Der Fall Bahner: Das Virus des Irrsinns

Es war eines der bedrückendsten Interviews in meinem Leben. Mit Yorai Feinberg, einem jüdischen Gastwirt in Berlin. Der die Welt nicht mehr versteht. Weil er ständig in den Medien oder im Internet Aufrufen findet wie „Nazis raus“, „Gegen den Hass“, „Rassisten werden hier nicht bedient“ – und in seinem realen Leben genau das Gegenteil erlebt: Es vergeht keine Woche, so erzählte mir der damals 37-Jährige Anfang 2019, in der er nicht antisemitischen Attacken ausgesetzt sei – verbalen, digitalen und manchmal auch physischen.

Der gebürtige Israeli, dessen Vater ab dem vierten Lebensjahr vier Jahre lang in einem Erdloch unter einer Scheune versteckt im Baltikum ausharren musste und so den Holocaust überlebte, bekommt täglich Hass- und Drohmails. Zwei Männer machen Feinberg das Leben zur Hölle, etwa mit konkreten Morddrohungen, und auch schon mit physischen Attacken, die ihn ins Krankenhaus brachten. Aber die Behörden sagen, sie können nichts machen, da die beiden Männer offiziell unzurechnungsfähig seien, so der Sohn des Holocaust-Überlebenden: Tatsächlich benutzten sie „jedoch das Schild einer psychischen Krankheit um davon zu kommen.“ Einer von ihnen gibt „in seinen Mails offen damit an, dass man ihm nichts anhaben könnte, weil man ihn für krank hält. Die Situation, dass Leute mit bestimmten Krankheitsbildern quasi über dem Gesetz stehen und das ausnutzen um Unschuldige zu terrorisieren, ist inakzeptabel!“

Ich musste jetzt an Feinberg denken und seine beiden Peiniger, die frei herumlaufen, obwohl sie psychisch krank sind und ihn massiv terrorisieren, als ich mir die Geschichte von der Heidelberger Anwältin Beate Bahner heute noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Gestern habe ich hier ausführlich beschrieben, wie sie von Polizisten gegen ihren Willen in die Psychiatrie gebracht wurde. Sie hatte zuvor gegen die Corona-Beschränkungen vor dem Karlsruher Bundesverfassungsgericht geklagt. Erfolglos. Sie hatte zu Anti-Corona-Aktionen aufgerufen. Daraufhin wurde gegen sie ermittelt, sie bekam Besuch von der Polizei, ihre Website wurde zeitweise auf Anordnung der Polizei abgestellt.

Bahner ist überzeugt, dass Corona eine Verschwörung ist, sie redet von finsteren Mächten, fühlt sich verfolgt, vergleicht die Kontaktsperren mit der Verfolgung und Vernichtung der Juden im Dritten Reich. Vor allem letzteres ist unerträglich. Ohne ein Ferndiagnose wagen zu wollen: Es spricht viel dafür, dass die Anwältin völlig die Nerven verloren hat und in einem emotional instabilen Zustand ist – so ist auch der Text von Günter Frank zu verstehen, der sie persönlich kennt. Der Mediziner schreibt: „Ganz sicher überzogen, wenn nicht skandalös, war die Einleitung einer polizeilichen Ermittlung und vor allem die Sperrung ihrer Homepage, die ich live in Ihrer Kanzlei erlebte. In meiner Einschätzung war dies der Auslöser für ihre zunehmend schwer nachvollziehbaren Äußerungen auch auf Ihrer Homepage.“

Weiter schildert Frank: „ Für mich ist diese Zwangseinweisung kein Fall Semmelweis, und sollte auch nicht dementsprechend instrumentalisiert werden.“ Der österreichische Arzt (1818-1865) Semmelweis wurde von seinen Kollegen verlacht, weil er sich für Hygiene aussprach, die heute selbstverständlich ist, damals aber noch als unwichtig galt. 1865 wurde er ohne Diagnose von drei Ärztekollegen in die staatliche Landesirrenanstalt eingewiesen, wo er nach zwei Wochen an einer Blutvergiftung verstarb.

Fast genauso betroffen wie der Fall Bahner, der eine menschliche Tragödie ist – auch weil die Anwältin offenbar im Affekt ihre Zulassung zurückgab – haben mich die Reaktionen darauf. Insbesondere die sofortigen Blanko-Schecks für das Vorgehen der Behörden. Forderungen nach noch weiterem Durchgreifen („die gehören doch alle weggesperrt). Und die Häme.

