der Noch-Ehemann von Kim Kardashian, Kanye West. Der erklärte 2020 durchaus emotional: „Ich bin Pro-life, weil ich den Worten der Bibel folge.“ „Tausende schwarze Kinder werden jeden Tag abgetrieben“, so der erfolgreiche Rapper weiter. Ein „Genozid“, gegen den man dringend etwas unternehmen müsse.
Auch Wests Rap-Kollege 50 Cent wird kaum Teil des Widerstands sein, obwohl auch er schwarz ist. Bereits im Präsidentschaftswahlkampf 2020 stand der Rapper hinter Trump, weil ihm die von Joe Biden vorgeschlagene „Reichensteuer“ zu hoch erschien. „Is’ mir egal, ob Trump Schwarze mag. 62 Prozent sind einfach Wahnsinn!“ hatte 50 Cent auf Instagram gepostet.
Ähnlich könnte es auch in der Gemeinde der Exil-Kubaner in Florida ablaufen. Auch sie könnten dem breiten, von Stein prognostizierten Widerstandsbündnis fern bleiben, weil sie in einem starken Staat und dessen Anspruch auf Gestaltung eben genau das wittern, wovor sie, ihre Eltern oder Großeltern geflüchtet sind: Kommunismus und Sozialismus. Als Indizien für einen Drift in eben diese Richtung könnten Exil-Kubaner bereits Dinge wie „kostenlose Kitas“ erkennen. Vor allem dann, wenn die dort angestellten Erzieherinnen Jesus Christus leugnen sollten.
Die „dritte Republik“
In der Summe könnte der „Widerstand… viele[r] „Bevölkerungsklassen und Ethnien“ also deutlich kleiner ausfallen. Weshalb die nach der „Finsternis“ durch den „Widerstand“ geschaffene „multirassische Demokratie“ ebenfalls länger auf sich warten lassen könnte, als es „Welt“-Korrespondent Hannes Stein lieb sein dürfte. Ein „Paradies auf Erden“ wird diese Demokratie allerdings nicht werden, so realistisch ist Stein dann doch. Anschließend läuft er allerdings umso heftiger polit-historisch Amok, indem er weiterschreibt: Es wird „Arme und Reiche geben, Umweltverschmutzung, Konflikte und Kompromisse. Aber in dieser dritten Republik wird der Senat entweder weitgehend entmachtet oder grundlegend neu organisiert sein – durch die Aufteilung der großen Bundesstaaten, die Gründung von Stadtstaaten, die Aufnahme neuer Territorien.“
Hat man nach der Formulierung von der „dritten Republik“ noch den Eindruck, dass der in Salzburg aufgewachsene Stein hier möglicherweise gar nicht die USA, sondern Österreich in ferner Zukunft gemeint haben könnte, muss man nach der von ihm prognostizierten Entmachtung des US-Senats und der Gründung von „Stadt[bundes]staaten“ wohl davon ausgehen, dass es der Journalist doch tatsächlich ernst meint. Denn „bisher“, so Stein, hat es „zwei amerikanische Republiken gegeben. Die erste Republik dauerte von 1789 (dem Jahr, in dem die amerikanische Verfassung in Kraft trat) bis 1861 (dem Jahr, in dem der amerikanische Bürgerkrieg ausbrach).“
Geschichtsbuchhalterische Trickserei
Hier bedient sich Geschichtsbuchhalter Stein einer recht kreativen Buchführung, indem er die Besondertheit benutzt, dass die amerikanische Verfassung aus zwei Verfassungsakten besteht. Der erste Akt ist die US-Verfassung selbst, die „United States Constitution“. Sie wurde am 17. September 1787 verabschiedet und trat mit ihrer Ratifizierung durch South Carolina am 23. Mai 1788 in Kraft. Mit ihr wurde eine föderale Republik in der Form eines Präsidialsystems geschaffen. Ergo wäre das Geburtsjahr von Steins erster amerikanischen Republik nicht das Jahr 1789, sondern das Jahr 1787 oder 1788.
Damit wäre die US-Verfassung allerdings ein bis zwei Jahre jünger als die französische Revolution von 1789 und die Erklärung der Menschenrechte („Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“). Eben das ist für Noch-, Ex- oder Immernoch-Europäer Hannes Stein allerdings offenbar inakzeptabel, so dass er für seine Geschichtsneuschreibung auf den zweiten Akt der US-Verfassung zugreift, auf die sogenannte „Bill of Rights“.
Euro-zentristisches Geschichtsbild
Die „Bill of Rights“ umfasst die zehn Zusatzartikel zur US-Verfassung, u.a. auch das zuvor erwähnte Verbot einer Staatsreligion, und wurde am 25. September 1789 beschlossen. Und deshalb beginnt auch die 1. Stein’sche Republik in diesem Jahr.
Dabei übersieht der offenbar vom europäischen Zentralismus beeinflusste Stein allerdings, dass die Zusatzartikel zur US-Verfassung („Bill of Rights“) nach ihrem Beschluss im US-Kongress noch durch die Bundesstaaten ratifiziert werden mussten, um in Kraft zu treten. Dieser föderale Prozess war allerdings erst Ende 1791 abgeschlossen, weshalb Steins erste amerikanische Republik nach seiner eigenen Definition („Die erste Republik dauerte von 1789 (dem Jahr, in dem die amerikanische Verfassung in Kraft trat)…“ eigentlich erst zwei Jahre später beginnen dürfte.
