Die Behandlung russischer Patienten werde „aufgrund der schweren Völkerrechtsverletzung durch den offenbar geistig gestörten Autokraten … ab sofort grundsätzlich“ abgelehnt: „Ukrainische Patienten sind natürlich herzlich willkommen“, schrieb die Direktorin des Instituts für Humangenetik am Klinikum der Universität München (LMU) an die Chefin einer Firma, die Patienten aus dem Ausland an deutsche Ärzte vermittelt. Die entsprechende Mail kursiert inzwischen im Internet und sorgt für Ängste, vor allem bei Russen in Deutschland,
Die Ärztin hat sich mittlerweile entschuldigt, die Klinik korrigierte die Darstellung. Sie erklärte, es sei „kein offizielles Statement“. Die Ärztin habe „in einer sehr emotionalen Situation ihre persönliche Meinung mitgeteilt“. Das LMU Klinikum behandele weiterhin alle Patientinnen und Patienten unabhängig von Staatsangehörigkeit, Religion, kultureller oder geschlechtlicher Orientierung.
Was für eine Kollision von „Gutsprech“ und Realität. Mehrere Russen berichten, dass sie in Deutschland inzwischen angepöbelt werden. An der russischen Lomonossow-Schule in Berlin haben manche Eltern und Kinder vor den Schultoren Angst, überhaupt noch Russisch zu sprechen. Ich selbst wurde dieser Tage in Berlin schon schief angeschaut, als ich mit Freunden auf Russisch sprach. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Aber ein Unbehagen ist da. Die „Cancel Culture“ scheint reibungslos von der Bekämpfung von „politisch Unkorrekten“ auf Russen übergesprungen zu sein, der Hang zur Ausgrenzung lediglich sein Ziel gewechselt zu haben …
Die Universität von Mailand strich Dostojewski vom Lehrplan. Sein Vergehen: Er war Russe. Im Internet kursieren Bilder eines Supermarktes, der stolz ankündigt, keine Produkte mehr von seinem russischen Lieferanten in die Regale zu stellen („Wir werden diesen russischen Lieferanten nicht mehr unterstützen“). Aber die alte russische Ware wird noch zum halben Preis abverkauft, ohne sie ganz aus dem Regal zu nehmen – Geschäft ist Geschäft.
Ähnlich wie zuvor im Kampf gegen die „Impfgegner“ scheint geradezu ein Überbietungs-Wettbewerb in Gang gekommen zu sein: Bei dem sich viele in vorauseilendem Gehorsam regelrecht überschlagen darin, auf Linie zu sein, und vermeintliche Abweichler an den Pranger zu stellen. Und wenn das potenziell ein ganzes Volk ist.
Besondere Wendehalsigkeit legen reihenweise diejenigen an den Tag, die gestern noch den Schulterschluss mit Wladimir Putin suchten. Besonders anschaulich wird die ganze Doppelmoral und Heuchelei am Beispiel der Ausstellung „Diversity United“, die auf dem früheren Flughafen Tempelhof eröffnet wurde und aktuell in der Moskauer Tretjakow-Galerie gezeigt wird. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier legte jetzt (!) die Schirmherrschaft nieder. Dass er und der französische Staatschef Emmanuel Macron ausgerechnet gemeinsam mit Wladimir Putin Schirmherren dieser Ausstellung zu Freiheit, Demokratie und Vielfalt wurden, ist ein Treppenwitz der Geschichte.
Als jemand, der Putin seit mehr als 20 Jahren kritisiert, fühlt man sich wie in einem schlechten Film: Diejenigen, die einen vor einer Woche noch diskreditierten und lächerlich machten („völlig überzogene Kritik“), überholen einen nun – und nehmen gleich noch die einfachen Russen in Sippenhaft. Bis hin zur russischen Kultur.
So sehr ich ein geschlossenes Auftreten gegen Wladimir Putin und dessen Aggression schon fordere – und nicht erst seit dem 24. Februar –, so sehr beunruhigt mich dieser neue Hang zur Hexenjagd. Einfache Russen sind für die Politik ihrer Regierung nicht verantwortlich. In den russischen Städten gingen Tausende Menschen mutig auf die Straße, um gegen den Krieg zu demonstrieren, der in Russland nicht mal als solcher bezeichnet werden darf. Sie riskierten ihre Gesundheit und ihre Freiheit.
Ich vermisse die lauten Appelle derjenigen, die sonst immer gegen jede (politisch nicht genehme) Form von Diskriminierung und Rassismus protestieren. Jetzt, wo klare Worte wirklich nötig wären und dafür mehr als der übliche Gratismut erforderlich, schweigen sie.
Aktuell handelt es sich bei den Anfeindungen noch um Einzelfälle. Aber man sollte den Anfängen wehren. Und differenzieren. Dass ein großer Profiteur und Unterstützer des Putin-Regimes, der auch schon mal zu Propaganda-Auftritten nach Kriegseinsätzen anreist und Multimillionär ist, mit anderen Maßstäben anzufassen ist als Iwan Normal-Russe, sollte eigentlich auf der Hand liegen. Tut es aber leider nicht. Der Fall Gergijew müsste wegen seiner engen Verbindungen zum System eigentlich über die Sanktionsliste gehandhabt werden. Stattdessen läuft er über Cancel-Kultur.
Die Situation ist eindeutig: Putins Überfall auf die Ukraine, der so weit geht, dass er selbst die Eroberung von Atomkraftwerken befiehlt und damit eine nukleare Katastrophe in Kauf nimmt, ist ein barbarischer Akt, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Auch nicht durch Unrecht, das andere begangen haben. Es ist eine humanitäre Pflicht, alles zu tun, um diesen Krieg zu beenden und Putin zu stoppen. Prominente, die Putin lautstark unterstützen, die von seinem Regime profitieren, sind deshalb ein legitimes Ziel von Sanktionen. Denn nur so kann man dazu beitragen, dass andere Unterstützer von ihm ins Nachdenken geraten. Hier tatenlos zu bleiben, wäre faktisch unterlassene Hilfeleistung.
Nicht Ziel von Strafen oder Anfeindungen dürfen dagegen einfache Russen sein, ob normale Bürger oder Künstler, die keine Nutznießer des Systems Putin sind und sich nicht mit ihm gemein gemacht haben. Auf beiden Seiten der aktuellen ideologischen Fronten verkennen diesen Unterschied leider viele. Glaubte man, die Spaltung in Sachen Corona sei bereits der traurige Höhepunkt einer tragischen Entwicklung, so wird man dieser Tage eines Besseren belehrt. Die neuen Fronten gehen mitten durch die alten. Unsere ohnehin schon bis zum Exzess gespaltene Gesellschaft droht endgültig zu zerreißen.
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