Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Die Lösung war so einfach – warum hat man sie nicht gleich gesehen?
Im September 2024 trafen sich Vertreter sogenannter demokratischer Parteien, teilweise den Regierungsfraktionen zugehörig, teilweise der Opposition – oder doch einem Teil der Opposition, denn mit bestimmten Parteien durfte man bei Strafe der ewigen Verdammnis oder doch wenigstens der vollständigen sozialen Ächtung nicht sprechen – zu etwas, was als Migrationsgipfel in die Geschichte eingegangen ist. Nicht etwa, weil dieser „Gipfel“ zu Ergebnissen geführt hätte – weit gefehlt! Die Kontrahenten warfen sich gegenseitig vor, ein abgekartetes Spiel veranstaltet zu haben, und am Ende blieb alles beim Alten.
Dennoch war selbst unter dem Regierungspersonal – oder doch einem Teil des Personals, denn manche Minister waren nicht einmal dann in der Lage, ein Problem zu erkennen, wenn man ein großes Schild mit der Aufschrift „Problem“ daran hängte – die Einsicht aufgekommen, dass man wohl doch etwas tun müsse. Man konnte die ungeregelte und illegale Migration nicht einfach weiter laufen lassen, man konnte die großzügige Alimentierung sogenannter Schützlinge nicht länger rechtfertigen, weil man sonst Gefahr lief, mit dem nassen Handtuch vom Hof gejagt zu werden. Zwar war der Wille der Wähler der Regierung ebenso egal wie der Mehrheit der Opposition, aber die Vorstellung, wegen einer im Grunde so unbedeutenden Angelegenheit wie einer angeblichen Migrationskrise – was war das denn schon im Vergleich zum Kampf gegen die Klimakatastrophe und zu den immerwährenden Anstrengungen gegen „rechts“? – die schönen Ämter, Dienstwagen, Gehälter und Pensionsansprüche zu verlieren, machte den Beteiligten keine rechte Freude.
Leider war das Problem im Grunde unlösbar. Es gab ja nur zwei Möglichkeiten. Entweder musste man die unerwünschten Ankömmlinge sofort und ohne nachzufragen erst gar nicht ins Land lassen, oder man wartete so lange, bis sie das Zauberwort „Asyl“ genuschelt hatten oder doch wenigstens einen asylaffinen Blick aufsetzen konnten, woraufhin sie freundlichst und ohne Zögern in die entsprechenden Einrichtungen zu verbringen waren, selbstredend auf deutschem Boden und auf deutsche Kosten.
Die erste Lösung war undenkbar, aus zwei Gründen. Man setze sich nur einmal gedanklich an die Stelle der armen Geflüchteten, insbesondere der Dreizehn- oder Vierzehnjährigen mit einer Größe von einem Meter neunzig und langem islamkonformem Bart! Nun stelle man sich vor, ein geplagter Mensch dieser Art bemüht sich beispielsweise an der deutsch-österreichischen Grenze um den Übertritt. Wie kann man ihm das verweigern? Soll man ihm ernsthaft zumuten, im Land des Kaiserschmarrn zu bleiben, wo man selbst „Allahu Akbar“ mit einem seltsamen Akzent ausspricht und jeder ständig damit rechnen muss, von jodelnden Trachtenträgern eingeschlossen zu werden? Das würde kein deutsches Gericht zulassen, der Verstoß gegen die Menschenrechte wäre zu deutlich. Oder man verschwende nur einen Gedanken an einen Schutzsuchenden, der aus Frankreich über den Rhein zu uns stoßen will. Man muss es genehmigen, denn sonst würde der arme Mensch zusätzlich zu seinem ohnehin schon schwierig-tragischen Schicksal gezwungen, Froschschenkel und ähnliche Scheußlichkeiten zu sich zu nehmen und sich auch noch mit der seltsamen französischen Sprache zu quälen, wo doch schon das langjährige Ignorieren der deutschen Sprache die ganze Kraft vieler Flüchtlinge fordert. Wie man es auch drehte und wendete: In jedem der an Deutschland angrenzenden Länder gab es hinreichend viele Gründe, die eine Zurückweisung an der Grenze ohne Ärger mit hochrangigen Gerichten unmöglich machten. Und zu allem Übel zeigten die Nachbarstaaten auch wenig Begeisterung für die Idee, niemanden mehr einfach nach Deutschland schicken zu können, obwohl sie sich doch über die daraus resultierende kulturelle Bereicherung hätten freuen sollen. Letzteren Punkt musste man allerdings in langen und beschwerlichen Sitzungen der deutschen Außenministerin erläutern, die der Auffassung war, ihre feministische und wertegeleitete Außenpolitik sei auch für alle anderen Staaten verbindlich.
