Will die UNO keinen Sonderberichterstatter über Folter mehr? Drei Monate nach dem Rücktritt von Nils Melzer ist der Posten immer noch vakant

Von Kai Rebmann

Im Jahr 1985 wurde von der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) die Stelle des Sonderberichterstatters über Folter geschaffen. Zum ersten Amtsträger wurde Pieter H. Kooijmans (Niederlande) ernannt, seither gab es auf diesem wichtigen Posten keine Vakanz – bis jetzt! Ungeachtet der Tatsache, dass Nils Melzer, der zuletzt amtierende UN-Sonderberichterstatter über Folter, bereits im Februar 2022 angekündigt hatte, sein Amt zum 31. März niederzulegen, und inzwischen zum Roten Kreuz gewechselt ist, weist die UNO den Schweizer Rechtswissenschaftler nach wie vor als aktuellen Amtsträger aus. Melzers sechsjährige Amtszeit wäre eigentlich erst im Oktober 2022 abgelaufen, aus den Gründen für seinen vorzeitigen Rücktritt machte der Eidgenosse aber keinen Hehl. Er habe mit seinen Interventionen nichts für die Opfer von Folter bewirken können, erklärte ein sichtlich desillusionierter Melzer vor wenigen Monaten und spielte damit unter anderem auf seine weitgehend ignorierten Berichte über Polizeigewalt auf Corona-Demonstrationen in Deutschland und den „Fall Julian Assange“ an.

Es drängt sich die Frage auf, weshalb die UNO noch keinen Nachfolger für Nils Melzer gefunden hat. Oder hat man mit dem störrischen Schweizer derart „schlechte Erfahrungen“ gemacht, dass man einen UN-Sonderberichterstatter über Folter künftig für entbehrlich hält? Lässt die UNO den Posten lieber unbesetzt, bevor man sich noch einmal jemanden ins Haus holt, der ständig den Finger in die Wunde legt? Auch das weitgehende Schweigen der meisten Medien über die bemerkenswerte Vakanz auf einem der wichtigsten Posten der UNO kann nicht mehr wirklich überraschen. So kritisierte etwa die Süddeutsche Zeitung (SZ) Nils Melzer am 24. Januar 2022 dafür, dass er bei seinem Einsatz für die Opfer staatlicher Gewalt „zu weit geht“, was insbesondere im Hinblick auf Julian Assange gelte. Die Autoren des SZ-Artikels, Thomas Kirchner und Ronen Steinke, gehören also ebenfalls zu jenen Journalisten, die es inzwischen als ihre oberste Pflicht sehen, den Staat vor kritischen Bürgern zu schützen. Nils Melzer wollte eine Gegendarstellung veröffentlichen, was ihm die SZ jedoch verweigerte und damit ihr fragwürdiges Verständnis von Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland offenbarte.

Entlarvung der Folter Julian Assanges

Wie filigran der Doppelpass zwischen den Mainstream-Medien und den westlichen, ach so demokratischen Regierungen inzwischen gespielt wird, zeigt auch der „Fall Julian Assange“. Ende Mai 2019 veröffentlichte Nils Melzer in seiner Eigenschaft als UN-Sonderberichterstatter über Folter einen Bericht, in dem er „das sofortige Ende der kollektiven Verfolgung von Julian Assange“ gefordert hatte. Weil er diesen Fall für besonders bedeutsam gehalten hatte, verfasste der Jurist einen ergänzenden Kommentar mit dem Titel „Demasking the Torture of Julian Assange“ (Entlarvung der Folter Julian Assanges) und bot diesen anlässlich des Internationalen Tags zur Unterstützung von Folteropfern (26. Juni) nicht weniger als elf Zeitungen zur Veröffentlichung an: Australian, Canberra Times, Sydney Morning Herald (alle Australien), Financial Times, Newsweek, Times, Washington Post, New York Times, Guardian, Thomson Reuters Foundation und Telegraph (alle USA). Keine dieser Zeitungen wollte den Kommentar veröffentlichen, was diese unter anderem damit begründeten, dass das Thema nicht „wichtig genug“ sei, keine „nachrichtliche Relevanz“ habe und nicht in ihrem „Kerninteresse“ liege, wie Melzer erklärte. Dies wiederum lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass das „Kerninteresse“ solcher Medien offenbar im Schutz der Regierungen vor allzu kritischer Berichterstattung liegt.

Also veröffentlichte der UN-Sonderberichterstatter über Folter den Kommentar einfach selbst im Internet und es wird schnell klar, warum es staatstreue und teilweise -abhängige Medien dabei mit der Angst zu tun bekamen. Zu Beginn seines Kommentars gibt Melzer unumwunden zu, dass er sich, wie „der Großteil der Öffentlichkeit“ von der „unerbittlichen Schmutzkampagne“ gegen Julian Assange habe blenden lassen. Deshalb habe er dem Fall erst nach wiederholten Hinweisen auf Ungereimtheiten seine „widerstrebende Aufmerksamkeit“ zukommen lassen. Was Melzer bei seinen Recherchen herausgefunden hat, beschreibt er in seinem Kommentar, der im Folgenden in Auszügen wiedergegeben wird:

