Von Alexander Wallasch
Fast auf den Monat genau vor 40 Jahren, am 28. Februar 1981, kamen einhunderttausend Menschen zur bis dahin größten deutschen Anti-Atom-Demo an die Unterelbe. Diese Demonstration war zwar verboten, das interessierte aber so gut wie niemanden – es stachelte sogar noch an, hinzufahren.
Eine der Gründungsmitglieder der Grünen, Jutta Ditfurth, beschreibt in der Rückschau eine aus heutiger Sicht verstörende Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit von Radikalität und Militanz zum Gründungsparteitag 1980: „Bäuerliche Bauplatzbesetzer vom Kaiserstuhl begegneten radikalen Feministinnen aus Köln. Militante Brokdorfdemonstranten aus Hamburg und Hessen diskutierten mit christlichen Pazifisten aus Bayern oder mit Vogelschützern aus Niedersachsen. Punks mit Schlipsträgern. Kommunisten mit Anthroposophen.“
Es waren aber nicht nur jene hier beschriebenen militanten Brokdorfdemonstranten, die schon ein Jahr später zehntausend Polizisten an den Ort einer verbotenen Demonstration binden. Die gewalttätigen Ausschreitungen waren umfassend und wurden vielfach noch unter dem Stichwort „ziviler Ungehorsam“ legitimiert.
Grüner Gründungsmythos Schlachtfeld Brokdorf
Brokdorf wurde über Jahre hinweg zum berüchtigten Schlachtfeld der gewaltbereiten Demonstrationsszene. Hier verdienten sich grüne Prügelnovizen erste Sporen. Wer bis dahin noch keinen Stein gegen einen Polizisten geschmissen hatte oder wer noch kein Eisenbahn-Gleisbett ausgehöhlt oder geschottert hatte, also die Steine weggeräumt hatte mit dem Ziel, einen darüberfahrenden Zug zum Entgleisen zu bringen bzw. die so gewonnenen Schottersteine als Wurfgeschosse zu verwenden, der konnte sich hier beweisen. Der hatte seine Unschuld zu verlieren für die gute Sache und gegen die Bullenschweine.
Schon fünf Jahre zuvor war es 1976 bei Brokdorf zu „Gefechten zwischen Polizei und Demonstranten“ gekommen, wie es der NDR in einer gut erzählten Rückschau beschreibt: Als besagte Großdemonstration Anfang 1981 endgültig untersagt wurde, eskalierte die Situation.
„Mit Schlagstöcken, Steinen oder Brandsätzen bewaffnet bleiben längst nicht alle Demonstranten friedlich. Am Nachmittag kommt es am Bauzaun zu gewalttätigen Übergriffen.“
Heute, über vierzig Jahre später, haben die Grünen eine eigene Kanzlerkandidatin und sind Wunschpartner der Union für eine Regierungskoalition geworden. Entsprechend fallen dann allerdings auch die Kommentare der Grünen zu den regierungskritischen Demonstrationen am 1. August in Berlin aus. Was ist die grüne Haltung 2021 zur eskalierenden Polizeigewalt gegenüber friedlichen Demonstranten? Ja, manche Spinner sind dabei, aber auch gestandene Bürgerrechtler, die bis heute teilweise noch anmuten wie weltbewegte grüne Pazifisten oder mindestens wie ganz aus Versehen aus den Wandelgängen der IKEA-Welt gefallene Einkäufer – jedenfalls nicht wie Rechtsradikale oder was diese Corona-Maßnahmen-Kritiker sonst noch alles sein sollen.
In Berlin regiert Rot-Rot-Grün. Der für das Demonstrationsverbot zuständige Innensenator Andreas Geisel ist heute Sozialdemokrat – vor der Wende trug er einige Jahre das SED-Parteibuch im Ranzen. Und während zehntausende Fußballfans in den Stadien der Europameisterschaft gerade bewiesen hatten, dass es wenige Ansteckungsfälle im Freien gab (Massentests in England) und schon gar keine sogenannten Superspreader-Events, lässt Geisel die Demo verbieten, wo er kurz zuvor noch Zehntausende auf einem genehmigten Christopher-Street-Day ausgelassen durch Berlin feiern ließ.
Die Grünen fordern mit Blick auf die Maßnahmen-Kritiker eine „Analyse der Gruppe, insbesondere mit Blick auf eine Vernetzung ins rechtsextreme und verschwörungsideologische Spektrum.“ Oder mit anderen Worten: Mehr Verfassungsschutzarbeit an den Querdenkern. Die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Irena Mihalic, verteidigt das Demonstrationsverbot für den 1. August dann folgendermaßen:
„Die chaotischen Szenen und massiven Übergriffe gegen Presse und Polizei sind nicht den von Gerichten bestätigten Demonstrationsverboten geschuldet.“ Von Übergriffen etwa der Polizei gegen friedliche Demonstranten ist bei der Grünen nicht die Rede.