Der FDP-Abgeordnete Müller-Rosentritt übt sich auf twitter gar in Ferndiagnose: „#Bahner ist offenbar psychisch erkrankt. Ihre Schriften zeugen von Paranoia & sekundärem Antisemitismus. Beängstigend, wie schnell sich ihre Schriften verbreiten konnten. Das ist die Schattenseite des Web 2.0.“ Wenn ausgerechnet ein Liberaler sich so äußert, möchte man fragen: Stellt die Polizei heute solche Diagnosen? Ist Antisemitismus eine psychische Krankheit? Oder relativiert nicht eine solche These Antisemitismus? Und gibt es nicht sehr viele psychisch Kranke, die nicht eingewiesen werden? Selbst wenn sie andere terrorisieren, wie die Peiniger des jüdischen Gastwirts Feinberg?

Auch wenn vieles dafür spricht, dass Bahner zumindest bei ihrer Einlieferung in einem sehr labilen Zustand war und unter massivem Verfolgungswahn leidet, wirft der Fall doch sehr viele Fragen auf. Und es ist – gerade in Deutschland mit seiner totalitären Vergangenheit – die Pflicht jedes guten Demokraten, und umso mehr Journalisten, massive Eingriffe des Staates immer kritisch zu hinterfragen. Zu zweifeln. Den Finger in die Wunde zu legen.

Umso mehr, als noch wenige Tage vor dem Vorfall in Heidelberg die Regierung in Sachsen angekündigt hatte, Quarantäne-Verweigerer in die Psychiatrie zu stecken – und den Plan erst nach massiven Protesten fallen ließ. Das zeigt, wie wichtig die öffentliche Kontrolle ist. Umso mehr bei einem so heiklen Thema wie Einweisungen in die Psychiatrie von Menschen, die sich gegen eine bestimmte Politik stellen. Genau dafür sind totalitäre Systeme berüchtigt – etwa die DDR oder die Sowjetunion. So absurd und unsinnig es wäre, diese mit der heutigen Bundesrepublik gleichzusetzen – so sensibilisiert müssen wir aufgrund dieser bitteren, kriminellen Erfahrungen sein bei dem Thema.

Und umso erschreckender die vorauseilende Rechtfertigung für das Vorgehen der Behörden gegen Bahner. In meinen Augen sind solche Blankoscheine genauso unzulässig wie es eine vorzeitige Verurteilung der Behörden wäre. Aber hier tritt offenbar das zum Vorschein, was gerade eine Gastautorin in der NZZ völlig zurecht monierte – bleierner Gehorsam und Obrigkeitsorientierung: „Die Politik ist nun endgültig durchpädagogisiert…Gerade die Deutschen gefallen sich in 150-prozentigem Corona-Gehorsam, wahrscheinlich ist immer noch viel von der Ja-Nein-, Schwarz-Weiss-, Gut-Böse-, Freund-Feind-Mentalität Carl Schmitts übrig. Nur wenn die Massnahmen beinhart sind und die Unterwerfung total ist, nur wenn man kritische Nachfragen absolut unterlässt, ist man ein guter Corona-Staatsbürger.“

Der Fall Bahner zeigt, wie sehr uns die Corona-Krise an die Grenze unserer ethischen Maßstäbe bringt, und auch an die Grenze der Demokratie und Freiheit. Ist unerträgliches, herausforderndes und – im landläufigen Sinne, nicht im medizinischen – irres Verhalten genug Grund dafür, jemanden wegzusperren? Oder unterscheidet es nicht gerade eine freiheitliche Demokratie von nicht freien Systemen, dass jeder hier das Recht hat, auch irre zu sein, solange er nicht andere gefährdet? Ist es der Aufruf zu Versammlungen in Zeiten von hoher Ansteckungsgefahr ein Grund für eine Einweisung? Wie ist dann damit umzugehen, dass im gleichen Land die Behörden etwa bei einer Versammlung von 300 Moslems in Berlin gerade eben ein Auge zugedrückt haben (siehe hier) – oder alte, kranke, hilfsbedürftige Menschen, die in ihrer Wohnung nicht mehr zurecht kommen, sich trotz Selbstgefährdung selbst überlassen werden unter Hinweis auf ihr Selbstbestimmungsrecht (siehe hier)? Warum ist die Website der linksextremen Indymedia mit ihrem Aufruf zum „Ungehorsam“ und zu Plünderungen in der Corona-Krise immer noch online und es ist auch nichts von Ermittlungen bekannt wie im Falle Bahner?

