Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung
Bereits am 31. Juli 2021 hatte Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann in einer Ansprache an die Bürger seines Bundeslandes erklärt: „So Manches wird unbequem für Sie werden, wenn Sie sich nicht impfen lassen.“ Impfen, so der Landesvater, sei „erste Bürgerpflicht“.
'Falschmeldung' bis zum 21. November
Drei Monate später, im November 2021, hatte die Debatte um die „Bürgerpflicht“ volle Fahrt aufgenommen. Am 14. November erklärte die erste Hochschule in Bayern, die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) 2G zur Pflicht. Drei Tage später (17.11.) galt 2G auch in der Gastronomie des Freistaats. Weitere zwei Tage später (19.11.) sprachen sich Bayerns Ministerpräsident Söder (CSU) und Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann (Die Grünen) für eine allgemeine Impfpflicht aus. Vier Tage später (21.11.) löschte die Bundesregierung ihr „Nein“ hierzu auf der offiziellen Webseite.
Bis dato hatte der Gedanke an eine flächendeckende Impfpflicht schlichtweg als „Falschmeldung“ gegolten. Weitere drei Tag später (24.11.) führte der Bund 3G am Arbeitsplatz ein. Zwei Tage später (26.11.) dann auch im Nahverkehr von NRW. Vier Tage später (30.11.) erklärte der zukünftige Kanzler Olaf Scholz (SPD), dass eine allgemeine Pflicht zur Corona-Impfung kommen wird. Ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren solle „zeitnah“ erfolgen, so Scholz im Interview mit dem ZDF heute journal noch am selben Abend.
Die Resilienz der Ungeimpften
Trotz der eindeutigen Ansagen aus der Politik, die den Ungeimpften seit dem Spätsommer ein „unbequemes“ Leben prophezeien, und dem zunehmenden sozialen Druck, der sich auch in pauschalen Diffamierungen wie „Impfgegner“ niederschlägt, scheint die Gruppe derer, die eine Impfung mit den neuen Vektor- oder mRMA-Impfstoffen ablehnen, allerdings nicht sonderlich geschmolzen zu sein. Die Resilienz der Ungeimpften ist offenbar deutlich stärker ausgeprägt, als es der Berliner Politik bei der Durchsetzung der Impfpflicht lieb sein kann.
Laut den Zahlen des RKI (siehe hier auch Anmerkung unten), haben sich seit Scholz’ ultimativer Ankündigung nur etwa 2,1 Millionen Personen erst-impfen lassen (Zeitraum 1./2. Dezember 2021 bis 30. Dezember 2021).
Nur 62.000 Erstimpfungen pro Tag
In dieser „Impfleistung“ stecken allerdings auch die Altersgruppen „12 bis 17 Jahre“ und „60 Jahre und älter“ drin. Während sich die Impfquote in der Altersgruppe über 60 mit einem Anstieg von 87,4 auf 88,2 Prozent nur noch unwesentlich erhöht hat, stieg sie im Segment der 12- bis 17-Jährigen deutlich an. Hier ging es im Zeitraum 1./2. Dezember 2021 bis 30. Dezember 2021 von 53,3 auf 59,7 Prozent hoch. Dieser Anstieg ist aber wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass die Impfstoffe für Jugendliche noch nicht so lange im Einsatz sind und dass der Sättigungsgrad in dieser Altersgruppe noch nicht erreicht ist.
Rechnet man nun diese beiden Altersgruppen heraus, kommt man in der wesentlichen Gruppe der arbeitenden Bevölkerung zwischen 18 und 59 Jahren nur noch auf etwa 1,7 Millionen Erstimpfungen in den vergangenen vier Wochen. Bis zum 30. Dezember waren in dieser Gruppe 22,5 Prozent oder rund 10,2 Millionen nicht geimpft, von denen anteilsmäßig rund 270.000 wahrscheinlich noch den Status von Genesenen haben.
