Von Gregor Amelung
Das Wasser – ob bereits in Flüssen und Bächen oder noch als Regentropfen im Anmarsch – klopfte förmlich an die Tür des Krisenstabes in Bad Neuenahr-Ahrweiler.
Schlüsselmoment um 19 Uhr 9
Warum es dort nicht gehört wurde, dafür hat der zuständige Landrat Jürgen Pföhler (CDU) später folgende Erklärung: „Um 19.09 Uhr sei für ihn ein Schlüsselmoment gewesen, erzählt Landrat Jürgen Pföhler später einer Zeitung“, so Tagesschau.de. Zu diesem Zeitpunkt sei die Prognose für den Hochwasserpegel Altenahr von bisher 5 auf 4 Meter herunterkorrigiert worden. „Das muss man wissen“, so Pföhler weiter. Denn „wenn wir uns mal das sogenannte Jahrhunderthochwasser von 2016 im Ahrkreis anschauen, war damals der höchste Pegelstand 3,71 Meter“.
Die Deklaration des Ahr-Hochwassers aus dem Jahre 2016 als „Jahrhunderthochwasser“ ist für den höchsten Verantwortungsträger im Krisenstab eine potenziell gefährliche Interpretation, denn mit ihr ignoriert Pföhler die katastrophalen Flutwellen von 1910 und 1804 und damit indirekt auch die spezielle Trichterwirkung des Ahrtals. Darüber hinaus erklärte Landrat Pföhler leicht holprig: „Da sage ich mal wertend für alle diese Einheiten: Gut. Damals hatten wir 3,71, jetzt haben wir 4.“ Und deshalb sah man im Krisenstab auch keinerlei Anlass zur Evakuierung der Bevölkerung, so die Koblenzer Rhein-Zeitung.
Innenminister Roger Lewentz
Etwa zur Zeit der 4-Meter-Prognose war auch der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) von der technischen Einsatzleitung kommend im Krisenstab eingetroffen. Und auch Lewentz hatte bezüglich einer Evakuierung „keine andere Einschätzung“, so Pföhler.
Das ist insofern etwas verwunderlich, weil man beim Juni-Hochwasser 2016 – also bei 3 Meter 71 – alleine 25 Personen mit Booten oder Hubschraubern hatte retten müssen. Allerdings geschah das damals bei Tageslicht. In der Nacht sind solche Rettungseinsätze selbst mit Suchscheinwerfern nahezu undurchführbar. Und genau dieser Umstand hätte dem Krisenstab, Herrn Pföhler und Herrn Lewentz, schon doch auch beunruhigen müssen, denn die Sonne ging an diesem Julitag um 21 Uhr 40 unter. Rechnet man wegen des Regens und der Wolkendecke noch 20 Minuten zivile Dämmerung hinzu, dann hätte man für eine improvisierte Notevakuierung der ufernahen Bereiche ab jetzt noch knapp drei Stunden Zeit. Danach würde jede Person, die man von einem Haus- oder Wohnwagendach retten müsste, bis etwa 5 Uhr morgens, also rund sieben Stunden warten müssen. Und je eher eine solche Person verletzt ist, desto eher wird so eine „Wartezeit“ zu einem nahezu unkalkulierbaren Risiko.
Die Nacht geblendet und auf einem Auge blind
Mit anderen Worten: Man musste sich im Krisenstab schon verdammt sicher sein, dass die aktuelle Prognose hält und dass der Pegel nicht doch noch über die prognostizierten 4 Meter steigen würde, sondern dass die kritische Phase noch vor Einbruch der Nacht überstanden ist.
