Gastbeitrag von Gunter WeißgerberRedner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90Mitglied der freigewählten Volkskammer 1990Mitglied des Deutschen Bundestages 1990-2009
Am 8. Februar 2020 betrat die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland zentralistisches Neuland. Und mit ihr taten das Union und SPD.
Über 25 Jahre lang seit 1990 wurden den SPD-PDS-Kritikern innerhalb der SPD die hehren föderalen Grundsätze der Bundesrepublik vorgehalten:
– Landesregierungen dürfen durch die Bundeseben nicht zum Rücktritt aufgefordert werden. Die Strafandrohung gemäß Paragraph 106 StGB liegt bei bis zu fünf Jahren.
– Bundesparteien haben keine Durchgriffsrechte in ihre Landesparteigliederungen.
Im Ergebnis fielen mit Sachsen-Anhalt beginnend viele SPD-Landesverbände um und kooperierten einträchtig mit den Erben Ulbrichts und Honeckers, die sich bis heute auf Gewährsleute des ehemaligen MfS stützen.
Was bis zum 8. Februar für den Umgang mit der Partei „Die Linke“ galt, nämlich die Akzeptanz der föderalen Regeln der Bundesrepublik, gilt nun im Umgang mit der AfD nicht mehr. Die Bundeskanzlerin und mit ihr die Große Koalition verletzten das föderale Gefüge der Bundesrepublik empfindlich.
Die Bundeskanzlerin mischte sich direkt und unverhohlen in die Thüringer Belange ein. Der Rücktritt des Ministerpräsidenten und des Ostbeauftragten der Bundesregierung sind die Folge. Weitere Rücktritte sind ebenso wenig ausgeschlossen wie ein vorzeitiger Abgang der Kanzlerin. Angela Merkel gab ihrer Machterosion psychologisch unbedacht einen gewaltigen Schub – ein deutliches Zeichen ihrer Unsicherheit. Der Tag, an dem die Kaiserin nackt dasteht, scheint nicht mehr weit zu sein.
Einige Jahre mag das im Verbund mit vielen Journalisten funktionieren, dauerhaft klappt das nicht – das mit der eigenen Moral über den Regeln des demokratischen Rechtsstaates.
Inflationär füge ich das Wort Scham an dieser Stelle hinzu. Als Ostdeutscher schäme ich mich für eine ostdeutsch sozialisierte Bundeskanzlerin, die ihren Willen über die Regeln dieses Gemeinwesens stellt. Als Gesamtdeutscher frage ich, wo äußert sich der Widerstand der Staatsrechtler? Oder sind die Windeln wechseln?
Seit wenigen Tagen ist Thomas Kemmerich geschäftsführender Ministerpräsident des Bundeslandes Thüringen. Sein Vorgänger Bodo Ramelow übte diese Funktion drei Monate aus, Thomas Kemmerich dürfte das auch gelingen. Der Haushalt ist beschlossen. Die Regierung kann arbeiten. Er kann die Neuwahlen auf den Weg bringen und er muss Thüringen im Bundesrat vertreten. Die FDP sollte ihm mit guten Leuten helfen, die Bevölkerung sollte ihm die üblichen 100 Tage gewähren. Das Parlament sollte sich von Berlin nicht erpressen lassen. Wird den Abgeordneten das Rückgrat gebrochen, gehen das freie Mandat und infolge die Freiheit flöten.
Schauen wir auf Thomas Kemmerich, schauen wir auf Thüringen, hüten wir die 1989 in Ostdeutschland gewonnene Freiheit!
In den Mühen der Ebene, im täglichen Gleichklang des politischen Geschäfts lassen sich Trugbilder von Kompetenz, Stärke, Entschlusskraft, Mumm trefflich verbreiten und aufpumpen. In Tagen wie 1989, 2015 und 2020 kommen diese geschaffenen Bilder auf die Waage und werden als zu leicht befunden. Der Wind hat sich gedreht, das Schiff kommt ins Schleudern, die Fahrbahnverhältnisse haben sich von Bundesrepublik- zu DDR-Standard verändert, die Fahrer kommen ins Schleudern.
So war das 1989/90 mit der SPD. Die konnte zu großen Teilen mit der Friedlichen Revolution gegen die linke Diktatur im Osten nichts anfangen und ging „Uneinig in die Einheit“. Erst 1998 erholte sie sich von diesem historischen Versagen.
So war das 2015. Frau Merkel ließ die Institutionen dieser Republik außen vor, diese ließen sich das gefallen und seitdem trudelt das Schiff Bundesrepublik auf dem Ozean der Welt- und Innenpolitik. Eine Erholung ist nicht in Sicht, obwohl der Freidemokrate Thomas Kemmerich 2020 einen Lichtblick ins Dilemma bringt. Noch ist Deutschland nicht verloren und es ist ausgerechnet die FDP, die den Zeiger Richtung Vernunft umstellen könnte. Wenn sie es denn wöllte und tatkräftiges mutiges Personal besäße.
