1945: Vom Nationalsozialismus befreit und den linken Faschismus bekommen
 Doppelte Diktaturerfahrungen und deren Ende mit dem „2 plus 4-Vertrag“

Ein Gastbeitrag von Gunter Weißgerber. Weißgerber war Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90, Mitbegründer der Ost-SPD, Mitglied der freigewählten Volkskammer 1990, Mitglied des Deutschen Bundestages 1990-2009.

Am 7. Mai 1945 um 02:41 Uhr unterschrieb Generaloberst Jodl im Hauptquartier der Alliiertenexpeditionsstreitkräfte in Reims die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands. Erstmals verkündet wurde diese Kapitulation vom Reichssender Flensburg am gleichen Tage um 12:45 Uhr. Inkraftgetreten für alle Fronten ist sie am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr.

Wiederholt wurde diese Prozedur aus protokollarischen Gründen am 09. Mai 1945 um 00:16 Uhr in Berlin-Karlshorst. Erst dann wurde diese Kapitulation auch im Bereich der Sowjetunion bekannt gegeben. Die bedingungslose Kapitulation bedeutete nicht nur die verdiente deutsche Niederlage, sie inkludierte die gerechte Schmach, einen Friedensvertrag zwischen den Kriegsgegnern auf gleicher Höhe würde es nicht geben.

Die Sieger diktierten die Bedingungen, der Verlierer konnte sich glücklich schätzen, nicht völlig unterzugehen, so wie er es seinen Gegnern de-zivilisatorisch in – für die Neuzeit beispielloser Weise – selbst zudachte.

In diesem Sinne endete der zweite Weltkrieg in Europa erst mit dem „2 plus 4-Vertrag“ vom 12. September 1990, der an Stelle friedensvertraglicher Regelungen die innere und äußere Souveränität Deutschlands abschließend regelte. Das war Wille der Weltkriegssieger, die damit 1990 unter Deutschlands bedingungsloser Kapitulation von 1945 ihren Schlusspunkt setzten.

Das am 3. Oktober 1990 wiedervereinigte Deutschland konnte froh sein, auf diese glückliche Weise aus der Kapitulation von 1945 herausgekommen zu sein. Ein Friedensvertrag mit allen weit über einhundert ehemaligen Kriegsgegnern hätte Deutschland ein weiteres Mal nach 1945 in den wirtschaftlichen Abgrund gestürzt. So ein Friedensvertrag wäre auch von der nichtdesolaten vor-Merkel-Bundesrepublik nicht zu schultern gewesen.

Einfache und doppelte Diktaturerfahrungen


Unzweifelhaft steht dennoch fest, die Welt wurde 1945 vom Nationalsozialismus, vom NS-Vernichtungskrieg und vom weiteren industriellen Massenmorden in deutscher Verantwortung befreit.

Die Beurteilung, ob 8. oder 9. Mai 1945 Tage der Befreiung waren, hängt mit den höchst unterschiedlichen Entwicklungen danach zusammen. Während die Westalliierten in ihren Zonen den nationalsozialistischen Führer- und Einparteienstaat durch eine parlamentarische Demokratie mit freien Wahlen, Gewaltenteilung, unabhängiger Justiz und unabhängigen Medien ersetzten, installierte die Sowjetunion an Stelle des nationalsozialistischen Führerstaates ihren kommunistischen faktischen Einparteien- und Politbürostaat als Diktatur des Proletariats unter Ausschluss von freien Wahlen, von demokratischer Willensbildung und Teilhabe, von unabhängiger Justiz und von unabhängigen Medien.

Somit war die Befreiung janusköpfig. Die Mittelwesteuropäer bekamen Freiheit und die Chance auf Demokratie, die Mittelosteuropäer erfuhren, was Kommunismus ist: Unfreiheit, Antidemokratie, Antipluralismus, Lagerhaltung. Eine Diktatur löste eine andere ab. Staffellauf des Widerwärtigen.