Kurz nach 19 Uhr sprechen allerdings zwei gewichtige Gründe dagegen. Zum einen ist der Pegel am Sahrbach um 18 Uhr 15 ausgefallen. Der Ahr-Zufluss liegt einige Kilometer flussaufwärts vom Pegel in Altenahr, auf den sich die Prognose von 19 Uhr 9 bezogen hatte. Bis zum Pegel-Ausfall war der Bach extrem steil angestiegen, hatte dabei alle bisher gemessenen Rekordmarken gebrochen und als letzten Wert 3 Meter 27 gemessen. Fast 1 Meter 30 oder 64 Prozent über dem bisherigen Rekordwert aus dem Jahr 2007. Landrat Pföhlers wichtige 2016er Marke (hier 1,41 m) hatte der Bach bereits am Nachmittag gegen halb vier hinter sich gelassen.
Wie viel Wasser der Sahrbach, der immerhin 5 Prozent des Einzugsgebiets der Ahr repräsentiert, im dem Moment tatsächlich führte, wusste niemand. Hier war man de facto blind.
Zu dieser Unsicherheit kam noch hinzu, dass der Ahr-Pegel am Oberlauf bei Müsch, der bereits gegen 16 Uhr 15 die Rekordmarke von 2016 geknackt hatte, immer noch im Ansteigen begriffen war. Beides musste man im Krisenstab – ganz oder teilweise – ausblenden, um an der von Landrat Pföhler berichteten positiven Lagebeurteilung aufgrund der 4-Meter-Prognose von 19 Uhr 9 festhalten zu können.
Innenminister: »Ich kann diese Lücke nicht füllen«
Ein ähnlich positives Bild wie Pföhler hatte allerdings offenbar auch Rheinland-Pfalz‘ Innenminister Roger Lewentz, denn Lewentz verlässt das Krisenzentrum nach eigenen Angaben bereits „gegen 19 Uhr 30“. Zu diesem Zeitpunkt hatte Lewentz laut Tagesschau.de den Eindruck, dass dort erfahrene Leute waren, die bereits das Hochwasser 2016 bewältigt hatten, und dass alles vorbereitet sei. Und natürlich hätte man evakuieren können, aber das wäre nicht seine Entscheidung gewesen, sondern die des Kreises. „Nur der Landrat sowie der zuständige Brand- und Katastrophenschutzinspekteur hätten das aus der Erfahrung von 2016 wissen können“, so Lewentz. Er selbst hätte „diese Lücke nicht füllen“ können.
Neben der nebulösen Formulierung von der „Lücke“, die Roger Lewentz hier in seinen Bericht eingeflochten hat, war es schon auch bemerkenswert, wie wenig Entscheidungskompetenz er sich als Innenminister des betroffenen Bundeslandes hier attestierte. Lewentz ist nämlich kein Novize, sondern bereits seit Mai 2011 im Amt.
»Ich bin so gegen 19.30 Uhr weg«
Lewentz’ Abgang aus dem Krisenstab beschreibt die Koblenzer Rhein-Zeitung in einem Artikel vom 23. Juli dann so: „‚Ich habe mich dann zurückgezogen, um erreichbar zu bleiben‘, erinnert sich der Innenminister an den Abend des 14. Juli. Denn die Kommunikation im Kreis ist zu diesem Zeitpunkt längst zusammengebrochen. ‚Ich bin so gegen 19.30 Uhr weg‘, sagt Lewentz.“ Das legt die Vermutung nahe, dass es dem Innenminister bei seinem Abgang wohl primär darum gegangen ist, wieder ein funktionierendes Handynetz für sein Smartphone zu haben.
Das ist zwar einerseits verständlich, will aber andererseits nicht so ganz zur ruhigen und undramatischen Lageeinschätzung des Innenministers passen. Denn wie sollte man die Menschen ohne funktionierendes Handynetz warnen, falls doch noch eine akute Notlage eintreten sollte?
Genauso wie Lewentz war auch der Landrat Jürgen Pföhler am Katastrophentag nur kurzzeitig im Krisenstab anwesend, denn der Landrat hatte bereits vor mehreren Jahren die „‚Einsatzleitung im Katastrophenfall‘ an eine andere Person außerhalb der Kreisverwaltung delegiert“. Das erklärte Oberstaatsanwalt Harald Kruse von der Staatsanwaltschaft Koblenz, die Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung durch Unterlassen aufgenommen hatte, am 6. August auf einer Pressekonferenz. Die Abgabe der Einsatzleitung begründete Pföhler laut Bild.de damit, dass er als Jurist von Katastrophenschutz keine Ahnung habe. Folgerichtig sieht der Landrat für sich selbst auch „keine strafrechtlichen Fehler“.
