Michail Gorbatschow ist tot. Der Wegbereiter der deutschen Einheit und Sargnagel der Sowjetunion starb in Moskau im Alter von 91 Jahren. Ich hatte die Ehre, sein Übersetzer zu sein. Vor seiner Lebensleistung hatte ich immer höchsten Respekt. Auch wenn ich immer wieder mit ihm haderte. Anders als viele andere Politiker hatte man bei Gorbatschow nie den Eindruck, dass ihn das Schicksal der einfachen Menschen kalt ließ. Gorbatschow besaß eine Herzenswärme, und er war charismatisch. Auch, wenn er wie ein Rohrspatz schimpfte, die russischen Mutterflüche inklusive.
Man könnte sagen, es gab zwei Gorbatschows. Den getreuen Ziehsohn von KGB-Chef Andropow, der die politische Verantwortung für tödliche Militäreinsätze gegen friedliche Demonstranten in Tiflis und in Vilnius trug. Aber auch den Gorbatschow, der sich, als es hart auf hart kam, in Moskau wie in Ost-Berlin, dann doch entschied, keine Gewalt anzuwenden. Ein riesiges Paradoxon ist, dass ihm ausgerechnet sein Nachfolger und Erzrivale Boris Jelzin diesen Verzicht auf Gewalt im Stillen ewig vorwarf. In einem vertraulichen Sauna-Gespräch gab Jelzin später zu, er hätte die Sowjetunion an Gorbatschows Stelle nicht einfach so auseinander fallen lassen, sondern Gewalt angewendet, wie später einer der Sauna-Brüder berichtete.
Gorbatschow war seit dem Ende der Sowjetunion einer der unbeliebtesten Politiker in Russland. Ja, der verhasstesten. Für die Mehrheit der Russen war er nicht der Befreier vom kommunistischen Joch, sondern der Landesverräter, der die Sowjetunion zugrunde richtete. Dass er nur Testamentsvollstrecker war, verdrängen viele Russen. Jelzin hasste Gorbatschow und demütigte ihn als Staatschef, wo er konnte. Putin dagegen behandelte Gorbatschow neben der Peitsche, die er beibehielt, auch mit Zuckerbrot. Letztlich zähmte er ihn. Kritisierte Gorbatschow in seinem vorletzten Buch noch die Zustände in Putins Russland, so las sich sein letztes Buch, als sei es zur Hälfte aus dem Nachlass von Andropow und zur anderen Hälfte aus Putins Redenschreiber-Abteilung.
Gorbatschow nimmt viele Geheimnisse mit ins Grab. Etwa das der sowjetischen Langzeitstrategie. Zu der gehörte laut KGB-Überläufern, den Westen zu unterwandern, und etwa mit der Zerstörung und Diffamierung traditioneller Werte sowie einer übertriebenen Umweltpolitik das kapitalistische System doch noch in ein sozialistisches zu wandeln. Oder eine „atomwaffenfreie“ Welt durchzusetzen. Eine wunderschöne Illusion – die leider unrealistisch, ja sogar gefährlich ist, weil im Endeffekt eben doch jemand im Geheimen Atomwaffen behalten würde. Gorbatschows letztes Buch liest sich in vielem wie eine Fortsetzung der sowjetischen Langzeitstrategie.
Ich muss ganz ehrlich gestehen: Immer wieder fragte ich mich, ob er sich nicht in der Tradition von KGB-Chef Andropow sah. Und ihm deshalb vieles an Putins Politik zusagte. Einmal fragte ich mich selbst nach einem heftigen Wortgefecht mit ihm ketzerisch: „Ist das, was Putin macht, vielleicht das, was er selbst machen wollte, aber nicht schaffte?“ Eine Antwort auf diese Frage habe ich bis heute nicht finden können. Dazu war Gorbatschow zu ambivalent. Gutwillig könnte man das auch „diplomatisch“ nennen. Oder, wie es ein ehemaliger Mitstreiter, der ihn später sehr negativ sah, böse ausdrückte: „unklar im Kopf“. Auch Gorbatschows Rolle beim Putsch 1991 hinterließ bei mir nach vielen Gesprächen mit Augenzeugen und Beteiligten diverse offene Fragen.
Mit ins Grab nimmt Gorbatschow auch das Wissen darüber, ob es den sagenumwobenen Portugalow-Plan tatsächlich gab. Dessen Motto war laut Insidern: Wenn wir die Wiedervereinigung schon nicht verhindern können, dann sorgen wir dafür, die richtigen Leute an den Schalthebeln zu verankern, um die Bundesrepublik zu DDRisieren. Sieht man sich die Entwicklung an, insbesondere die Rolle von Angela Merkel, die eng mit Moskau vernetzt war bzw. ist, wirkt der „Portugalow-Plan“ durchaus nicht abwegig.
Michail Gorbatschow war in den letzten Jahren seines Lebens sehr krank und sehr einsam. Bis zuletzt fehlte ihm seine Frau Raissa, die 1999 an Krebs starb. Als US-Präsident George W. Bush 2001 ins Amt kam, witterte Gorbatschow noch einmal eine große Stunde. Von der ich jetzt, da er tot ist, berichten kann. Der neue Herr im Weißen Haus ignorierte Putin; so entstand im Umfeld des Kreml die Idee, Gorbatschows Freundschaft zu Bush Senior zur Vermittlung zu nutzen. Im Gegenzug sollte „Gorbi“ wieder irgendeine offizielle Funktion im Kreml bekommen – nachrangig, aber mit Dienstwagen, Dienstzimmer und Dienstausweis. Gorbatschow reiste in die USA, überzeugte Bush Senior, und Bush Junior traf sich mit Putin, und machte ihm sogar ein Kompliment.
Als Gorbatschow daraufhin im Kreml um die Einhaltung des Versprechens bat, brach Putin sein Wort. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, der Mohr konnte gehen. Die Gefahr, dem so unbeliebten Gorbatschow öffentlich zu nahe zu kommen, wog für Putin schwerer als sein Versprechen. Gorbatschow reagierte, wie es seine Art war: Eine ganze, lange Liftfahrt durch belegte er den Präsidenten mit russischen Mutterflüchen – wie mir einer, der dabei war und federführend an dem gescheiterten „Deal“ beteiligt, danach berichtete.
Möge er in Frieden ruhen, endlich wieder bei seiner geliebten Raissa sein, und mögen die Menschen seiner freundlich gedenken!
Text: br