Lange habe ich selbst gefremdelt mit meinem eigenen Land. Wahrscheinlich ging es mir ein bisschen so wie einer rumänischen Freundin, die eine Zeit lang als Kind in Deutschland in die Schule ging, und eines Tages weinend nach Hause kam und sagte, sie schäme sich so sehr dafür, was ihre Landsleute alles angerichtet haben. Bis sie ihre Mutter beruhigte mit dem Hinweis, sie sei Rumänin, und keine Deutsche (dazu könnte man nun einige historische Nuancen aufzählen, aber das würde hier zu weit führen). Alles, was auch nur annähernd mit Patriotismus zu tun hatte – und ich spreche hier betont nicht von Nationalismus – war mir lange suspekt. Und wäre es vielleicht auch noch heute, wenn ich nicht 16 Jahre in Russland gelebt hätte.
Ja, zugegeben, viele Russen weichen ins andere Extrem ab: Dumper Nationalismus ist dort recht weit verbreitet. Aber genauso wie dieser befremdet mich inzwischen der Selbsthass, den man bei vielen exponierten Deutschen in Medien und in Politik finden kann (weniger übrigens erfreulicherweise in der der breiten Bevölkerung, so meine Erfahrung). Ich bin überzeugt: Selbstüberhöhung aufgrund der eigenen Nationalität und Selbsthass aufgrund derselben sind zwei Seiten einer Medaille. Beides sind überhöhte, ungute Einstellungen zum eigenen Land. Wer sich selbst und sein Land und seine Landsleute nicht annimmt, und nicht akzeptiert, wird auch andere nicht akzeptieren und annehmen können – genauso wenig wie jemand, der sich und die eigenen Landsleute für überlegen hält.
All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich gerade eine Nachricht auf bild.de las, dass „Einigkeit! Recht! Freiheit“ als Motto des Kölner Christopher-Street-Days zu massiver Aufregung geführt hatte – und abgesagt werden musste. Das Motto sollte „Denkanstoß, Mahnung, Ausdruck von Wertschätzung und Forderung zugleich sein“, so der Gedanke der Veranstalter. Sie wollten damit zu den gemeinsamen Werten aller Menschen in Deutschland aufrufen und, so wörtlich, „die Deutungshoheit dieser Worte nicht den Nationalisten und Populisten überlassen“.
Aber „mehrere politische Organisationen gingen auf die Barrikaden, kritisierten das Motto scharf. Es sei nationalistisch und für diskriminierte Gruppen in der Gesellschaft verhöhnend, hieß es“, so die Bild: „Im Klartext: Der weltoffene CSD solle nicht unter einem angeblich nationalistischen Banner laufen – auch weil ausgegrenzte Gruppierungen eben nicht Teil einer gleichen und freien Gesellschaft seien.“
Wegen der starken Gegenwehr luden die CSD-Veranstalter zur Gesprächsrunde ein, bei der es laut KLuST zu Gewalt, Sexismus, Beleidigungen und Bedrohungen kam. Auf von Gegnern verteilten Flugblättern stand, wie es in dem Bericht heißt: „Diese kapitalistische, rassistische, cis-hetero-patriarchale Gesellschaft kann uns keine Freiheit geben. Wir wollen nicht in sie eingegliedert werden, wir wollen diese Ordnung zerstören! Nicht unser Land! Nicht unsere Nationalhymne! Nicht unser Grundgesetz!“
75Und weiter: „Der Druck nahm stündlich zu – linke Organisationen drohten mit einem Veranstaltungs-Boykott. Dann knickte der CSD-Veranstalter ein: Der Kölner Lesben- und Schwulentag (KLuST) zog am Sonntagabend den Motto-Stecker, zog den Slogan zurück: statt ,Einigkeit! Recht! Freiheit! heißt das Motto nun am 5. Juli auf dem Kölner CSD „Für Menschenrechte“.