Dienstvorschrift 100
Dabei ist es durchaus fraglich, ob der Jurist die „Einsatzleitung“ an eine andere Person einfach so hätte delegieren dürfen. Denn die Dienstvorschrift 100 (»Führung und Leitung im Einsatz Führungssystem«) besagt: „‚Bei weiträumigen und länger andauernden Großschadenereignissen oder in Katastrophenfällen wird die unmittelbare Leitung durch die politisch-gesamtverantwortliche Instanz nötig.‘ Einen Absatz weiter wird konkretisiert, wer genau das in diesem Falle ist: der Landrat“, so die Rhein-Zeitung vier Tage, nachdem herausgekommen war, dass Pföhler lediglich kurzzeitig im Krisenstab anwesend war.
Wer genau anstelle von Pföhler die Einsatzleitung im Ahrweiler Krisenstab in der Katastrophennacht inne hatte, teilte die Koblenzer Staatsanwaltschaft unter Berufung darauf, dass es sich um keine öffentliche Person handele, nicht mit.
Prognose um 19 Uhr 36 lautet 5 Meter
Sechs Minuten, nachdem Innenminister Lewentz „so gegen 19 Uhr 30“ den Krisenstab verlassen hatte, gibt das Mainzer Landesamt für Umwelt (LfU) eine neue Prognose heraus. Es revidiert damit seine 4-Meter-Vorhersage von 19 Uhr 9 und kommt zurück zu den zuvor um 15 Uhr 24 prognostizieren 5 Metern. Allerdings kommt die aktualisierte Prognose „nicht zeitnah“, so die Rhein-Zeitung, oder überhaupt „nicht“, so Tagesschau.de, beim Krisenstab an der Ahr an, obwohl solche Prognosen laut dem LfU automatisiert an die Landkreise und an die Warn-App Katwarn gesendet werden.
Egal welches Szenario hier zutreffend ist, rund 10 Minuten später muss den Verantwortlichen im Krisenstab ohnehin bewusst geworden sein, dass die 4-Meter-Prognose von 19 Uhr 9 so einfach nicht zutreffen kann. Sie wurde nämlich von keiner geringeren Instanz als der Realität selbst kassiert, indem der Ahr-Pegel in Altenahr um 19 Uhr 45 bereits 4 Meter 24 meldete. Nur eine Viertelstunde später war man schon bei etwa 4 Meter 50.
Realität holt den Krisenstab ein
Spätestens um 20 Uhr muss dem Krisenstab also klar vor Augen gestanden haben, dass man auf die 4-Meter-Prognose nicht mehr bauen konnte. Zumal der Kurvenverlauf des Ahr-Pegels nicht etwa auf eine Plateau-Bildung mit anschließendem Abfallen hinsteuerte, sondern stramm auf die Marke von 5 Metern zuhielt. Und dieses rasante Wachstum war seit 18 Uhr nahezu konstant. Alle 15 Minuten stieg das Wasser um 30 bis 40 Zentimeter.
Man brauchte also keinen Taschenrechner, um erkennen zu können, was passieren würde, wenn die Kurve damit in der kommenden Stunde weiter machen würde. Man wäre dann um 21 Uhr bei einem Wasserstand von 6 Metern.
Bei 6 Metern konnte man alle Erfahrungswerte aus dem Rekordjahr 2016 mit seinem Peak von 3 Metern 71 in die Mülltonne werfen. Die Differenz zwischen beiden entspricht einem ganzen Gebäudestockwerk. 6 Meter war eine Horrorzahl, mit der man sich in Schlagdistanz zur Katastrophe von 1910 befand. Verschärft wurde dieses Horrorvorstellung noch dadurch, dass die Flutwelle die ufernahen Ortschaften – ganz oder teilweise – vermutlich mitten in der Dunkelheit heimsuchen würde, ohne jede Aussicht auf rasche Rettung aus der Luft oder per Boot.