‚Ich kenne keine Fremden mehr, ich kenne nur noch Deutsche‘
Das Dumme war nur, dass auch der zweite Weg inzwischen versperrt war. Selbst die Deutschen hatten doch wenigstens zum Teil die Brisanz der Situation begriffen – Grüne natürlich nicht, aber daran war man ja gewöhnt – und waren nicht mehr willens, Jahr für Jahr eine Unmenge von Fremden gastfreundlich aufzunehmen, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen und von Zeit zu Zeit neue Nachrichten über Vergewaltigungen und Messermorde zu hören. Wie es schien, war man in einer Sackgasse gelandet. Doch es zeigte sich, dass Friedrich Hölderlin wieder einmal Recht behielt: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch,“ hatte er vor langer Zeit gedichtet, und auch wenn kein Mensch im Bundeskabinett jemals etwas von Hölderlin gehört hatte, wuchs doch das Rettende in Form eines geradezu genialen Vorschlags. Bis heute ist nicht geklärt, wer ihn zum ersten Mal geäußert hat; es kann kein Minister oder gar der Kanzler gewesen sein, denn die sind noch nie auf geniale Vorschläge gekommen. Doch plötzlich raunte man sich auf den Gängen eine weitere Lösungsmöglichkeit zu, einen Weg, an den noch keiner gedacht hatte. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche,“ hatte Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des ersten Weltkrieges verkündet, und das musste man nur ein wenig variieren. Fremde durfte man nicht mehr hereinlassen, ohne die eigenen Pfründe zu verlieren, aber Deutsche über die Grenze winken, das ging immer, schließlich hatte jeder Deutsche das Recht, sein eigenes Land zu betreten. „Ich kenne keine Fremden mehr, ich kenne nur noch Deutsche,“ war somit das Motto des Tages und der Stunde.
Was war mit diesem Rätselwort gemeint? Etwas ausgesprochen Naheliegendes. Schon kurze Zeit vorher hatte man das Staatsbürgerschaftsrecht deutlich vereinfacht, sodass man unter vergleichsweise schwachen Voraussetzungen deutscher Staatsbürger werden und dabei auch seinen alten Pass behalten konnte. Aber selbst das war noch zu kompliziert. Man errichtete daher an den deutschen Grenzen sogenannte Staatsbürgerschafts-Erteilungs-Büros, die in Absprache mit den Nachbarstaaten nicht auf deutschem Boden stehen sollten – man wollte ja keine Fremden mehr ins Land lassen. In diesen Büros konnte dann jeder, der die beiden Worte „Ich Deutsch“ einigermaßen deutlich auszusprechen in der Lage war, ohne bürokratische Verzögerungen einen vorläufigen deutschen Pass erlangen, der aber nur insofern vorläufig war, als die üblichen deutschen Pässe von der Bundesdruckerei ausgestellt wurden, diese Bundesdruckerei in Berlin beheimatet war und in Berlin schon lange nichts mehr funktionierte. Es konnte also schon das eine oder andere Jährchen ins Land ziehen, ehe ein Neudeutscher seinen endgültigen Pass in Empfang nehmen durfte, aber das machte nichts, die vorläufigen galten ohne jede Befristung.
Das System stieß schnell auf die eine oder andere Schwierigkeit. Zwar sprach sich die neue Möglichkeit in den üblichen Ländern schnell herum, aber viele Ankömmlinge waren nur schwer in der Lage, sich die beiden eigenartigen Worte „Ich Deutsch“ zu merken, und sie ihnen aufzuschreiben brachte mangels Lesefähigkeit eher wenig. So etwas konnte man leicht lösen. In den Staatsbürgerschafts-Erteilungs-Büros wurden Plakate aufgehängt, auf denen die Zauberworte „Ich Deutsch“ abgedruckt waren, versehen mit einem großen darauf deutenden Pfeil, sodass man nur noch dorthin deuten musste, um zu seinem rechtmäßigen Pass zu gelangen. Gerechter ging es nicht.