Der queerpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Sven Lehmann (40), begrüßt die Änderung des Mottos. Er sagte zu Bild: „Ich bin froh, dass es jetzt ein neues CSD-Motto gibt, hinter dem sich alle versammeln können.“
Was für ein Armutszeugnis! Was für eine Geschichtsvergessenheit! Das Motto „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ist fest verbunden mit der deutschen Demokratie-Geschichte: „Die Revolution von 1848/49 markiert für die Deutschen den Schritt vom Untertan zum Staatsbürger. ,Einigkeit und Recht und Freiheit´ – diese Ziele und Ideale der Revolution haben die Grundlagen für ein demokratisches und liberales Deutschland geschaffen. Sie beeinflussen unser politisches Denken und Handeln noch heute“, heißt es etwa im Buch „Einigkeit und Recht und Freiheit“, das der Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung herausgegeben hat.Nach Ansicht des österreichischen Germanisten Paul Portmann-Tselikas haben „Einigkeit und Recht und Freiheit“ den Charakter eines „offiziellen Wahlspruchs der BRD“. Sie zieren bis heute den Rand der deutschen Zwei-Euro-Münzen, sind der Kern unserer Hymne. Mehr noch: Sie sind der Kernsatz unseres Landes, unseres Staatswesens, des demokratischen Deutschlands.
Und dieser Kern unseres Staates soll „nationalistisch“ sein und „Gruppen ausgrenzen“? Das ist nicht nur dumm und absurd, es ist fatal. Wenn wir uns vom Kern unseres Staatswesens, vom minimalistischen Grundkonsens, distanzieren, also von uns selbst – wie sollten wir irgend jemanden integrieren können? Wie sollen wir als Gesellschaft Bestand halten? Wie soll der Zusammenhalt funktionieren? In völliger Beliebigkeit? Ich habe gar nicht erst versucht, meinen vielen ausländischen Freunden von dieser Geschichte zu erzählen. Sie würden nur den Kopf schütteln – wie sie über sehr, sehr viele Entwicklungen im selbst ernannten „besten Deutschland aller Zeiten“ den Kopf schütteln. Über unsere Abneigung gegen diejenigen, die unser Land verteidigen (siehe hier), über den Selbsthass von großen Teilen unserer Eliten, unsere Entwurzelung, die Unfähigkeit vieler, zwischen Patriotismus und Nationalismus zu unterscheiden, die Scham für das eigene Land, die wohl eine der Ursachen der irrationalen Willkommens-Euphorie war, als eine Art Befreiung von der gefühlten Kollektivschuld.
So schwer die Last unserer Geschichte wiegt, so wichtig es ist, ihr immer bewußt zu sein, besondere Verantwortung zu zeigen und sorgfältig damit umzugehen – was Teile der AfD leider in geradezu provokativer Weise verletzen („Vogelschiss“) – so gefährlich ist es, sich in einen Wahn zu steigern, der alles eigene ablehnt. Und die Ablehnung von „Einigkeit und Recht und Freiheit“ hat – man muss es leider so drastisch sagen – etwas Wahnhaftes an sich.
Dass ausgerechnet beim Christoper-Street-Day, der ja eigentlich für Toleranz stehen soll, die Toleranz nicht einmal so weit recht, dass der minimale Grundkonsens unseres Staates als Motto gelten kann, sagt das viel darüber aus, wie tolerant viele vermeintliche Vorkämpfer für Toleranz wirklich sind: Sie sind ein Musterbeispiel für Intoleranz und haben ihre angeblichen Werte pervertiert. Wenn ein Versuch, „zu den gemeinsamen Werten aller Menschen in Deutschland aufzurufen“, wie in Köln, als nationalistisch abgekanzelt wird und nicht mehr möglich ist, hat unser Land keine Zukunft mehr. Der große Imannuel Kant sagte einst: „Wer sich zum Wurm macht, soll nicht klagen, wenn er getreten wird.“
David gegen Goliath
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Bild: Pixabay