Wenn man im Ahrweiler Krisenstab unter diesen Voraussetzungen immer noch nicht bereit war, eine sofortige Notevakuierung in die Wege zu leiten – zumal noch gut vier Stunden ergiebiger Regen vor einem lag –, dann hätte man kurz nach 20 Uhr mindestens eine deutliche Warnung an die Bevölkerung absetzen müssen. Um anschließend – also falls bis 20 Uhr 30 immer noch keine Entspannung in Sicht kommen sollte – den roten Knopf für eine Evakuierung zu drücken. Und zwar so dolle, dass der erst wieder im Keller zum Stillstand gekommen wäre. Alleine schon deshalb, weil der Ahr-Pegel am Oberlauf bei Müsch um 20 Uhr die dortige 4-Meter-Marke gerissen hatte. Damit lag der Pegel nun 46 Prozent höher als bei seiner bisherigen Rekordmarke im Jahr 2016. Das konnte für die rund 13 Kilometer flussabwärts von Müsch gelegene Gemeinde Schuld in den kommenden zwei Stunden gefährliche – vielleicht sogar unkalkulierbare – Folgen haben.
Horror-Prognose des Landesamts für Umwelt
20 Uhr 36. Das Mainzer Landesamt für Umwelt (LfU) gibt laut dem Bonner General-Anzeiger eine aktualisierte Prognose heraus. Ihre beiden Kernaussagen lauten:
– Das Hochwasser wird bei Altenahr eine Höhe von etwa 6 Metern 90 haben
– Die Flutwelle erreicht Altenahr etwa in der Morgendämmerung
Alle Ortschaften, die von Altenahr aus gesehen flussaufwärts liegen – beispielsweise Schuld –, würde die Welle vorher treffen, also mitten in der Dunkelheit.
Ob diese LfU-Meldung den Krisenstab erreicht hat, ist unklar. Da zeitnah kein Warnhinweis zur Evakuierung beispielsweise in Schuld erfolgt ist, muss man davon ausgehen, dass auch diese Prognose aus bisher ungeklärten Gründen an den Verantwortlichen im Stab vorbeigegangen ist. Trotzdem erhielt man dort nur neun Minuten später einen geradezu ultimativen Hinweis aus der Realität, der eigentlich zum sofortigen Handeln hätte führen müssen: Um 20 Uhr 45 maß der Ahr-Pegel bei Altenahr nämlich sage und schreibe 5 Meter 75.
Spätestens jetzt hätte man im Ahrweiler Krisenstab auch mal zum altmodischen Telefon greifen können, um bei denen im Landesamt für Umwelt in Mainz anzurufen und nachzufragen, was für einen Mist sie denn um 19 Uhr 9 berechnet hatten? 4 Meter, lächerlich! Die Ahr stand ja aktuell schon fast bei 6 Metern!
Aber weder so ein klärender Anruf im Mainzer Landesamt noch eine Warnung an die Bevölkerung an der Ahr ging raus. Stattdessen setzte der Landkreis um 20 Uhr 56 einen Tweet mit dem längst überholten Pegelstand von „5,09 Meter“ ab.
Da ist irgendwas
Vier Minuten später war es 21 Uhr, und zu dieser Uhrzeit hätte sich eigentlich der Ahr-Pegel bei Altenahr mit einem neuen, jetzt aktuellen Wasserstand melden müssen. Tat er aber nicht. „Das fiel in der Einsatzzentrale aber erst später auf. ‚Irgendwann gegen 22 Uhr war klar, der Pegel ändert sich nicht mehr, da ist irgendwas‘, sagte Fachbereichsleiter Erich Seul am Sonntag“ nach der Katastrophe, so die Koblenzer Rhein-Zeitung.
