Haben wir wieder Sozialismus in der Bundesrepublik? Keinen, wie wir ihn aus der DDR und der Sowjetunion kennen. Aber die alten Ideen, die zum „real existierenden Sozialismus“ führten, sind wieder erschreckend lebendig. Und prägen immer mehr unseren Alltag. Zu den wichtigsten Parallelen mit dem Sozialismus alter Prägung gehört dabei neben einer kleinen Elite, die sich im Besitz der Wahrheit wähnt und einen neuen Menschen schaffen will, eine unfassbare Realitätsverweigerung auf allen Ebenen (ausführlich dazu mehr in Kürze in meinem neuen Wochenbriefing, das Sie hier völlig kostenlos abonnieren können).
Diese Realitätsflucht geht einher mit der Schaffung einer Scheinrealität, die ihren bisherigen Höhepunkt in der Aussage von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat, wir lebten im „besten Deutschland aller Zeiten“. Wie der alte Sozialismus wird auch der im neuen Gewand an der gewaltigen Kluft zwischen Realität und Einbildung der Eliten – in unserem Fall des polit-medialen Komplexes – scheitern. Die große Frage ist nur: Wie viel Zerstörung wird bis zu diesem Scheitern angerichtet?
Stolzschwellende Falschnachricht
Neuestes Beispiel für die Realitätsflucht ist eine Textpassage von Robert Habecks Wirtschaftsministerium in dem Kurznachrichtendienst „Twitter“.
Eine Nutzerin mit dem Namen Renate Apfelthaler schreibt dort an das Ministerium: „Herr Habeck, Sie kennen anscheinend nicht die Wirtschaftsdaten, Deutschland ist im internationalen Vergleich weit abgerutscht, wir haben die schlechtesten Renten, Schulen und Infrastruktur sind marode und die Verschuldung nimmt immer mehr zu.“
Darauf kam postwendend folgende Antwort aus Habecks Haus:
„Das stimmt nicht. Die deutsche Wirtschaft ist stabil, das deutsche Rentenniveau eines der höchsten in der Welt und die deutsche Verschuldung im Vergleich geringer.“
Eine glatte Falschbehauptung. Denn die Renten liegen in Deutschland sogar noch unter dem europäischen Schnitt – von einem „der höchsten Rentenniveaus“ ganz zu schweigen. Beim Verhältnis zwischen den Einkünften aus der Erwerbstätigkeit und den späteren Rentenleistungen im Ruhestand liegt Deutschland mit 51,9 Prozent deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 58,6 Prozent und damit hinter Ländern wie der Türkei, der Slowakei, Tschechien und Ungarn (siehe hier, Stand 2019). „Rente: Deutschland rutscht ab – So schlecht ist unser Rentensystem“, titelte im vergangenen Herbst die WAZ. Und zwar auch wegen der zu hohen Steuerlast.
Nichtssagende Phrasen
Dass „die deutsche Verschuldung im Vergleich geringer“ ist, ist eine sinnfreie Behauptung, soweit man nicht ausführt, im Vergleich zu was sie geringer sein soll. Nimmt man die Staatsverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Stand Oktober 2020, so liegt Deutschland einerseits knapp vor Kenia, Nauru, Senegal, Malawi und Gabun, andererseits hinter Äthiopien, Mauretanien, den Bahamas und Burundi.
Auch, was die Stabilität der deutschen Wirtschaft angeht, darf man die Aussagen des Ministeriums bezweifeln. „Verbandschef: Im Mittelstand herrscht blanke Existenzangst“, titelte gerade TE. Auch die Entwicklung des Aktienindex DAX seit Jahresbeginn spricht eine klare Sprache.
Das Ministerium hat sich inzwischen für die Fehlinformation entschuldigt:
„Sehr geehrte Nutzerinnen und Nutzer, die Kritik am obenstehenden Beitrag ist berechtigt. Uns ist da leider ein Fehler unterlaufen. Es ging uns darum, dass die Wohlfahrt in Deutschland weiter hoch ist. Die Dimensionen von Wohlfahrt lassen sich durch die Betrachtung verschiedener Faktoren messen, darunter etwa das Bruttoinlandsprodukt, die Erwerbsquote sowie weitere Faktoren u.a. in den Bereichen Bildung, Infrastruktur oder Gesundheit. In unserem Jahreswirtschaftsbericht 2022 widmen wir uns ab Seite 79 der Frage der Wohlfahrtsentwicklung und legen den Stand der Wohlfahrt dar: https://bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Wirtschaft/jahreswirtschaftsbericht-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=20. Zum Vergleich mit anderen Ländern: Z.B. das durchschnittliche bereinigte verfügbare Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf beträgt in Deutschland 38 971 USD pro Jahr und liegt damit über dem OECD-Durchschnitt von 30 490 USD.“
Basteln an der Realität
Auch hier wird wieder an der Realität gebastelt. Ja, das Haushaltsnettoeinkommen in Deutschland ist immer noch hoch. Allerdings auch die Preise und die indirekten Abgaben. Was nicht erwähnt wird.
Die stolzschwellende Falschnachricht der Realitätslackierer in Habecks Ministerium ist nur ein neues Beispiel von unzähligen, ja fast alltäglichen.
Solange wir nicht zu einer realistischen Betrachtung und Wiedergabe der Realität in Politik und Medien zurückkommen, solange Menschen, die diese kritische Betrachtung fordern, diffamiert werden (oder aus der Bundespressekonferenz ausgeschlossen), solange wird die atemberaubende Talfahrt fortdauern. Und sich sogar noch beschleunigen. Denn wer Fehlentwicklungen tabuisiert und ihre Benennung verhindert, der beschleunigt sie.
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Text: br