Erst ganze 44 Jahre später war es der Russe Gorbatschow, der durch Systemschwäche und NATO-Doppelbeschluß sehr verspätet zur Erkenntnis gelangte, nur eine reformierte, freie und demokratische Sowjetunion könnte das einundzwanzigste Jahrhundert erreichen. Dieser Erkenntnis geschuldet, gewährte er Ostdeutschen, Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Rumänen, Bulgaren, Esten, Litauern und Letten ihren Weg in die Freiheit und in Bündnisse, die ihnen ihre Existenz garantierten. Es war ein langer Weg von der „Breschnew-Doktrin“ 1968 zur „Sinatra-Doktrin“ 1988. An dieser Stelle sei angemerkt, im Baltikum ließ der Freiheits-Öffner Gorbatschow noch probeweise schießen. Der „Blutsonntag“ von Vilnius am 13. Januar 1991 bleibt unvergessen.

Wobei die historische Abfolge entscheidendes Kriterium bleibt: Ohne die NS-Machtergreifung am 30. Januar 1933 und das „Dritte Reich“ hätte es in Deutschland weder NS-Zuchthäuser und -lager gegeben, keine NS-Rassengesetze, keinen „Anschluss“ Österreichs, kein „Münchner Abkommen“, keinen „Hitler-Stalin-Pakt“, keine gemeinsame Siegesparade von Wehrmacht und Roter Armee am 22. September 1939 in Brest-Litowsk, keinen „Grenz- und Freundschaftsvertrag“ Drittes Reich-Sowjetunion, keinen zweiten Weltkrieg in deutscher Verantwortung, keinen Holocaust, keine deutsche Niederlage, keine deutsche Teilung bis 1989, keinen Verlust des alten Ostdeutschlands. Unendlich viele Menschen wären durch deutsche Hand und in deutscher Verantwortung nicht verfolgt, verhungert, ermordet und vergast worden. Unvorstellbare materielle Schäden gehören zudem in diese Rechnung.

Ob die Sowjetunion sich damals allein die baltischen Staaten und Ostpolen einverleibt und die Katyn-Mordorgie durchgezogen hätte, sei dahingestellt. Obwohl: Den Winterkrieg gegen Finnland führte sie ohne deutsche Mitgestaltung und Lager samt unendlich vielen Morden, die die Spuren der Kommunisten Lenins und Stalins seit 1917 kennzeichneten. Was Putin 2022 in der Ukraine auf stalinsche Weise aufführt, ähnelt sehr stark dem deutschen Vernichtungskrieg im Osten.

Was dem Bild des „Befreiers“ Stalin zusätzlich schwer abträglich ist, war sein Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen, die die NS-Lager-Hölle unter unmenschlichsten Bedingungen überlebten. Sie wurden wegen ihres Überlebens ausnahmslos der Kollaboration mit den NS-Schergen verdächtigt und zum großen Teil im Gulag der Vergessenheit anheimfallen gelassen. Für jene war er nicht einmal kurzzeitig ein Befreier. Sehen wir die heutigen Bilder in der Ukraine mit den gefallenen russischen Soldaten, um die sich die eigene Armee wenig kümmert, dann sehen wir, die russische Armee hat sich seit Stalin nicht geändert. Der Muschik gilt nichts und wem der eigene Muschik nichts gilt, dem gelten andere Bevölkerungen erst recht nichts.

Als Sachse wünschte ich mir oft, Roosevelt und Eisenhower hätten das Wort von Jalta nicht gehalten und wären 1945 bis Berlin gezogen und hätten Thüringen und Obersachsen nicht gegen Westberlin eingetauscht. Ein Leben in Freiheit und Demokratie von Geburt an wäre für mich selbstverständlich gewesen und das Experiment Sozialismus hätte ich aus sicherer Ferne beobachten können.