Würde man nun annehmen, dass die Drohkulisse der Regierung weiterhin dieselbe „Überzeugungskraft“ wie im Dezember entfaltet und damit nur rund 62.000 der 18- bis 59-Jährigen pro Tag sich erst-impfen ließen, wäre die Gruppe der Ungeimpften bis zum 1. Februar 2022 lediglich auf knapp 8 Millionen Personen abgeschmolzen.
Kennt Berlin das Risiko für die Gesamtwirtschaft?
8 Millionen – das klingt auf den ersten Blick nicht viel. Sie repräsentieren allerdings in der Bevölkerungsgruppe der 18- bis 59-Jährigen, die maßgeblich für alle Arbeits- und Dienstleistungsprozesse in der Bundesrepublik verantwortlich sind, über 17 Prozent.
Die neue Bundesregierung muss sich also recht sicher sein, dass sich die bis Anfang Februar 2022 immer noch Ungeimpften auf der Zielgeraden zur allgemeinen Impfpflicht befinden, also sich bis zu ihrer Einführung laut Kanzler Scholz „Ende Februar, Anfang März“ 2022 den ersten „kleinen Piecks“ abholen. Tun sie es nicht, muss Berlin damit rechnen, dass sich die Impfpflicht auf die Arbeitsverhältnisse der Betroffenen auswirkt. Das wiederum könnte zu ernsten Verwerfungen in der Gesamtwirtschaft führen. Denn niemand kann 17, 10 oder auch nur 7 Prozent der arbeitenden Bevölkerung einfach so entlassen, freistellen oder suspendieren.
Konfrontation statt Dialog
Trotzdem setzt die neue Bundesregierung in der Impfpflicht offenbar weiter auf Konfrontation. So erklärte der frisch gewählte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 15. Dezember 2021 im Deutschen Bundestag:
„Wir werden es uns nicht gefallen lassen, dass eine winzige Minderheit von enthemmten Extremisten versucht, unserer gesamten Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen. (…) Die Bundesregierung ist die Regierung [der] überwältigenden Mehrheit (…) und sie ist ausdrücklich auch die Regierung derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die noch Zweifel haben oder vielleicht ganz einfach noch nicht dazu gekommen sind, sich impfen zu lassen.“
Nun, das wäre natürlich auch noch möglich: Die geringe Überzeugungsquote bei den Ungeimpften wäre dann nicht auf mangelnden Dialog oder fehlende Argumente zurückzuführen, sondern darauf, dass die bisher noch Ungeimpften wegen ihrer Weihnachtseinkäufe oder wegen mannigfaltigen Vorbereitungen für das Silvesterfest bisher „einfach noch nicht dazu gekommen sind, sich impfen zu lassen“. Das wäre dann allerdings eine ganz neue Spezies der bisher bekannten „Impfverweigerer“ und „Impfgegner“. Es wären Impftermingegner, Impfdatumweigerer oder Impfzeitraummuffel.
P. S.: Die Angaben des RKI schwanken leider zwischen den Wochenberichten, dem Impfmonitoring und dem Impfdashboard sowie in den Wochenberichten selbst. Zum Beispiel im Wochenbericht vom 02.12.2021: Dort heißt es in der Tabelle auf S. 18: 59.211.724 Erstimpfungen und im Text auf S. 17: 59.407.188 „mindestens einmal geimpft“. Darüber hinaus sind Impfungen mit dem Janssen-Vakzin in den Daten als „Zweitimpfung“ erfasst. Statista.com weist zusätzlich darauf hin, dass „viele Ärzte“ nicht alle Impfungen „hinterlegt“ hätten, wodurch die „reale Impfquote“ unterschätzt werde. Besonders hoch kann diese Unterschätzung allerdings nicht sein, denn das RKI gibt in seinem Wochenbericht vom 23. Dezember 2021 dazu auf Seite 20 an: Die „Mindestquote nach Meldedaten“ der „mindest einmal geimpften“ in der Gesamtbevölkerung liegt bei 73,6 Prozent und die „Quote nach Berücksichtigung der KV-Abrechnungsdaten“, also nach den Daten der Kassenärztlichen Vereinigungen, liegt bei 74,4 Prozent.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Text: Gast
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