Da es aber Euro-Historiker Stein vermutlich vor allem darum ging, die Gründung der USA zu einem schnöden Appendix der in Europa bekannten französischen Revolution von 1789 unterzuschreiben, scheint er mit dem Jahr 1789 bereits zufrieden gewesen zu sein. Zumal die „Bill of Rights“ rund einen Monat später als die französisch-europäische Erklärung der Menschenrechte beschlossen worden ist.
Geschichtspolitische Unterschlagung
Auf diese Weise kehrt Stein die tatsächliche Geschichte ins Gegenteil um. Denn die tatsächliche Geburtsurkunde der USA ist deutlich älter als die französische Revolution. Die Unabhängigkeitserklärung („Declaration of Independence“; offiziell: The Unanimous Declaration of The Thirteen United States of America „Die einstimmige Erklärung der dreizehn vereinigten Staaten von Amerika“) stammt vom 4. Juli 1776.
Nicht umsonst ist der 4. Juli, der sogenannte „Independence Day“, bis heute Nationalfeiertag in den USA, was dem seit 2012 in New York lebenden „Welt“-Autor unmöglich entgangen sein kann. Genauso wenig wie die Tatsache, dass die Unabhängigkeitserklärung als eines der wirkmächtigsten Dokumente der demokratischen Staatsphilosophie gilt, denn sie begründet die Loslösung der 13 britischen Kolonien in ihrer Präambel mit dem „unveräußerlichen Recht“ des Menschen auf „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“.
Damit kodifizierten die US-Amerikaner 13 Jahre vor den Europäern die Menschenrechte. – Wer hier nun als treuer „Welt“-Leser pro Stein ins Feld führen möchte, dass die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) kodifizierten Menschenrechte ja nicht für schwarze Sklaven Geltung hatten, dem sei gesagt, dass auch die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ (1789) die Sklaverei in den französischen Überseegebieten nicht abgeschafft hat. Darüber hinaus galten weder die amerikanische noch die französische Menschenrechtserklärung für Frauen (bzw. für Bürgerinnen „citoyenne“).
Neben Steins fast schon monströser Verdrehung von Geschichtsdaten und ihrer Wirkrichtung unterschlägt der ambitionierte Neu-Historiker noch die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten von Amerika vom 19. April 1775 bis zum 3. September 1783 gezwungen waren, ihre Unabhängigkeit und mit ihr ihren neuen Staat gegen die Kolonialmacht Großbritannien zu verteidigen – übrigens auch gegen deutsche Truppen.
„No Taxation without Representation“
So hatte der Landgraf von Hessen-Kassel Friedrich II. (1720-1785) einen sogenannten „Subsidienvertrag“ mit seinem Schwager, dem König von Großbritannien und Irland, abgeschlossen. Anders gesagt: Er hatte seine Soldaten vermietet. Das dadurch eingenommene Geld floss danach in die Staatskasse, wobei die genauso wie der Staat von den in (Kontinental)Europa herrschenden Monarchen anno 1776 als Privatbesitz angesehen wurde. Inklusive der in den Staaten lebenden Bevölkerung, die selbstverständlich nicht das „unveräußerliche Recht“ auf „Freiheit und das Streben nach Glück“ besaß. Schließlich waren es keine Bürger, sondern Untertanen.
Insofern waren die „Besitzer“ der meisten europäischen Staaten auch ziemlich irritiert, als sie drei Jahre zuvor davon gehört hatten, was einige Kolonisten im Dezember 1773 im Hafen von Boston veranstaltet hatten. Unter dem Motto „No Taxation without Representation / Keine Steuern ohne Mitspracherechte!“ hatte der dortige Pöbel britischen Tee, der importiert aus Indien auf zwei Handelsschiffen im Hafen lag, einfach ins Brackwasser geschmissen.
„Der kopflose Reiter“
Während an die vorrevolutionären Anti-Steuer-Proteste heute ein Nachbau des Tee-Transporters »Beaver« im Bostoner Hafen erinnert, sind die sogenannten „Hessians“ zum festen Bestandteil der US-Populärkultur geworden, vor allem zu Halloween. Meist dreht es sich dabei um den „kopflosen Reiter (The headless horseman)“. Ein hessischer Söldner, der nachts über die ehemaligen Schlachtfelder streift, um seinen dort verlorenen Kopf wieder zu finden. Auch in Tim Burtons Film »Sleepy Hollow« von 1999 tritt er in Erscheinung.
Und da neben den „Hessians“ mit oder ohne Kopf auch Miet-Truppen aus Ansbach, Bayreuth, Braunschweig, Hanau, Pyrmont und Waldeck im US-Unabhängigkeitskrieg gekämpft haben, hätte ein solcher historischer Exkurs durchaus Sinn gemacht in einer überregionalen Zeitung wie „Die Welt“. Und auch zum Autoren selbst hätte der Exkurs gepasst.