Nur teilweise Befreiung

Die systemisch garantierte Befreiung aus diktatorischer Unfreiheit war tatsächlich nur den West- und Mitteleuropäern vergönnt. Die das leider mal nicht im Ansatz zu schätzen wissen. Im Gegensatz dazu bekamen die Mittelosteuropäer eine zweite Lektion aufgebrummt und das für mehr als vier lange Jahrzehnte. Was ihnen heute nichts nützt, ihre doppelten Erfahrungen, aus rechter und linker Diktatur schwer gewonnen, gelten im verwöhnten großen transformationssüchtigen und der Grundrechenarten entwöhnten Mittelwesteuropa nichts. Sie werden als rückschrittlich, illiberal, fortschrittsfeindlich beschimpft, bei gleichzeitigem Anpirschen an den FSB-Staat Russland.

Hätten die Brüsseler und Berliner Warmduscher auf ihre mittelosteuropäischen Nachbarn gehört und sich nicht zu Putin ins Nest gesetzt, Russland würde heute weder in Georgien noch in der Ukraine Krieg führen. Und das Allerschönste für die scheinheiligen Peacemaker Schröder, Steinmeier, Merkel, Schwesig und Co., die wären heute nicht mal unsterblich Blamierte. Das Allerwichtigste aber wäre, sehr viele Menschen würden noch leben, die alle durch Putins Russland ums Leben kamen.

Die Europäische Union wird nicht durch die Visegradstaaten gefährdet, im Gegenteil! Jetzt sind es vor allem Polen, die Balten, die Tschechen, die Slowaken und hauptsächlich die Ukrainer, die das satte Europa vor dem an der eigenen Brust genährten Zerstörer und damit vor sich selbst schützen.

Die Mittelosteuropäer und die Ukrainer sind es, die den zwiespältigen Tag der „Befreiung“ von 1945 über acht Jahrzahnte später endgültig zu einem echten Tag der Befreiung machen könnten.

Putins Tag der Befreiung 9. Mai 2022


Am 9. Mai will Wladimir Putin eine Siegesparade in Moskau abhalten. Weder Kosten noch Mühen, noch zehntausende oder hunderttausende Tode scheut er für dieses Ziel. Alles scheint eingepreist. Die Ukraine mit ihrem Präsidenten, der ukrainischer Jude ist, soll auf stalinsche Art entnazifiziert werden. Nazi ist dabei jeder, der sich als Ukrainer fühlt – unabhängig der Sprache. Ukrainisch sprechende Ukrainer lässt Putin genauso zusammenschießen wie Russisch sprechende Ukrainer.

Was zu Stalins Zeiten noch erfolgreich war, nämlich die Rettung der Sowjetunion mit alliierter Hilfe, das funktioniert 2022 nicht mehr. Achtzig Jahre später ist Moskau der faschistische Angreifer und die Westalliierten unterstützen erneut die zur Vernichtung Freigegebenen – nun die freie Ukraine.

Putin müßte sich eigentlich einen Plan-B für seine Rede am 9. Mai in Moskau zurechtlegen. Sollte die Ukraine den Aggressor zurückwerfen können, würde es nichts mit großem Sieges-Getöse. Vielleicht büßt er sogar seine Schwarzmeerflotte und den Hafen von Sewastopol ein? In dem Fall wäre eine sehr lange Gedenkminute statt Jubel die bessere Lösung für das geplante auf Strömen von Blut basierende Spektakel.

Kommunismus ohne Marxismus-Leninismus ist Faschismus. Untote leben länger


Der lange Zerfallsprozeß der Sowjetunion seit 1991 neigt sich dem Ende zu. Standen am Anfang dieses Prozesses die staatliche Auflösung dieses großrussischen Reiches mitsamt dem Entledigen des quasireligiösen Überbaus „Marxismus-Leninismus/Stalinismus“ und die Hoffnung auf eine Demokratisierung Russlands, so bleibt drei Jahrzehnte später die bittere Erkenntnis, den ungleichen Wettbewerb „Demokratisierung versus Faschisierung Russlands“ gewann der der kommunistischen Hülle entkleidete stinknormale Faschismus russischer Prägung unter Führung der KGB-Nachfolger.

