Würden wir nicht in Zeiten leben, in denen die „Verschwörungstheorie“ von gestern allzu oft die Realität von morgen ist, hätte ich im Frühling gelacht, als mir Insider erzählten, dass es Überlegungen gibt, die Bundestagswahl 2021 zu verschieben. Und damit Angela Merkel und ihrer Mannschaft eine „Laufzeitverlängerung“ zu gewähren. Sozusagen gratis, ohne dass der Wähler zustimmen muss. Ich hoffte inständig, dass die Information eine „Ente“ ist. Also ein böses Gerücht.
Und jetzt das. Gerade schickte mir eine Leserin einen Link. Auf die Internet-Seite des Bundestages. Dort ist eine „Ausarbeitung“ des Wissenschaftlichen Dienstes zu finden. Ihr Titel: „Verschiebung der Bundestagswahl. Verfassungsrechtliche Aspekte und Konsequenzen“. Sie stammt vom Juli 2020. Was ihr aber nichts an ihrer Aktualität nimmt. Das eigentlich Bemerkenswerte an der Studie ist, dass sie überhaupt erstellt wurde. Denn das belegt, dass sich jemand mit der Frage beschäftigt. Wer genau die „Ausarbeitung“ in Auftrag gegeben hat, wird in ihr nicht erwähnt. Insofern darf man sie nicht überbewerten. Jede Fraktion könnte sie in Auftrag gegeben haben. Möglicherweise in der Hoffnung, dass eine Verschiebung ausgeschlossen ist. Bemerkenswert ist auch, dass fast drei Monate lang offenbar kaum eines der „Qualitätsmedien“ diese Studie gefunden und über sie berichtet hat.
Das Erstaunlichste ist jedoch das Ergebnis der „Aufarbeitung“: Nach Ansicht des Wissenschaftlichen Diensts ist eine Verschiebung der Bundestagswahl wegen Corona durchaus möglich. Aus Gründen des Infektionsschutz könne sie auch später stattfinden. Auch das Wahlprozedere könne wegen Covid-19 geändert werden.
Das Papier, das Sie hier in Gänze nachlesen können, gleicht einer Quadratur des Kreises. Zunächst wird dort festgestellt, dass nach vorherrschender Interpretation von Grundgesetz und Verfassung eine Verschiebung der Wahlen nur im Verteidigungsfall möglich sei. Durch die im Grundgesetz erfolgte „Bestimmung der Wahlperiode auf vier Jahre, kann das Recht der Bürger, alle vier Jahre einen neuen Bundestag zu wählen, nicht einfach rechtlich entzogen werden oder durch Verkürzung oder Verlängerung der laufenden Wahlperiode beeinträchtigt werden“, heißt es. Und weiter: „Eine Verlängerung der Wahlperiode des amtierenden Parlaments durch eine Verfassungsänderung wird – anders als eine Veränderung der Dauer von künftigen Wahlperioden – vom überwiegenden Schrifttum abgelehnt. Das Volk hat den Bundestag unter den konkreten Bedingungen des zum Wahltermin feststehenden Wahlrechts gewählt, also diesen für eine Wahlperiode von vier Jahren legitimiert. Eine Verlängerung würde eine unzulässige Selbstermächtigung darstellen.“
Und genau dem ebnet, zugespitzt ausgedrückt, der Wissenschaftliche Dienst dann weiter unten in dem Papier faktisch den Weg – unter Berufung auf „andere Rechtswissenschaftler“: Diese ließen „eine durch Verfassungsänderung bestimmte Verlängerung der laufenden Wahlperiode unter engen Voraussetzungen zu, wenn schwerwiegende und zwingende Gründe des Allgemeinwohls dies erfordern.“ Die Verlängerung müsse allerdings „kurzfristig“ sein. Doch was ist kurzfristig? Eine Woche? Ein Monat? Ein Jahr? Weiter wird dann ausgeführt, warum das, was in der Verfassung und dem Gesetz steht und bisher auch von der Mehrheit der Fachleute so gesehen wird, im Zweifelsfall ganz anders gehandhabt werden könnte.
Da sind bemerkenswerte Sätze zu lesen wie dieser: „Zudem wiege die verfassungswidrig zu späte Wahl weniger schwer, als die ebenso verfassungswidrige weitere Verlängerung des Wahlperiode des vorangegangenen Bundestages“.
Ich bin kein Jurist. Und hoffentlich liegt es nur daran, dass mir beim Lesen dieser „Ausarbeitung“ der Atem stockte. Für mich als Laien wirkt sie wie ein weiterer potentieller Meilenstein Richtung Aushebelung von Rechtsstaatlichkeit. Ich musste unwillkürlich an die Worte der Bundeskanzlerin bei der Sommerpressekonferenz 2018 denken. Da sagte sie: „Für die Bundesregierung kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen und werden und das, wo immer das notwendig ist, auch tun“. Ob es beim Thema Neuwahlen in ihren Augen „notwendig ist“?
Text: br
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Transparenzhinweis: In der Ursprungsversion dieses Artikels war kurz davon die Rede, dass die Verschiebung nach der in der Ausarbeitung ausgeführten abweichenden Meinung bis zu 48 Monate dauern könne. Das war falsch. Diese 48 Monate beziehen sich auf die Standardmeinung, und die Frist für eine Verschiebung seit dem Beginn der Wahlperiode des amtierenden Bundestags. Die 48 Monate beziehen sich nicht auf die abweichende Meinung, nach der eine Verlängerung über just diese 48-Monats-Frist hinaus möglich ist. Für diese wird keine genaue Frist genannt, es ist lediglich davon die Rede, dass diese Verlängerung „kurzfristig“ sein müsse. Was sehr relativ ist.