Von Sönke Paulsen
Stars, Sternchen und Influencer ziehen blank und zeigen alles, wirklich alles. Den Streit mit der Familie, die Trennung von der Freundin, eigene Alkoholabhängigkeit oder den persönlichen Bankrott, die Besorgnisse der Schwangerschaft, die Depression und den Ärger der nackten Gladiatoren übereinander. Reality-TV, Leben als Show und die ewige Jagd nach Klicks und Werbeeinnahmen.
Wer geht am weitesten?
Es handelt sich um einen Circus, der die Gesellschaft unterhält, die in Wirklichkeit ganz anders ist. Vorsichtig und ängstlich bedacht auf das, was man sagt, im Zweifel schnell „alles gut“ rufend und misstrauisch gegeneinander.
Das Reality-TV ersetzt das soziale Umfeld, das durch die vorgenannten Eigenschaften nicht selten abgewürgt wurde.
Die Hauptdarsteller der Politik praktizieren das gleiche Reality-TV und hauen sich in der Regel Zitate um die Ohren, die meist nur noch aus Satzfetzen bestehen. In sich stimmige Programme haben da keine Chance mehr. In dem ständig grollenden Twitter-Donner von der Medienfront geht sowieso alles unter. Man wartet nur, wo die nächste Granate einschlägt.
Fast schicksalhaft.
Olaf Scholz hat „Versuchskaninchen“ gesagt. Die einen empören sich und die anderen rufen „Olaf! Olaf!“ Dabei wollte er damit nur zum Ausdruck bringen, dass sich schon Millionen Deutsche mit einem neuen Impfstoff, der auch einem neuen Impfstoffprinzip folgt, haben impfen lassen. Das war experimentell und ist für die meisten gut gegangen und deshalb könnten die anderen jetzt auch mal folgen.
Man kann so denken oder auch nicht, aber das ist schon zu viel
Viel zu differenziert für unsere Öffentlichkeit, die nur ein einziges Reizwort, „Versuchskaninchen“, aufnehmen kann und dies dann tausendfach hyperventiliert. Ohne Sinn und ohne Verstand.
Die ökonomische Grundlage dieses permanenten Krieges mit Wortgranaten ist der Hyperwettbewerb. Zu viele bieten dasselbe an und müssen deshalb sehr, sehr weit gehen, um aufzufallen und wahrgenommen zu werden.
Eine Art von stupider Aufrüstung, die dem Kalkül des Internets folgt. Bloß nicht nicht auffallen!
Was soll man machen, wenn man in einer solchen Welt aufwächst?
Man wird zwangsläufig zum Exhibitionisten und versucht es mit Twitter, wenn es mit dem „Singen und Tanzen“ nicht geklappt hat. Auffällig viele unserer Politiker sind in der realen Welt gescheiterte Existenzen. In jeder Partei gibt es dieses Spitzenpersonal, dessen einzige Fähigkeit darin besteht, erfolgreich mit der Öffentlichkeit umzugehen, also hervorzustechen, in welcher Art auch immer.
Wer zum Spezialisten für das hysterische Nichts geworden ist, muss natürlich progressiv sein, also immer weiter gehen. Rückwärts will sich heute niemand mehr wenden und schon gar nicht die Protagonisten von Twitter und Facebook.
Denn wer rückwärts geht, stolpert zwangsläufig und ständig über die eigenen Exkremente, bleibt an den Fehlern der Vergangenheit hängen und verhakt sich in den eigenen falschen Weichenstellungen.
Rückwärtsgehen bedeutet, sich unmöglich zu machen. Handke hat das einmal in einem anderen Zusammenhang als eine sich über den Tod hinaus schämende Kreatur bezeichnet. Für so viel geistigen Müll, den man in der Öffentlichkeit hinterlassen hat, kann die Scham nur grenzenlos sein.
Progressiv müssen also alle sein, die dieses unwürdige Spektakel ohne Geist und Verstand bedienen. Konservativismus kann man sich nur leisten, wenn man keine Angst hat, über die eigene Vergangenheit zu stolpern. Wer fliehen muss, flieht in die Zukunft.
Davon gibt es derzeit unendlich viele!
Natürlich könnte man anfangen, den ganzen Unsinn der letzten Jahrzehnte, der noch über Google abrufbar ist, zu löschen. Aber was bleibt dann von der eigenen, öffentlichen Person? Nichts!
Dann schon lieber zwanghaft nach vorne schauen und alle zurückschauenden und rücksichtsvollen Positionen als rückwärtsgewandt, rechts und Nazi diskreditieren. Das Progressive besteht in diesem Falle darin, dass man mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben will. Schon gar nichts mit der eigenen Vergangenheit.
Die seelische Deformierung besteht in einem Leben für den „öffentlichen Augenblick“. Es resultiert eine Gesellschaft von Spannern und Exhibitionisten. Eine permanente Love-Parade oder ein Christopher Street Day, je nach sexueller Orientierung.
Man muss das nicht als dekadent bezeichnen, aber armselig ist es schon.
Eine progressive Armseligkeit. Das Elend, nirgendwo zu sein und immer weiterzumüssen. Auf der Flucht in die Zukunft!
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.
Bild: ShutterstockText: Gast