Eine eher unverständliche Einordnung, denn ein Pegelausfall hatte ja bereits am Sahrbach um 18 Uhr 15 stattgefunden, womit die Möglichkeit eines Ausfalls eigentlich bereits um 21 Uhr im Krisenstab hätte zur Debatte stehen müssen. Zumal der Pegel bei Altenahr nicht in einem Betonbunker untergebracht ist, sondern in einem einfachen Häuschen. Ausgelegt für ein friedliches Flüsschen, das normalerweise zwischen 0,5 und 1 Meter Wasser mit sich führt.
Der Gedanke, dass der im Jahr 1991 eingerichtete Pegel und sein Häuschen bei wahrscheinlich inzwischen mehr als 6 Metern Wasserstand immer noch tadellos funktionieren, erscheint unverständlich bis irre.
Zuvor hatte das Mainzer Landesamt für Umwelt nach Informationen der »FAZ« noch um 21 Uhr 26 die Kreisverwaltung in Ahrweiler „direkt“, also zusätzlich zur automatisierten Prognose darüber informiert, „dass in Altenahr ein Pegel von 6,9 Metern zu erwarten sei“. Daraus leiteten sich allerdings keine Handlungen beim Krisenstab ab. Die Zeit verging und mit ihr ging um 21 Uhr 41 auch die Sonne unter. Danach folgte eine wegen der Bedeckung durch die Regenwolken eher kurze bürgerliche Dämmerung, die vermutlich bereits um 22 Uhr endete.
23 Uhr 9. Laut Rhein-Zeitung wird eine „Evakuierungsaufforderung“ für den Bereich 50 Meter links und rechts der Ahr verbreitet.
23 Uhr 15. Auf der Website der Kreisverwaltung wird unter der Überschrift »UPDATE LAGEBERICHT: STARKREGEN UND HOCHWASSER AN DER AHR« mitgeteilt, dass Landrat Pföhler die „Alarmstufe 5 und damit den Katastrophenfall ausgerufen“ habe und dass derzeit „in den Städten Bad Neuenahr-Ahrweiler und Sinzig sowie im Stadtteil Bad Bodendorf alle Gebäude im Umkreis von 50 Metern rechts und links der Ahr evakuiert“ werden. 8 Minuten später geht ein ähnlich lautender Tweet heraus.
Mindestens 133 Menschen sterben durch die Hochwasserkatastrophe, 766 werden verletzt, 4 Personen gelten immer noch als vermisst. Trotz der hohen Opferzahl begann allerdings bereits am folgenden Tag eine leise, fast unmerkliche Vertuschung. Ein Wegsehen hier, ein verbales Verwischen und Verschieben der Koordinaten dort.
Sanfte Vertuschung
Die großen Medien, allen voran ARD und ZDF, sind eigentlich integraler Bestandteil eines jeden öffentlichen Warnsystems beispielsweise über den täglichen Wetterbericht, die Radio- und Fernseh-Nachrichten oder Warnhinweise in Laufbändern. Sowohl über den Deutschen Wetterdienst (DWD) als auch über das Warnsystem MonWaS waren die Medien im Vorfeld der Katastrophe informiert gewesen, genauso hatten sie Zugang zu diversen Informationen am 14. Juli, als sich die Katastrophe begann abzuzeichnen. Danach wollte man sich allerdings genau damit nicht auseinandersetzen.
Als Karsten Schwanke am 15. Juli erneut vor seine Wetterkarte bei »SWR Aktuell« trat und Bilanz zog, hatte man fast den Eindruck, es war halt einfach sehr viel Regen gefallen.
Trotz eines Milliardenbudgets, das teure Grafiken und Computer-Animationen erlaubt, erläuterten ARD und ZDF die Vorgänge vor und in der Katastrophennacht nicht. Die gemessenen und die historischen Daten wurden nicht mit den Prognosen und Meldewegen in einen klärenden Zusammenhang gesetzt, um dem Zuschauer ein Gesamtbild zu vermitteln. Stattdessen beließ man es bei Allgemeinplätzen.