Hannes Stein schreibt nämlich nicht nur politische Artikel, sondern auch solche fürs Feuilleton und Bücher. Da hätte sich eine historisch-literarische Entdeckungsreise für seine deutschen Leser fast automatisch angeboten. Immerhin gilt Washington Irvings (1783-1859) Gruselmärchen vom „kopflosen Reiter“ als eine der bekanntesten Kurzgeschichten der US-Literatur.
Die „Gulag-ähnlichen Plantagen im Süden“
An derartiger Halloween-Folklore hat USA-Chronist Hannes Stein allerdings kein Interesse – oder er hat keine Zeit, weil es aktuell einfach viel wichtiger ist, den deutschen Leser darüber in Kenntnis zu setzten, wie gefährlich Donald Trump ist und wie dringend die USA einer umfassenden Staatsreform bedürfen, denn:
„Die erste amerikanische Republik war ein merkwürdiger Zwitter: ein Mittelding aus Freiheit und Sklaverei, aus Gulag-ähnlichen Plantagen im Süden und liberaler Bürgergesellschaft im Norden.“
Auf den ersten Blick klingt diese Beschreibung fast schon sachlich harmlos, wäre da nicht der systemfremde Begriff des sowjetischen Straflagersystems Gulag. Impliziert er doch, dass die in den USA praktizierte Sklaverei das systematische physische und/oder psychische Brechen von Menschen bis hin zu ihrer Vernichtung durch den eigenen Tod zum Ziel hatte. So ein System wäre allerdings kaum im Sinne der Baumwoll-, Tabak- oder Zuckerrohrproduktion gewesen.
Pockenschutzimpfung auf der Sklavenplantage
Darüber hinaus gab es auf den amerikanischen Plantagen – jenseits der Barbarei, Menschen wie eine Sache besitzen zu können – eine recht fortgeschrittene Arbeitsorganisation, medizinische Grundversorgung wie etwa Pockenschutzimpfungen und teilweise sogar eine Art Kindergarten für Sklavenkinder. Viele Plantagenbesitzer ließen ihre Sklaven überdies taufen und christlich erziehen. Eine Praxis, die sich auch bei jüdischen Sklavenhaltern in der Karibik wiederfindet.
Genauso wurden Sklaven, die nicht automatisch auf dem Feld landwirtschaftliche Arbeit verrichteten, sondern als sogenannte „Haussklaven“ im Haus oder in der Stadt arbeiteten, im Lesen und Schreiben unterrichtet. Teils geschah das, weil ihre Besitzer sich einen ökonomischen Vorteil von einem „gebildeten“ Sklaven versprachen. Andere lehrten ihre Sklaven, auf dass sie das Wort Gottes lesen und erfahren konnten. Die Bildung von Sklaven war so weit verbreitet, dass einige US-Südstaaten es sogar gesetzlich unter Strafe stellten, Sklaven das Lesen beizubringen.
Schwarze Sklavenhalter
Sowohl die Taufe, mit der die „Ware Mensch“ bereits einen ersten Schritt in Richtung Mitmensch vollzogen hatte, und das Lehren von Lesen und Schreiben werden in den meisten Medienberichten allerdings meist ignoriert. Dabei gibt es bemerkenswerte (Ausnahme-) Beispiele wie den ersten afroamerikanischen Uhrmacher Peter Hill (1767-1820). Hill erlernte als Sklave bei einem Quäker das Uhrmacherhandwerk. Nach seiner Freilassung 1795 betrieb er ein eigenes Uhrmachergeschäft in New Jersey.
Auch der oft religiöse Motor hinter der Ablehnung der Sklaverei passt vielen Links-Intellektuellen nicht ins Konzept. Weshalb Hannes Stein den amerikanischen Norden vermutlich auch mit dem säkularen Adjektiv „liberal“ charakterisiert und seine Gesellschaft eine „Bürgergesellschaft“ nennt. Dass diese Bürger bibelfeste Christen waren und die allermeisten Abolitionisten, die Sklaverei aus ihrem Glauben heraus bekämpften, unterschlägt Stein in seinem Geschichts-Origami. Denn er braucht die Sklaverei als rassistisches Modell, in dem Weiße dunkelhäutige Menschen ganz grundsätzlich unterdrücken, weil sie sie – ebenfalls ganz grundsätzlich – für minderwertig halten.
Wie löchrig das Narrativ vom weißen, Sklaven haltenden Rassisten ist, zeigt sich allerdings bereits an den damaligen Besitzverhältnissen. So gab es in den Südstaaten um 1830 neben über 2 Millionen Sklaven knapp viertausend (3.775) schwarze Sklavenhalter – einschließlich der gemischtrassigen („mixed-race“). Zusammen besaßen sie 12.760 Sklaven. Der früheste urkundlich belegte schwarze Sklavenbesitzer war Anthony Johnson um 1655.
Lesen Sie im 3. Teil mehr über Mister Johnson und den muslimisch-arabischen Anteil an der Sklaverei, der von den großen Medien immer wieder übersehen wird.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: ShutterstockText: Gast
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