Warum schweigen ARD und ZDF, Tagesschau und heute zum Fall Bahner? Nicht einmal im Internet gibt es dort eine Meldung darüber – während etwa bei n-tv, Welt und Bild Berichte zu finden sind. Hat der Gebührenzahler nicht ein Recht darauf, genauso wie der Leser von Welt und Bild informiert zu werden? Wenigstens so, wie es das Boulevard-Blatt tut – das sich im Wesentlichen auf die psychischen Probleme der Anwältin konzentriert, was ich journalistisch (und auch menschlich) für sehr grenzwertig halte, wenn dabei die anderen Dimensionen weitgehend ausgeblendet werden.

Ich bekam gestern nach meinem Bericht über Bahner böse Zuschriften. Eine davon lautete: Wie könne ich es wagen, einer Irren eine Bühne zu bieten. Ich finde: In einer Demokratie sind solche Diagnosen dem Rechtsstaat bzw. der Medizin überlassen. Und Journalisten, die sich selbst zensieren, haben ihren Beruf nicht verstanden. Sie haben die Pflicht, zu berichten, aber auch weitere Pflichten: Den Vorfall sachte zu beleuchten, ohne Effekthascherei, alle Grautöne zu zeichnen und nicht in ein Schwarz-Weiß-Bild zu verfallen.

Auch, wer an Verschwörungstheorien glaubt, und sich von dunklen Mächten verfolgt fühlt, hat die Menschenrechte nicht verwirkt. Und, glauben Sie mir, ich weiß es von vielen Zuschriften: Es sind viel mehr Menschen, auf die das zutrifft, als sich die meisten von uns wohl vorstellen.

Man bekommt in diesen Tagen ein Gefühl dafür, wie autoritäre Systeme funktionieren – die Duckmäuserei, das Denunzieren, die gefühlte Allmacht und oft auch Willkür von Beamten vom kleinen Polizisten über den Landrat bis zur Kanzlerin, die lautstarke, fast liebdienerische Unterstützung der Regierung, selbst von denen, die ihr gestern noch kritisch gegenüberstanden, das Diffamieren von Kritikern, der Glaube, besser zu sein und besser dazustehen als die anderen in der Welt: All das sind Wesensbestandteile von undemokratischen Systemen. Nein, so weit sind wir (zumindest noch) nicht – aber die Zutaten sind da, sie sind deutlich zu spüren. Und das macht Angst.

Corona gefährdet nicht nur unsere Gesundheit. „Man hat ja derzeit den Eindruck, dass es noch mehrere andere Viren gibt, die das Land besetzen. Das Virus des Irrsinns, der Machtversessenheit, der Denunziation etc.“, schrieb mir ein Kollege kürzlich. Recht hat er.


AKTUALISIERUNG: Parallel mit dem Erscheinen dieses Artikel erschien eine gemeinsame Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Heidelberg und des Polizeipräsidiums Mannheim, in der steht: In der Öffentlichkeit, namentlich im Internet, kursieren derzeit Berichte über eine zwangsweise Unterbringung der Beschuldigten in einer psychiatrischen Klinik. Hierzu stellen die Staatsanwaltschaft Heidelberg und das Polizeipräsidium Mannheim fest, dass im Rahmen des gegen die Beschuldigte geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens weder die Unterbringung der Beschuldigten in einer psychiatrischen Klinik noch eine sonstige strafprozessuale Zwangsmaßnahme veranlasst wurden.“

Ich schrieb zu dieser Presseerklärung gerade an die Staatsanwaltschaft:

„Gestatten Sie mir folgende Nachfragen, da ich die Formulierung für missverständlich halte:

1.) Ist nur «im Rahmen des gegen die Beschuldigte geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens» keine  „Unterbringung der Beschuldigtem in einer psychiatrischen Klinik noch eine sonstige strafprozessuale Zwangsmaßnahme veranlasst» worden, wie Sie schreiben, oder gab es generell – also unabhängig von dem von Ihnen geführten Ermittlungsverfahren – keine Unterbringung und keine Zwangsmaßnahmen?

2.) Sollten die Ausführungen von Frau Bahner über solche Zwangsmaßnahmen nicht zutreffen, erwägen sie dann wegen dieser Aussagen juristische Schritte gegen sie, etwa wegen übler Nachrede?


Bild: Klaus with K/ Wikicommons/GNU-Lizenz für freie Dokumentation

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