„Ich war mir sicher, dass Assange ein Vergewaltiger sein muss! Aber ich musste feststellen, dass er nie wegen einer Sexualstraftat angeklagt wurde. Kurz nachdem die Vereinigten Staaten ihre Verbündeten ermutigt hatten, Gründe für die Strafverfolgung von Assange zu finden, teilte die schwedische Staatsanwaltschaft der Boulevardpresse mit, dass er verdächtigt werde, zwei Frauen vergewaltigt zu haben. Seltsamerweise behaupteten die Frauen selbst jedoch nie, vergewaltigt worden zu sein, noch beabsichtigten sie, eine Straftat anzuzeigen […] Okay, dachte ich, aber dann muss Assange zumindest ein Hacker sein! Aber was ich herausgefunden habe, ist, dass ihm alle seine Enthüllungen frei zugespielt wurden und dass ihn niemand beschuldigte, auch nur einen einzigen Computer gehackt zu haben. Tatsächlich bezieht sich die einzige vertretbare Hacker-Anklage gegen ihn auf seinen erfolglosen Versuch, beim Knacken eines Passworts behilflich gewesen zu sein, was, wenn es erfolgreich gewesen wäre, seiner Quelle hätte helfen können, ihre Spuren zu verwischen. Kurz gesagt: eine eher isolierte, spekulative und belanglose Kette von Ereignissen; ein bisschen wie der Versuch, einen Fahrer strafrechtlich zu verfolgen, der erfolglos versucht hat, die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten, aber daran scheiterte, weil sein Auto das nicht hergab […]

Na dann, dachte ich, wissen wir wenigstens sicher, dass Assange ein russischer Spion ist, sich in die US-Wahlen eingemischt und fahrlässig den Tod von Menschen in Kauf genommen hat! Aber alles, was ich gefunden habe, ist, dass er konsequent wahre Informationen von inhärentem öffentlichem Interesse veröffentlicht hat, ohne Vertrauens-, Pflicht- oder Treuebruch. Ja, er hat Kriegsverbrechen, Korruption und Missbrauch aufgedeckt, aber verwechseln wir die nationale Sicherheit bitte nicht mit der Straflosigkeit des Staates. Ja, die Tatsachen, die er offenlegte, befähigten die US-Wähler, fundiertere Entscheidungen zu treffen, aber ist das nicht einfach Demokratie? Ja, es gibt ethische Diskussionen über die Legitimität nicht redigierter Enthüllungen. Aber wenn tatsächlich ein Schaden verursacht worden sein soll, wie kommt es dann, dass weder Assange noch Wikileaks jemals mit entsprechenden Strafanzeigen oder Zivilklagen auf Schadenersatz konfrontiert worden sind? […]

Am Ende dämmerte mir schließlich, dass ich von Propaganda geblendet und Assange systematisch verleumdet worden war, um die Aufmerksamkeit von den Verbrechen abzulenken, die er aufgedeckt hatte. Nachdem er durch Isolation, Spott und Häme entmenschlicht worden war, genau wie die Hexen, die wir früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt haben, war es einfach, ihm seine grundlegendsten Rechte zu entziehen, ohne weltweite öffentliche Empörung hervorzurufen. Und damit wird durch die Hintertür unserer eigenen Selbstgefälligkeit ein juristischer Präzedenzfall geschaffen, der in Zukunft genauso gut auf Enthüllungen von The Guardian, der New York Times und ABC News angewendet werden kann und wird. […]

Sie werden sich vielleicht fragen, warum Assange so wichtig sein soll, wenn es weltweit unzählige weitere Folteropfer gibt. Es geht aber nicht nur darum, Assange zu schützen, sondern einen Präzedenzfall zu verhindern, der das Schicksal der westlichen Demokratie besiegeln könnte. Denn sobald das Aussprechen der Wahrheit zu einem Verbrechen geworden ist, während die Mächtigen Straffreiheit genießen, wird es zu spät sein, den Kurs zu korrigieren. Wir werden unsere Stimme dann der Zensur und unser Schicksal der ungezügelten Tyrannei überlassen haben.“

Melzer-Kommentar aktueller denn je

Die oben zitierten Auszüge sind mehr als drei Jahre alt, wirken in gespenstischer Weise aber aktueller als zum Zeitpunkt ihrer ursprünglichen Veröffentlichung. Der damalige UN-Sonderbeauftragte über Folter konnte im Juni 2019 noch nichts von Corona und den Irrungen und Wirrungen wissen, die im Gefolge dieses Virus über die Welt kommen bzw. gebracht werden sollten. Im Zusammenhang mit der eskalierenden Polizeigewalt gegen Kritiker der Corona-Maßnahmen in Deutschland sprach Melzer offen von „Systemversagen“ und wies darauf hin, dass es in der Bundesrepublik „keine funktionierende Überwachung der Polizei“ mehr gebe.

Boris Reitschuster werden die Paypal-Konten gesperrt, eine Werbeagentur kündigt der Achse des Guten fristlos und wohl mutmaßlich rechtswidrig aufgrund eines anonymen Hinweises und Journalisten, die es wagen, unbequeme Wahrheiten auszusprechen bzw. -schreiben, müssen jederzeit mit öffentlicher Diffamierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung rechnen. Wetten, dass Nils Melzer sich nicht hätte träumen lassen, in welch atemberaubender Geschwindigkeit und mit welcher Präzision sich seine „Prophezeiungen“ bewahrheiten sollten? Gleichzeitig entbehrt es aber nicht einer gewissen Logik, dass die UNO kein großes Interesse daran hat, die Nachfolge des Zürchers zu regeln. Schließlich hat der (bisher) letzte UN-Sonderberichterstatter über Folter aus Sicht der westlichen Regierungen wohl schon genug Flurschaden hinterlassen …

David gegen Goliath
Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.

Bild: Michael Derrer Fuchs / Shutterstock
Text: kr

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