Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà:
In der Fernsehwerbung sehen Neuwagen-Käufern glücklicher aus. Statt mit meinem neuen Stolz auf vier Rädern die Straßen zu erobern, musste ich meinen „Isch“, kaum hatte ich das Bargeld für ihn auf den Tisch geblättert, erst einmal in die Werkstatt bringen. Genauer gesagt in eine alte Garage. „Wenn Sie so losgefahren wären, hätte es die Hinterachse nicht lange ausgehalten, die Schrauben waren völlig lose, Öl fehlte, das übliche“, krächzte der Mechaniker im ölverschmierten Overall, während sich an den intimen Orten im Unterteil meines „Ischs“ zu schaffen machte. Vier Stunden brauchte er und sicher mehr als 100 Flüche, bevor er meinen Neuwagen straßentauglich machte.
Dabei hatte ich beim Kauf meines „Isch“ – ein Abkömmling des berüchtigten Moskwitschs – Anfang der wilden 90er Jahre noch Glück gehabt: War das Gefährt doch in der Lage, das Fabrikgelände aus eigener Kraft und Antrieb zu verlassen – anders als der „Eras“, den mein Freund Valerij einst in Jerewan kaufte und den er als hoffnungsfroher Erstbesitzer nur per Abschleppseil von der Fabrik abholen konnte. Es sind Geschichten wie diese, die selbst sture Patrioten wie meinen Fotografen Igor bei seinen Kaufentscheidungen zum Vaterlandsverräter machen: „Ich kaufe nie etwas, was durch die Hand eines russischen Arbeiters gegangen ist“.
Tatsächlich hört die Liebe zu Russland bei der Mehrzahl seiner Töchter, Söhne und Gäste da auf, wo es um die Früchte der heimischen Arbeitsmoral geht. Legendär ist der nicht ganz jugendfreie Witz, wie eine Moskauer Familie ihren ausländischen Gast in einem fort mit Fragen löchert, wie ihm die Häuser gefallen, die Autos, die Straßen, die Geschäfte. Der Besucher aus der Ferne antwortet in einem fort, am besten gefielen ihm die Kinder. Erst kurz vor der Abreise erklärt der Besucher dann seine Vorliebe: „Alles, was Ihr Russen mit den Händen macht, gelingt Euch nicht sonderlich.“
Talent-Schlupflöcher im Privaten
Soziologen erklären den Schlendrian mit dem Erbe des Kommunismus: 70 Jahre lang habe der Staat die Menschen de facto für gute Leistung bestraft – und so das Arbeitsethos der Russen zugrunde gerichtet. Ihre vielseitigen Talente entfalteten die Menschen notgedrungen vor allem im Privaten – wovon schmucke Datschen, gepflegte Gärten und topmodisch genähte Kleider zeugen.
Der Russen Trumpf im Arbeitsleben ist die Anpassungsfähigkeit. So erlebte ich mit eigenen Augen, wie die gesamte Belegschaft eines Großunternehmens fleißig bis 22 Uhr arbeitete – oder sagen wir vorsichtiger: an den Computern saß – weil der Generaldirektor in seinem Büro Überstunden machte. Und wie die gleichen emsigen Mitarbeiter am nächsten Vormittag um 11 Uhr in den Feierabend flüchteten, als hätten die Ferien begonnen, weil ihr Generaldirektor seinen Arbeitstag vorzeitig abgebrochen hatte.
Auch Teamarbeit wird groß geschrieben. Ein beeindruckendes Spektakel ist es, wenn alle Jahre wieder vor meiner Wohnung die Parkplatz-Markierungen neu gestrichen werden. Sechs Meister sind an den zwei Dutzend Stellplätzen zwei Tage lang am Werk. Wobei ich trotz intensiver Beobachtung noch nie Augenzeuge wurde, dass mehr als einer der sechs auch tatsächlich Hand anlegte und markierte. Fünf schienen ausschließlich als Berater, Aufseher oder Aufheiterer im Einsatz – und dabei so erfolgreich, dass die meiste Zeit alle sechs in trauter Eintracht auf dem Bordstein saßen, rauchten und diskutierten.