Selbstverständlich tat die Regierung alles, um ihr neues Verfahren im Ausland publik zu machen, in den relevanten Ländern wurden Flugblätter in stattlicher Zahl – selbstverständlich in der jeweiligen Landessprache – bereitgestellt, und die Verbreitung per Internet blieb nicht aus. Sicherheitshalber ließ man auch Lautsprecherwagen durch die Lande fahren. Der Erfolg sprach für sich. Kaum hatte sich diese revolutionäre Möglichkeit herumgesprochen, sahen sich die Büros einer Unmenge von Menschen gegenüber, die schon ihr ganzes Leben lang davon geträumt hatten, einmal deutscher Staatsbürger zu werden. Abgewiesen wurde keiner, es konnte keiner abgewiesen werden, das Gesetz sah die sofortige Einbürgerung vor.
Es waren die Grünen, die den Finger auf eine offene Wunde des Verfahrens legten. Nur wer es bis zu einem der Staatsbürgerschafts-Erteilungs-Büros geschafft hatte, erhielt seinen Pass. Was war denn mit all den anderen? Hatte Deutschland nicht zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen und war deshalb auch verantwortlich für das Schicksal der gesamten Welt? Man konnte die deutsche Staatsbürgerschaft nicht von geographischen Zufälligkeiten abhängig machen! Deshalb wurden zusätzlich in verschiedenen Staaten wie zum Beispiel Afghanistan, Syrien und dem Irak auswärtige Staatsbürgerschafts-Erteilungs-Büros eingerichtet, unterstützt von dortigen Ortskräften, die seltsamerweise nie lange bei der Arbeit blieben, weil sie die ersten waren, die mit ihren Fingern auf das „Ich Deutsch“-Plakat zeigten.
Shuttle-Service für Neudeutsche
Nun durfte man die Neudeutschen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Schließlich hat jeder deutsche Staatsbürger das Recht, in seine Heimat zu reisen, weshalb man einen Shuttle-Service einrichtete, mit dem man die neuen Bürger per Flugzeug nach Deutschland brachte – selbstverständlich kostenlos, womit hätten die armen Menschen auch einen Flug bezahlen sollen?
Das ursprüngliche Problem war nun gelöst; niemand konnte noch behaupten, es würden zu viele illegale Migranten oder Asylsuchende nach Deutschland einreisen, denn es kamen nur noch legale Deutsche. Der große Erfolg der Aktion, mit dem natürlich niemand hätte rechnen können, führte aber zu weiteren Schwierigkeiten: Die neuen Mitbürger kamen und kamen und kamen, und sie mussten irgendwo untergebracht werden. Für eine Weile konnte man das wie gewohnt in Flüchtlingsunterkünften erledigen, aber auf Dauer waren den Neudeutschen keine Matratzen in Turnhallen oder Ähnliches zuzumuten. Man brauchte anständigen Wohnraum und hatte keinen. Die Bautätigkeit in Deutschland war schon längst wegen der wirtschaftlichen Lage und wegen der Wahlerfolge der AfD in den östlichen Bundesländern annähernd zum Erliegen gekommen, und neu zu bauen, verbot sich ohnehin wegen der damit verbundenen klimaschädlichen Emissionen. Doch zeigte sich auch hier die Findigkeit der gutmeinenden Politiker. Schließlich stand im Grundgesetz der Passus: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Wann wäre das aktueller gewesen als in dieser schwierigen Zeit? Ob Eigentümer oder Mieter, das blieb sich gleich, jeder musste seinen Beitrag leisten. Immerhin hatte die durchschnittliche Wohnfläche je Einwohner im Jahr 2023 bei 47,5 Quadratmetern gelegen, während es 1991 nur 34,9 waren. Und was war denn schlecht am Jahr 1991? Würde sich jeder, ob alt- oder neudeutsch, mit diesen 34,9 Quadratmetern begnügen, wäre schon viel gewonnen. Ein Dreipersonenhaushalt, der, statistisch betrachtet, eine Fläche von 142,5 Quadratmetern beanspruchte, konnte leicht einen Neudeutschen aufnehmen, denn 4*34,9 = 139,6, da blieb sogar noch etwas Platz für den Hund, sofern der neue Mitbewohner nicht der Auffassung war, Hunde seien unrein.
Es war klar, dass diese neue Gemeinschaftsaufgabe nur mithilfe staatlicher Wohnraumzuweisungen funktionieren konnte; damit hatte man schon zu Zeiten der DDR seligen Angedenkens oder der Sowjetunion gute Erfahrungen gemacht. Ob man es also wollte oder nicht: Den bisherigen altdeutschen Bewohnern wurden neudeutsche Mitbewohner zugeordnet, ein Widerspruch war nicht möglich.