Ein Blick auf die Tagesordnung des Bundesrats für den 14. Februar 2020 wirkt erhellend:
TOP 1: Zweites Gesetz zur Änderung des Konsulargesetzes.
TOP 2: Gesetz zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung sowie einer Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen und zur Änderung weiterer Gesetze.
TOP 3: Gesetz zur Neustrukturierung des Zollfahndungsdienstgesetzes.
TOP 4: Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende.
TOP 5: Gesetz zur Errichtung der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt.
…
TOP 7: Zweites Gesetz zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes (gefährlicher Wolf).
…
TOP 9: Gesetz zur Vorbereitung der Schaffung von Baurecht durch Maßnahmengesetz im Verkehrsbereich (Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz – MgvG).
TOP 10: Gesetz zur weiteren Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich.
TOP 11: Fünftes Gesetz zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes.
….
TOP 16: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG).
…
TOP 20: Entschließung des Bundesrates zur Vermeidung von Lieferengpässen von Medikamenten.
…
TOP 24: Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung eines Bundesamts für Auswärtige Angelegenheiten und zur Änderung des Gesetzes über den Auswärtigen Dienst, des Aufenthaltsgesetzes und zur Anpassung anderer Gesetze an die Errichtung des Bundesamts.
…
TOP 30: Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches -Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes bei Bildaufnahmen.
…
TOP 45: Verordnung über die Standards für die Einsicht in elektronische Akten im Strafverfahren (Strafakteneinsichtsverordnung – StrafAktEinV).
…
TOP 55: Benennung eines Mitglieds des Kuratoriums des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
…
TOP 58: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zum Zweck der Erleichterung der Identifizierbarkeit im Internet für eine effektivere Bekämpfung und Verfolgung von Hasskriminalität.
…
TOP 63: Empfehlung für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen über eine neue Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland.
Diese kurze Aufzählung soll an dieser Stelle genügen. Die Themen liegen auf dem Tisch der Demokratie und harren ihrer freidemokratischen Annahme. Sich wählen lassen ist kein Selbstzweck, Citoyens und noch dazu gewählte haben die Pflicht der Einflussnahme. Tun sie das nicht, benötigen wir sie nicht.
Besitzt die FDP 2020 Politiker, die wie Helmut Schmidt 1962, Walter Scheel 1969, wie Otto Graf Lambsdorff 1982 oder Helmut Kohl 1989 den Situationen gewachsen waren oder vertrauen sie auf die trügerische öffentliche Wirkung ihres Kotaus wie ihn Christian Lindner am 7. Februar 2020 zelebrierte. Wolfgang Leonhard würde hier wahrscheinlich an „Kritik und Selbstkritik“ in Stalins Reich der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts denken. Wogegen dem stinknormalen Ossi der Artikel 1 der DDR-Verfassung schlierig umspült: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Das ist einfach nur eklig.
Für die Bundesrepublik und ihre Bevölkerung bleibt nur zu hoffen, dass Ministerpräsident Thomas Kemmerich aus dem Holz besteht, welches in Zeiten wie diesen dringend vonnöten ist. Die Statik der Republik ist weit außer Mitte, der „Deckel Bundes- und Landespolitik“ ist weit nach links gerutscht und gab die Mitte des „Topfes“ frei. Nun entweicht Dampf, viel Dampf.
Thomas Kemmerich ist (geschäftsführender) Ministerpräsident und Mitglied des Bundesrates.
Thüringen besitzt im Bundesrat 4 von 69 Stimmen. Einfache Beschlüsse erfordern mindestens 35 Stimmen, verfassungsrechtliche Beschlüsse erfordern 46 Stimmen. Vier Stimmen klingen scheinbar nach „geringer“ Bedeutung. Ein Irrtum. In der Vergangenheit kam es sehr oft auf einzelne Stimmen im Bundesrat an. Ein nochmaliger Blick in die Tagesordnung zum 14.2.2020 verdeutlicht das. Auch in der kommenden Woche ist Thüringens Position wichtig. Thomas Kemmerich kann ab sofort beweisen, dass er seine FDP-Wahlkampfpositionen ernst meinte und diese einzubringen gedenkt. Das ist eine Chance für die FDP, lieber Herr Kemmerich, lieber Herr Lindner. Den Mutigen gehört die Welt. Die Verzagten sollen zu Mutti gehen!
In der Hoffnung, Thomas Kemmerich bleibt bis zu Neuwahlen geschäftsführend im Amt, wünsche ich ein herzliches „Glück auf!“ nach Thüringen.
PS zum Abgang von Annegret Kramp-Karrenbauer: Die Bodenerosion in der CDU hält mit dem Klimawandel flott Schritt.
Der Autor: Gunter Weißgerber, Publizist, Herausgeber GlobKult www.globkult.de, www.weissgerber-freiheit.de
David gegen Goliath
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