Mein ganz persönliches „Erweckungserlebnis“ hatte ich im Jahr 2019. In einem Freizeitpark im Schwarzwald sorgte damals ein Karussell für Empörung, da seine schwenkbaren Arme beim Drehen ein Hakenkreuz-Muster bildeten. Der Betreiber übte sich sofort in Unschuldsbeteuerungen und legte das Karussell sofort still. Doch das konnte den rot-grünen Volkszorn nicht bremsen. Ein Video der Fahrt löste in den Erregungs-Hohlräumen im Internet größte Entrüstung aus. Die Verantwortlichen betonten, dass das Design rein zufällig sei, das arme Karussell durfte sich nicht weiter drehen, und seine Arme wurden umgestaltet.
Mich erinnerte das stark an eine alte Anekdote: Eine empörte Frau beschwert sich in den prüden Anfangsjahren des letzten Jahrhunderts bei der Polizei, dass man die – in ihren Augen völlig unzüchtig angezogenen – Badenden in einem Freibad sehen kann. Der Polizist entgegnet: „Aber da steht doch extra ein drei Meter hoher Zaun drumherum“. Daraufhin die Frau: „Ja, aber wenn man auf den Baum klettert, dann sieht man alles!“ Genauso verhält es sich mit dieser irren Nazi-Tourette: Man muss sich beziehungsweise seine Gedanken schon weit verrenken, um in diesem Karussell ein Hakenkreuz zu sehen – aber manche sind ja darin geübt.
Inzwischen hat diese Nazi-Paranoia ein Ausmaß erreicht, das Realsatire darstellt. Wobei sie politisch befeuert und instrumentalisiert wird – man denke nur an die Verurteilung des AfD-Politikers Björn Höcke wegen seines Satzes „Alles für Deutschland“ – von dem vorher niemand wusste, dass er angeblich (auch) eine Parole der SA gewesen sein soll. Wobei andere Prominente diesen Satz ohne jegliche negative Folgen aussprechen durften – er scheint nur dann ein SA-Spruch zu sein, wenn er aus dem Munde Höckes kommt (siehe hier).
Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre, dass der Nationalsozialismus fast 80 Jahre nach dem Tode von Adolf Hitler in Deutschland immer noch Teile der Tagespolitik bestimmt – durch einen weit verbreiteten und politisch instrumentalisierten Verfolgungswahn, den allein als solchen zu benennen schon ein großes Tabu ist.
An all das musste ich denken, als ich folgende Überschrift beim öffentlich-rechtlichen Sender rbb las: „Rechtsextreme Phraseologie: Hertha BSC positioniert sich klar gegen Fan-Ausruf „Ha Ho He – und fette Beute“.
Ja, Sie ahnen es schon: Auch die Worte „fette Beute“ sollen jetzt Nazi-Sprech sein.
Ich hätte sie bisher eher der Angler-, Jäger- oder Ganovensprache zugeordnet (wobei ich eingestehen muss, dass zumindest Letzteres eine gewisse Schnittmenge mit den Nationalsozialisten darstellt).
Die Staats-Journalisten vermelden: „Fußball-Zweitligist Hertha BSC grenzt sich klar von einem Fan-Ausruf ab, der in den vergangenen Monaten vermehrt in Kommentarspalten in den Sozialen Medien zu lesen gewesen sei. Mit Verweis auf den altbekannten Fan-Ausruf ‚Ha Ho He‘ und dem Zusatz ‚und fette Beute‘ teilte der Klub am Sonntag mit, jegliche Kommentare unter vereinseigenen Beiträgen zu löschen, die diese Phrase enthalten.“
Hertha BSC wehrte sich auch dagegen, dass ein Fan einen offiziellen Fanklub unter dem Namen „Ha Ho He und fette Beute“ anmelden wollte.
Der Verein wolle „niemandem bei der Benutzung dieser Phrase eine böse Absicht unterstellen, jedoch wollen wir im Hinblick auf die Werte unseres Vereins, unseres Ethikkodexes und dem Hintergrund dieses Ausspruchs aufklären und sensibilisieren. […] Wir grenzen uns stark ab von NS-Slogans und -Gedankengut und sehen unseren Sport nicht in der Tradition von Krieg“, hieß es in einer Vereinsmitteilung.
Was in der DDR der „Klassenstandpunkt“ war, sind im neuen Deutschland „Haltung“ und „Abgrenzung“. Man hat den Eindruck, dass kein Tag vergeht, an dem nicht irgendeine Person, Organisation oder ein Fußballverein sich von irgendetwas abgrenzt oder „Haltung“ an den Tag legt und seine progressiven Werte beteuert.
Und die Medien geben all dem einen gigantischen Resonanzraum – ganz so, als fühlten sie sich als Volkserzieher, die uns unmündigen, latent stets rechtsextremen Bengel da draußen ständig mit dem Zeigefinger belehren und umerziehen müssen.
Um in dem Fan-Spruch „Ha Ho He und fette Beute“ eine Nazi-Parole zu sehen, muss man ähnlich verquer denken wie die Frau in der eingangs geschilderten Anekdote, die sich beklagte, vom Baum aus könne man trotz des hohen Zauns die Badenden sehen.
Man muss sich fragen, wo das Ganze noch enden soll. Muss demnächst auch der Begriff „Autobahn“ aus dem Sprachgebrauch verschwinden, weil Hitler die Schnellstraßen massiv ausbauen ließ? Dürfen wir bald keine „Volksfeste“ mehr feiern, weil der Nationalsozialismus alles mit „Volks-“ propagierte? Und wie steht es mit „Wirtschaftswunder“? Vielleicht wäre das nächste Ziel der Sprachhüter ja, den Begriff aus unseren Geschichtsbüchern zu tilgen, weil er an das wirtschaftliche Wachstum nach dem Krieg erinnert – ein Wachstum, das es im Dritten Reich schließlich auch gab.
Deutschland, genauer gesagt seine Politik und seine Medien erinnern immer mehr an einen Kindergarten, in dem die Erzieher verschwunden sind.
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