Viele Monate lang hat Wladimir Putin die Entscheidung über eine Mobilisierung hinausgezögert. Mit gutem Grund. Die Russen sind alles andere als kriegsbegeistert. Im Gegenteil. Dass eine Mehrheit bislang den Krieg gegen die Ukraine zumindest toleriert, liegt nicht nur an der nationalistischen Dauerberieselung im Fernsehen. Es ist vor allem auch dem Umstand geschuldet, dass der Krieg die großen Zentren im europäischen Teil Russlands faktisch kaum erreicht hat. Es sind zum überwiegenden Teil junge Männer aus der Provinz, vor allem aus dem Kaukasus und dem asiatischen Teil Russlands, die an der Front verheizt werden. Im Internet gibt es zahlreiche Memes, die diesen Fakt aufspießen – etwa Bilder mit lauter Soldaten mit asiatischen Augen- und Gesichtszügen und dem Begleittext: „Das soll die russische Armee sein?“
In den großen europäischen Ballungszentren Russlands, allen voran Moskau und Sankt Petersburg, findet der Krieg bisher im wesentlichen nur im Fernsehen statt. Nur wenige Mütter mussten hier bislang Angst um ihre Söhne haben, nur wenige Familien um Verwandten bangen.
Doch aus der abgelegenen Provinz allein lässt sich der Personalmangel der russischen Armee nicht mehr kompensieren. Die für Putin verheerenden Niederlagen im Gebiet Charkiw haben das gerade sehr deutlich gemacht. Für den Kreml-Chef, zu dessen Maximen es gehört, nie Schwäche zu zeigen, war das eine besonders schmerzhafte Schmach.
Weit reichender Schritt
Und so entschied er sich nun zu dem riskanten Schritt, den er bisher zu vermeiden suchte: der Mobilisierung. Denn faktisch ist sie eine, auch wenn sie weichspülend als „Teil-Mobilisierung“ bezeichnet wird. Jeder Russe, der gedient hat und im kampffähigen Alter ist, muss nun damit rechnen, eingezogen zu werden.
In den sozialen Medien überschlagen sich seit dem Morgen die Nachrichten, dass Männer das Land verlassen. Auch in meinen Freundeskreis sind mir solche Fälle bekannt. Ich versuche gerade, für einen mir sehr nahestehenden jungen Mann eine Fluchtmöglichkeit zu schaffen.
Die meisten meiner russischen Freunde und Bekannten waren von Anfang an gegen den Krieg. Aber von denen, die gleichgültig waren, sind jetzt plötzliche und massive Anzeichen für einen Stimmungsumschwung zu spüren. Wenn plötzlich der eigene Sohn, Enkel, Bruder, Neffe, Cousin oder Schwager Gefahr läuft, in diesen Krieg ziehen zu müssen, verschiebt sich der Blickwinkel.
Für den Kreml war es bereits ein starker Schlag, dass die legendäre Pop-Diva Alla Pugatschowa – schon unter Leonid Breschnew ein Pop-Star – sich plötzlich ganz offen und heftig gegen den Krieg ausgesprochen hat. Zuzuschreiben hat sich das der Kreml selbst: Pugatschowa hatte offen gedroht, sie werde den Mund aufmachen, wenn die Behörden ihren Mann attackierten. Der wurde nun zum „ausländischen Agenten“ erklärt – und Pugatschowa ließ die Bombe platzen. Ein fatales Eigentor für den Kreml.
Erste Proteste
Auch die Mobilisierung könnte ein solches werden und die Stimmung kippen lassen. Obwohl langjährige Haftstrafen drohen, gingen am Mittwoch bereits Menschen auf die Straße.
Putins Taktik scheint klar: Nach der für ihn schmachvollen Niederlage will er nun schnellstens die besetzen Gebiete über Pseudo-Referenden in sein Land eingliedern und dann unter das atomare Schutzschild Russlands stellen. Ganz offen droht er erneut mit Atomwaffen. Diesmal für den Fall, dass die Ukraine die annektierten Gebiete befreien will. Putin fügt hinzu: „Das ist kein Bluff!“
Wenn man sich allerdings lange mit Putin beschäftig hat, sieht man, dass er ein exzellenter (Polit-)Poker-Spieler ist. Ohne ebenbürtigen Widerpart im Westen (bis auf Trump). Putin ist ein Meister im Bluffen. Und alles spricht dafür, dass er dies auch diesmal tut.