Parallel sucht die Politik ihr Heil im „Klimawandel“. Auch vor „Besserwisserei“ wurde gewarnt und davor, dass „Schuldzuweisungen“ nun nichts bringen – jetzt ginge es darum, den Menschen vor Ort zu helfen!
Nach den historischen Vorläufern der Flutwelle aus dem Jahre 1804 und 1910, die den Verantwortlichen hätte bekannt sein müssen, fragte niemand. Genauso wenig interessiert man sich für die öffentlich zugänglichen Pegel der Zuflüsse als Frühindikatoren für die Katastrophe. Die sonst bei ARD und ZDF so beliebte „Faktencheckerei“ fand in diesem Fall nicht statt.
Staatsanwalt nimmt Innenminister aus der Schusslinie
Anfang August stimmte dann auch die Koblenzer Staatsanwaltschaft in den Chor ein. Nicht, indem sie gegen Landrat Pföhler und die Person, an die er die „Einsatzleitung“ delegiert hatte, Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung durch Unterlassen aufgenommen hatte, sondern durch das Zeitfenster, das sie dabei vorgab: Es haben sich „Anhaltspunkte dafür ergeben, dass am 14.07.2021 spätestens ab etwa 20.30 Uhr Gefahrenwarnungen und möglicherweise auch die Evakuierung von Bewohnern des Ahrtals […] geboten gewesen wären.“ Damit nimmt man Innenminister Roger Lewentz (SPD), der den Krisenstab in Ahrweiler nach eigenen Angaben „gegen 19 Uhr 30“ verlassen hatte, komfortabel aus der Schusslinie.
Dabei müsste man das Fenster der Ermittlungen eigentlich am Zusammenkommen des Krisenstabes um 17 Uhr 40 festmachen oder an der ersten Prognose, die erkennen ließ, dass dieses Hochwasser potentiell lebensgefährlich sein könnte und somit auch eine Unterlassung mit Todesfolgen möglich wäre. Diese Prognose stammt von 15 Uhr 24, als das Mainzer Landesamt für Umwelt einen Pegel von 5 Metern prognostiziert hatte.
Darüber hinaus ist es unverständlich, dass man die Ermittlungen auf 12 Todesopfer in Sinzig, also ganz am Ende der Ahr kurz vor ihrer Mündung in den Rhein, konzentriert. Denn je weiter flussabwärts man einen Todesfall untersucht, desto später kann man den Zeitpunkt ansetzen, ab dem man hätte evakuieren müssen. Die Gemeinde Schuld hätte man beispielsweise etwa 6 Stunden früher als Sinzig vor der Flutwelle warnen müssen. Das würde aber zwangsläufig den Ermittlungszeitraum nach vorne schieben und dann auch Innenminister Lewentz mit einschließen. Im Moment ist der nicht mal Zeuge bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Und so muss er auch gar nicht erst erklären, wie ein Krisenstab, den er vor 19 Uhr 30 als „ruhig und konzentriert arbeitend“ erlebt hatte und der offenbar „alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen“ hatte, so dermaßen danebenliegen konnte, nachdem ihn Roger Lewentz gegen 19 Uhr 30 verlassen hatte. Dass die Presse den SPD-Mann mit solchen Fragen grillt, ist kaum zu erwarten.
Ja, Landrat Pföhler oder besser gesagt die Person, an die er die Einsatzleitung delegiert hatte, wäre für Politik und Medien das ideale Bauernopfer. Mit ihm könnte man alle lästigen Fragen begraben und die Flut in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 an der Ahr als Folge des weltweiten „Klimawandels“ abheften. Parallel dazu installiert man noch öffentlichkeitswirksam ein paar Sirenen, an denen es ja diesmal auch irgendwie gehapert haben soll.
Den ersten Teil „Tödliches Systemversagen vor dem Hochwasser an der Ahr“ finden Sie hier.
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