Aber Recht bleibt ja dennoch Recht:
„Steht nicht zu befürchten, dass eine Demonstration im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter und sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, bleibt für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen durch Einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist.“ (BVerfGE 69, 315)
Grüne Steine, Molotov-Cocktails und Wurfgeschosse
Noch einmal zurück und mitten hinein in diesen gewalttätigen Gründungsmythos der Partei von Katrin Göring-Eckardt und zum Wikipedia-Suchbegriff „Großdemonstration bei Brokdorf“:
„Nach deren Abschluss, als ein Großteil der Demonstranten bereits den Rückweg angetreten hatte, gingen etwa 3000 militante Demonstranten mit Steinen, Molotov-Cocktails und Wurfgeschossen gegen Polizeibeamte vor. Die Polizei drängte die Demonstranten unter Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und tief fliegenden Hubschraubern vom Baugelände ab. Der schwerwiegendste Zwischenfall ereignete sich auf den Wiesen am Baugelände. Dabei stürzte ein Polizist eines SEK bei der Verfolgung eines mutmaßlichen Steinewerfers in einen Wassergraben. Zwei Demonstranten schlugen ihm mit Knüppel und Spaten den Helm ein. Nach den Verdächtigen wurde wochenlang wegen des Vorwurfs des versuchten Mordes gefahndet, wodurch der Vorfall bundesweite Bekanntheit erlangte. Anhand von Pressefotos wurden zwei Männer identifiziert und wegen gefährlicher Körperverletzung sowie Landfriedensbruchs verurteilt.“
Der Spiegel berichtete vom Prozess gegen die Täter:
„Vielleicht war es so: Jemand flüchtet vor einem knüppelschwingenden Uniformierten in einen Wassergraben, der Verfolger rutscht hintendrein. Freunde eilen dem Flüchtling zu Hilfe und verprügeln nun den Schläger mit einer Schaufel und einer Holzlatte. Oder war es anders? Ein Polizist fällt in die Hände gewalttätiger Demonstranten. Sie stoßen ihn in einen Graben, zwei versuchen, mit Hiebwaffen das hilflose Opfer zu ermorden.“
Das Strafmaß nach 55 Verhandlungstagen und 65 Zeugenvernehmungen: Drei bzw. fünfeinhalb Jahre Freiheitsentzug. Der zuständige Richter begründete den Verzicht auf eine Bewährung damals mit einem Erziehungsziel gegenüber einem der gewalttätigen Anti-Brokdorf-Demonstranten so:
„Ihm muß klargemacht werden, dass er nicht mit dem Kopf durch die Wand kommt, sondern die Wand dann stärker ist.“
So ähnlich, nur ganz anders, mag sich das über vierzig Jahre später für Kritiker der Corona-Maßnahmen der Regierung angefühlt haben, als sie sich dem rot-rot-grünen Versammlungsverbot widersetzten und dafür vielfach mit dem harten Berliner Pflaster Bekanntschaft machten – allerdings, ohne zuvor Pflastersteine gegen die Staatsmacht geworfen oder den Spaten gegen Polizeihelme erhoben zu haben.
Wie bigott hier Vertreter der Grünen insgesamt vorgehen, zeigt beispielhaft eine Empörung der Berliner Grünen (gemeinsam mit den Linken), als es die Berliner Polizei 2020 doch tatsächlich wagte, eine Demonstration für illegale Migranten zu unterbinden. Die taz berichtete darüber folgendermaßen:
„Vor allem innerhalb der Grünen und Linken ist man nicht glücklich über die Ereignisse vom Sonntag, als die Polizei Aktionen für die in griechischen Lagern eingesperrten Flüchtlinge unterband und dabei auch gegen Einzelpersonen und einen Autokorso vorging. Dutzende Personen wurden kontrolliert und müssen mit Bußgeldern und Verfahren rechnen.“
Der Grüne als Polizeilehrer
Der innenpolitische Sprecher der Grünen, Benedikt Lux, im Gespräch mit derselben Zeitung: „Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist so elementar, dass keine Verordnung darüber stehen kann.“
Es klingt wie ein Witz, ist aber wahr: Lux gab 2020 an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Seminare für Polizisten in Versammlungsrecht. Und er erinnert damit an den Fall des linksradikalen Geschäftsführers des thüringischen Journalistenverbandes, Sebastian Scholz, der auf einer Demonstrationen Hilfspolizist spielte, einen Demonstranten attackierte, zu Fall brachte und dafür dann vom Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) noch mit einer exklusiven kleinen Gesprächsrunde und bewundernden Twitter-Kommentaren Ramelows belohnt wurde. Jener Ramelow übrigens, der über sich selbst sagt, er sei über dreißig Jahre lang vom Staatsschutz ausspioniert und ausgeschnüffelt worden – und damit meint er den Staatsschutz der Bundesrepublik. „Das Bundesamt für Verfassungsschutz führt bereits seit 1986 eine Akte über ihn.“
Der ehemalige grüne Außenminister Joschka Fischer schwärmte bekanntermaßen noch 2001 über seine Zeit als militanter Radikaler: „Damals lief ich allein und mit nichts als meinen Händen zum ersten Mal nicht mehr weg, sondern der Polizei entgegen.“ Fischers Begründung gegenüber dem Stern: „Es war eine Zeit, in der auf Rudi Dutschke geschossen wurde, eine Zeit der härtesten Konfrontation, des öffentlich gepredigten Hasses gegen die Studenten.“
Schaut man sich jetzt noch mal abschließend die Bilder der nicht genehmigten Demonstrationen am 1. August 2021 in Berlin an und vergleicht diese mit der ebenfalls nicht genehmigten Demonstration 1981 und den paramilitärischen Aufmärschen in Brokdorf, dann wird diese verlogene Empörung aus Politik und Medien über die nicht genehmigte Demonstration am 1. August 2021 in Berlin ad absurdum geführt. Beides geht nämlich nicht: Auf der einen Seite diese stolz erzählten Schützengraben-Brokdorf-Erzählungen und auf der anderen Seite eine Empörung über Corona-Maßnahmenkritiker, die sich nicht an Demonstrationsverbote halten.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Volkswagen tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann) schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“
Bild: Leonce49/Hans Weingartz/Wikicommons/CC BY 3.0Text: Gast