Etwas Unmut machte sich unter der alteingesessenen Bevölkerung nun doch breit, aber man war vorbereitet. An Gesetzen gegen Hass und Hetze hatte man schließlich schon vorher intensiv gearbeitet; daran konnte man anknüpfen und sie verschärfen. Und etliche Polizisten freuten sich, dass sie endlich wieder die Knüppel und die Wasserwerfer, deren Einsatz sie seit der schönen Corona-Zeit so sehnlich vermisst hatten, in Gebrauch nehmen durften und sollten. Im Übrigen machte es nichts aus, wenn Altdeutsche wegen ihrer Hassverbrechen auf Jahre hinaus ins Gefängnis geworfen wurden, das schuf Platz für die Neudeutschen. Dass man sich nach einer Weile wegen des großen Erfolges der Aktion von den Wohnungsdaten des Jahres 1991 verabschieden und zu denen von 1960 übergehen musste, die bei etwa 20 Quadratmetern pro Kopf lagen, war dann nur noch ein unwesentliches Detail.
Als ob das noch nicht genug sei, wurde die Regierung von weiteren Problemen geplagt. Ohne Frage konnte man den Neudeutschen kaum einen der üblichen Arbeitsplätze zumuten, sie waren zwar hochqualifiziert, aber doch eher im Hinblick auf Fachgebiete, die man am Hindukusch oder in ähnlich freundlichen Gegenden brauchen kann. Sie mussten daher mit Bürgergeld versorgt werden, das nun einmal jedem Deutschen zustand. Folglich kam man nicht umhin, der verbliebenen arbeitenden Bevölkerung immer mehr Steuern und Abgaben abzuverlangen, was nur in seltenen Fällen zu unverhohlener Begeisterung seitens der Altdeutschen führte. Manch einer dachte darüber nach, seine Arbeitsstelle aufzugeben und den Weg ins Bürgergeld anzutreten, doch das wurde durch das neue Gute-Arbeitnehmer*innen-Gesetz verhindert: Arbeitnehmer durften nur noch nach vorheriger Genehmigung durch die neu geschaffene Kündigungsprüfungsbehörde ihre Kündigung aussprechen, und solche Genehmigungen wurden nur selten erteilt.
Andere waren konsequenter oder wollten es wenigstens sein. Es gab tatsächlich Altdeutsche, die keine Freude mehr daran hatten, ihre Wohnung mit zwei oder drei Bürgergeld empfangenden Neudeutschen afghanischen Ursprungs zu teilen und dafür ihre Arbeitskraft herzugeben: Sie wollten das Land verlassen. In der Politik konnte man das nicht verstehen und schon gar nicht billigen. Wie konnte man denn so wenig Solidarität zeigen? Wer sollte denn für alles aufkommen, wenn die arbeitende Bevölkerung in Scharen auswanderte? Es kam, wie es kommen musste. Die Grenzen wurden geschlossen, nicht nach außen, denn seit den weisen Entschlüssen der Altkanzlerin wusste man, dass das nicht geht und moralisch unvertretbar ist, sondern nach innen. Ausreisen waren nur noch selten möglich, zumindest für Altdeutsche, Auswanderungen gar nicht. In den Archiven der Stasi im Besonderen und der DDR im Allgemeinen fand man hinreichend viele Anregungen, um diese wichtige Aufgabe zu erfüllen.
So weit in groben Zügen die Entwicklung hin zu dem Deutschland, das wir heute kennen. Es herrscht Ruhe und Frieden im Land, was vielleicht auch ein wenig mit dem Einsatz der Sicherheitskräfte zu tun hat, die man aus den Kreisen der Neudeutschen mit entsprechendem kulturellem Hintergrund gewinnen konnte, von denen selbst die alten Polizeikämpfer der Corona-Zeit noch lernen konnten. Der Zustrom an Neudeutschen hat deutlich nachgelassen; es mag sich herumgesprochen haben, dass die Mittel, sofern vorhanden, dürftig geworden sind, der Platz beschränkt und nicht im besten Zustand ist und die internationale Kreditwürdigkeit stark gelitten hat – drei völlig unvorhersehbare Folgen der neuen Staatsbürgerschaftspolitik. Und manchmal gelingt doch einem der Altdeutschen der illegale Grenzübertritt, und man könnte in der traditionsreichen Tagesschau erfahren, dass Deutsche inzwischen im Ausland erfolgreich um Asyl als politisch Verfolgte nachsuchen – wenn die Tagesschau über so etwas berichten würde.
Doch die Regierung ist zufrieden. Sie hat auf moralisch einwandfreie Weise ein altes Problem gelöst.
Mehr kann man nicht verlangen.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
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