Corona macht krank, Corona kann töten.
Corona ist schlimm, verändert die Gesellschaft und das Leben. Darüber berichten wir. Geschichten, die Corona schreibt. Geschichten, die es nicht in die Medien schaffen.
Die Zahl der Selbstmorde steigt, sagen Mitarbeiter der Rettungsstellen, die Zahl der traurigen Menschen nimmt zu, berichten Hilfsorganisationen. Die Zahlen haben keinen Namen und keine Seele.
Die Politik bietet keine Hoffnung, keine Perspektiven. Der Winter werde hart, sagt die Kanzlerin. Es ist nicht der Winter allein: Die Entscheidungen der Politik setzen Menschen zu und schaffen Leiden. Darüber schreiben wir, damit nicht vergessen wird, was Pandemiepolitik ist. Damit keiner sagen kann: „Das haben wir nicht gewusst!“
Wir schreiben auf: Johanna Wahlig (Politologin, Journalistin, Unternehmerin) und Frank Wahlig (Historiker und 30 Jahre ARD-Hauptstadtkorrespondent) recherchieren für reitschuster.de. Wer aus seinem beruflichen oder privaten Leben einen „Kollateralschaden“ melden möchte: Vertraulich und persönlich, per E-Mail an [email protected].
Walter
Von Johanna und Frank Wahlig
Eine Fahrt mit dem Zug von München in Richtung Augsburg. Zwei Freundinnen sind auf der Heimfahrt von einer Corona-Demo. Sie werden deshalb von einer Frau angesprochen. Sie stellt sich als Reiseverkehrsfrau vor. Als Mitarbeiterin eines Touristikunternehmens. Sie habe ihren Chef verloren, sagt sie. Es ist der 1. November 2020.
Die Reiseverkehrsfrau erzählt die Geschichte von Walter. Ein halbes Jahr sei das jetzt schon her.
Walter hat in 50 Jahren ein Reiseimperium in Nordrhein-Westfalen aufgebaut. Eine Kette mit 21 Reisebüros, die größte ihrer Art im Land. 180 Mitarbeiter arbeiteten für das Familienunternehmen, zu dem seit 1922 bereits eine Spedition, ein Busunternehmen und ein Fahrzeugservice gehören.
Als 30jähriger Jungunternehmer bildet Walter junge Leute für seine „Unternehmensfamilie“ aus, um sie für das „Abenteuer“ der Reisewelt und die Firma zu begeistern. Schon in den 80er Jahren beteiligt er seine „Mitarbeiterfamilie“ am Erfolg des Unternehmens. „Unternehmer des Jahres 2010“. Große Preisverleihung mit Honoratioren. Walter, seine Frau und „Mitarbeiterfamilie“ sind viel unterwegs. Sie schicken Fotos von Schiffstaufen und Hoteleröffnungen, bunte Reiseberichte aus aller Welt. „Reisen war sein Leben“, erzählt die Reiseverkehrsfrau im Zug. Das Unternehmen war sein Lebenswerk. Seine Mitarbeiter eine große Familie. Bis ins Jahr 2020: Bis 80 % wird der Umsatz in diesem Schicksalsjahr in Deutschland einbrechen, rechnet die Branche.
Reisewarnungen, Reisebeschränkungen, Beherbergungsverbote, Bustouren abgesagt: Mit dem Lockdown befürchtet Walter das Ende seines Lebenswerks. Er wird traurig und still. Am 12. Mai setzt Walter seinem Leben ein Ende.
„Er hat die Verantwortung für seine Mitarbeiter nicht mehr ertragen“, sagt die Reiseverkehrsfrau im Zug. „Die Ereignisse der letzten Zeit haben seine Kräfte überfordert“, schreibt die Familie. Walter wurde 75 Jahre alt.
Seine Familie kämpft um Walters Lebenswerk. Währenddessen geht der Lockdown in die nächste Runde.
PS: Wir haben uns in diesem Fall entschieden, über das Thema Suizid zu berichten – insbesondere, weil eine große gesellschaftliche und politische Relevanz vorhanden ist. Leider kann es passieren, dass depressiv veranlagte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 800-1110111oder 800 3344533.
Bild: Hebbel
Text: Johanna und Frank Wahlig