Die Gier nach Ersatz- und Zivilreligionen Warum Angst, Hypochondrie und Infantilität angesagt sind

Ein Gastbeitrag von Josef Kraus

Norbert Bolz (*1953), Medien- und Kommunikationsforscher, bis zu seiner Pensionierung 2018 Professor an der TU Berlin, platziert regelmäßig publizistische Volltreffer. Siehe etwa seine Titel: „Die Konformisten des Andersseins“ (1999); „Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen“ (2008); „Diskurs über die Ungleichheit. Ein Anti-Rousseau“ (2009); „Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht“ (2010). Mehrere Jahre war Bolz zudem ein gleichermaßen eloquenter und mutiger Gast in Talkshows, bis man dort merkte, dass er unbestechlich hinter die Kulissen der Politik- und Medien-„Mache“ schaute und das auch zur Sprache brachte. Vor allem wenn sich Bolz dann auch hinstellt und sagt: „Journalisten sind Politiker, die sich als Journalisten ausgeben.“

Zum Schweigen hat man Bolz nicht gebracht. Nahezu täglich findet man von ihm Aphorismen, Essays und Vorträge: etwa in der NZZ, auf Youtube oder auf Twitter unter https://twitter.com/NorbertBolz. Das publizistisches und rhetorische Metier beherrscht Bolz exzellent, der fesselnd eine Stunde lang völlig frei reden kann. Das macht seine Schriften und Vorträge zu einem grimmigen Lese- bzw. Hörgenuss.

Übrigens kommen beim Geistes- und Sozialwissenschaftler Bolz auch die Wissenschaften von heute nicht gut weg. Denn es ließen sich, so Bolz über so manche seiner Kollegen, immer mehr Wissenschaftler dazu überreden, ihre Prognosen als Gewissheiten anzubieten. Hier fällt auch der Begriff der „Gefälligkeitsforschung“. Oder wenn Bolz in Sorge um den Weg, den Deutschland und der Westen geht, in dem oben genannten Buch aus dem Jahr 2008 schreibt: „Von Soziologen kann man nichts über Dekadenz erfahren, weil die Soziologie selbst die Dekadenz als Wissenschaft ist.“

Nun hat Bolz ein neues Buch herausgebracht. Es ist das höchst lesenswerte Bändchen „Avantgarde der Angst“. Bolz zerpflückt hier die neuen Apokalyptiker aus Politik, „Wissenschaft“, Publizistik und NGOs mit ihren Themen „Waldsterben“, „Pestizide“, „CO2“, „Klima“, „Erderwärmung“, „Gletscherschmelze“, „Fukushima“, „Diesel“, „Antibiotika“, „Artensterben“, „Corona“ und so weiter.

Wir können hier nur in Teilen wiedergeben, was Bolz in diesem kompakten Bändchen intellektuell ausbreitet. Fassen wir Wichtiges in Thesen zusammen.

1. „Die Deutschen bilden weltweit die Avantgarde der Angst. ‚German Angst‘ und der deutsche Größenwahn sind offenbar Komplementärphänomene.“ Die Deutschen sind eben mal großspurig, mal hasenfüßig. Im Moment sind sie wohl wieder mal beides: An einer Panik- und Ökodiktatur „Made in Germany“ soll die Welt genesen.

2. Infantilität ist angesagt. „Greta“ wird von dieser Welle getragen. Deutschland und der Westen werden zu Peter-Pan-Gesellschaften. Kindheit wird zur dominierenden Macht. Nicht Männlichkeit, sondern Kindlichkeit sei zur Signatur unserer Zeit geworden, schreibt Bolz an anderer Stelle. Siehe dazu auch das Buch von Alexander Kissler „Die infantile Gesellschaft“, das wir hier besprochen haben.

3. Angst und Hypochondrie sind angesagt, und zwar je besser es den Menschen materiell geht. Friedrich Nietzsche nennt diesen Typus Mensch den „Notsüchtigen“. Bolz spricht von einer „Angstindustrie“, ja einer „Angstreligion“ – beides befördert von Massenmedien, die damit eine frei vagabundierende Lust an (Selbst-)Aggression freisetzen. Mit anderen Worten: Es geht uns wohl zu gut. Das wiederum fördere Langeweile, und Langeweile wiederum tröste sich mit realen oder imaginierten Katastrophen. Wir sehnen schier die Angst vor der nächsten Angst herbei. Der Psychiater Bleuler hat das einmal „Phobophobie“ genannt.

4. Je mehr die Welt säkularisiert und solchermaßen entzaubert wurde, desto mehr entwickeln Menschen einen Absolutheitshunger, desto mehr gieren Menschen nach Autorisierung: nach Ersatz- und Zivilreligionen. Mittels permanentem „Greenwashing“ ist ein neuheidnischer Naturkult entstanden, mit dem Vater Gott verabschiedet wurde, um Mutter Natur anzubeten. Zugleich sind die neuen Ersatz-Religionen Schuld-Religionen. Denn wenn es keinen Gott mehr gibt, müssen wir alles, was geschieht, den Menschen zurechnen, schreibt Bolz. Siehe die These vom schier narzisstisch gepflegten anthropogenen Klimawandel!

Wir wollen nicht noch mehr vorwegnehmen. Bolz‘ Buch lohnt unbedingt die Lektüre. Bolz greift mit seinem aktuellen Buch zudem intellektuell einen roten Faden auf, den er mit seinem Buch 2008 „Das Wissen der Religion“ geknüpft hatte. Dort hatte er einleitend festgestellt, dass Religion nur durch Religion ersetzt werden könne, und sei es eben durch (diesseitige!) Ersatzreligionen, die sich als unbefragbar darstellen. Die Menschen wollen und brauchen es so in ihrer Angst, weil sie dann mit Hilfe einer Ersatzreligion ein Angebot der Kontingenzbewältigung bekommen, also ein Angebot des Umgangs mit Unzulänglichkeiten und Unwägbarkeiten des Lebens sowie mit dem Nicht-Berechenbaren.

Bolz prognostizierte übrigens damals, im Jahr 2008: Wenn die Kirche sich politisch öffnet, gehen nicht die Ungläubigen hinein, sondern Gläubige hinaus. Die Entwicklung der Zahl der Kirchenaustritte gerade im letzten Jahrzehnt gibt Bolz Recht. Aber das ist Gegenstand des genannten früheren Buches von 2008, zu dem man greifen sollte, wenn man durch die „Avantgarde der Angst“ quasi „durch“ ist.

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Josef Kraus (*1949), Oberstudiendirektor a.D., Dipl.-Psychologe, 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, 1991 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande (2009), Träger des Deutschen Sprachpreises 2018; Buchautor, Publizist; Buchtitel u.a. „Helikoptereltern“ (2013, auf der Spiegel-Bestsellerliste), „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017), „Sternstunden deutscher Sprache“ (2018; herausgegeben zusammen mit Walter Krämer), „50 Jahre Umerziehung – Die 68 und ihre Hinterlassenschaften“ (2018), „Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (2019, zusammen mit Richard Drexl)

 


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Bild: RegionalStock/Shutterstock
Text: Gast

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