Unterhalten die meisten Staaten Geheimdienste so ist es im Fall Russlands umgekehrt. Die Geheimdienste FSB und SWR unterhalten ihren eigenen Riesenstaat ohne den Anspruch auf zivile Vorstellungen hinsichtlich Freiheit, Gewaltenteilung, checks and balances. Der russische Faschismus steht auf sehr festen Fundamenten. Befreiung sieht anders aus.

Gorbatschow wollte Geburtshelfer einer demokratischen Sowjetunion sein, Jelzin löste den gordischen Knoten auf GUS-Art und Putin ist der Totengräber der Sowjetunion. Was kommt danach? Russland soll und wird es immer geben! Hoffentlich ein freies, demokratisches. Doch das müssen die Russen und die in Russland lebenden Völker selbst entscheiden. Einfluss von außen erreicht bekanntlich das Gegenteil.

Nationalsozialistische Diktatur ohne die quasi-Religion des Nationalsozialismus ist übrigens auch nur stinknormaler Faschismus. Grüße vom Hufeisen.

Ukraine und unsere Zukunft


Was wird aus der Ukraine im Falle eines Erfolgs? Ich hoffe, die Ukraine wird ein emanzipierter souveräner und sehr starker Staat, der seine Minderheiten schützt und Mitglied der Europäischen Union wird. Eine Ukraine, die von starken Garantiemächten tatsächlich in ihrem Bestand geschützt wird, muss dagegen nicht Mitglied der NATO sein.

Eine modern bewaffnete neutrale Ukraine, die sich auf Staaten stützt, die selbst Mitglied der NATO sind, würde ein defensives Bollwerk von Freiheit und Demokratie zwischen dem NATO-Gebiet und Russland sein. Zusammen mit den baltischen und Visegradstaaten würde diese Ukraine der Europäischen Union einen demokratischen Modernisierungsschub auf der Grundlage nationalstaatlicher Souveränität geben können. Die EU braucht diesen Vitaminstoß. Die doppelte Diktaturerfahrung würde die EU wetterfester machen.

Israel


Keine Betrachtung des Kriegsendes 1945 ohne den Blick auf die Juden aller Nationen und insbesondere auf die einzige Demokratie im Nahen Osten. Wie sagte es Hendryk M. Broder sinngemäß: Wenn Israel einen Krieg verliert, gibt es Israel und seine Bevölkerung nicht mehr. Verlieren die Araber einen Krieg gegen Israel, existieren sie weiterhin und beginnen vielleicht bald schon den nächsten.

Würde der Westen den Untergang Israels zulassen, wäre das sein entscheidender Schritt zum eigenen Untergang. Davon bin ich fest überzeugt.

Der Frieden muss bewaffnet sein!


Wladimir Putin schreibt uns das gerade eindrücklich ins Stammbuch. Indirekt geben das selbst seine Sympathisanten zu. Deren Warnung, Putin nicht „herauszufordern“, wer fordert eigentlich wen heraus, ist klar Ausdruck von Angst vor Putin. Weil ihm anders als der NATO tatsächlich der erste Atomknopfdrücker zuzutrauen ist. Putins Anhänger in der freien Welt sind Stockholmsyndrom-Träger. Seine vielen Anhänger zu Hause können es meist nicht besser wissen.

Bleiben zwei grundsätzliche Fragen:


  1. Wer überfiel wen 2014 bzw. 2022 in der Region Ukraine/Russland?
  2. 
Warum wollen viele Staaten in die NATO und kein einziger unter Putins „Schutz“?

Die Antworten auf diese Fragen sind es, die mich sicher machen.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de. Dieser Beitrag ist zunächst auf www.weissgerber-freiheit.de erschienen.

Bild: Shutterstok
Text: Gast

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