Ein weiteres heiliges Prinzip scheint die bloße Präsenz zu sein – frei nach dem Motto: „Ich werde gesehen, also arbeite ich“. So verhält es sich in jedem Fall mit Putzdiensten. In keinem Land der Welt habe ich auf Flughäfen, Bahnhöfen und öffentlichen Gebäuden so viele „Reinigungskräfte“ im Einsatz gesehen wie in Russland. Plagt einen fernab von Zuhause ein menschliches Bedürfnis, muss man zu fünfzig Prozent davon ausgehen, dass das rettenden Örtchen gerade für „Putzarbeiten“ geschlossen ist. Merkwürdig nur, dass die Anzahl der Reinigungskräfte und ihr Effekt oft umgekehrt proportional zu sein scheinen.
Tote Leitungen
Auch das Motto der drei Musketiere hat in Moskau eine neue Heimat gefunden – zumindest ein Teil davon: Motto „Einer für alle“. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich von den zwei Diensthabenden, die eigentlich in unserem Bürohaus ständig Wache schieben sollten, beide gleichzeitig an Ort und Stelle erlebt habe. Noch tiefer zurück in meiner Vergangenheit liegt der Tag, an dem ich zum letzten Mal einen Beamten an seinem Diensttelefon erreichte. Unauffälligkeit scheint die Tugend Nummer eins unter den Beamten zu sein: Wer erreichbar ist, könnte ja den Verdacht erwecken, er sei nicht beschäftigt. Die Pressestellen mancher Behörden scheinen sich einen regelrechten Wettkampf darin zu leisten, wer für Journalisten am schwierigsten zu erreichen ist.
Im Dienstleistungssektor gilt als wichtigster Dienst am Kunden, dessen Geduld zu trainieren. Ob Wechselstuben, Kiosks, Reisebüros und Telefon-Hotlines – bei ihren Mitarbeitern scheint ganz oben im Dienstplan zu stehen, dass sie so lange wie möglich „aus technischen Gründen“ ihren Arbeitsplatz verlassen und zu schließen haben – wobei der „technische Grund“ oft in einer Rauchpause oder einem dringend notwendigen Plausch mit der Verkäuferin aus dem Nachbarladen zu bestehen scheint.
In den ersten Monaten oder gar Jahren ärgern sich viele ignorante Ausländer über derartiges Ungemach. Mit der Zeit lernen sie die Kehrseite der Medaillen kennen – und zu schätzen. Wo sonst in der Welt würde sich ein hochrangiger Regierungsbeamter Zeit für ein ausschweifendes Mittagsessen mit einem Ausländer nehmen? Wo kann man mal nach Herzenslust bei rot über die Ampel fahren, weil der Verkehrspolizist gerade eine „technische Pause“ macht? Wo kann man sich wochenlang mit der Bezahlung einer Rechnung Zeit lassen und sich dann herausreden, dass man telefonisch niemanden erreicht hat?
Die hohe Kunst des Russland-Verstehens ist es, die etwas andere Arbeitsmoral nicht als Ärgernis, sondern als Bereicherung aufzufassen. Während die Deutschen leben, um zu arbeiten, arbeiten die Russen, um zu leben, meint mein Fotograf Igor hämisch: „Ich würde mich zwar nie in ein russisches Auto setzen, viel lieber in ein deutsches. Aber auf ein Bier hocke ich mich viel lieber mit Russen zusammen als mit Deutschen. Wir bauen die schlechteren Wagen, aber wir sind dafür weniger spröde, phantasievoller und witziger.“
Nach dem wirklich unangenehmen „Job“ mit dem Lauterbach-Interview bin ich Ihnen für ein Schmerzensgeld besonders dankbar – und verspreche dafür, auch beim nächstem Mal wieder in den sauren Apfel zu beißen und wachsam an dem gefährlichen Minister dran zu bleiben! Aktuell ist (wieder) eine Unterstützung via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.
Bild: ShutterstockLust auf mehr Geschichte über Igor und aus Russland? Die gibt es auch als Buch:
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