Hoppla! Was ist jetzt passiert? Gestern galt man noch als Corona-Ketzer, wenn man forderte, alle Corona-Maßnahmen aufzuheben, wenn alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot erhalten haben. Ich stellte diese Frage auf der Bundespressekonferenz, die Antworten waren in meinen Augen sehr ausweichend, böse könnte man auch sagen: gereizt („Das ist erst einmal eine sehr theoretische Debatte“ – nachzulesen alles im Wortlaut unten).
Und jetzt das! Ausgerechnet der Außenminister der SPD verlangt das gerade noch Verpönte: „Corona – Maas fordert: Im August können ALLE Corona-Maßnahmen weg!“ – so titelt die „Bild“-Zeitung. Und fügt dann hinzu: „Jetzt könnte es ganz schnell gehen!“
Im Laufe des August, also pünktlich vor der Bundestagswahl, sei mit dem Wegfall zu rechnen, sagte Maas der Deutschen Presse-Agentur und der „Süddeutschen Zeitung“: „Wenn alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot haben, gibt es rechtlich und politisch keine Rechtfertigung mehr für irgendeine Einschränkung.“ Tatsächlich soll das nach aktuellen Angaben von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schon Ende Juli der Fall sein.
Maas als Außenminister ist das Mitglied des Kabinetts Merkel, das am deutlichsten sieht, wie in anderen Ländern zunehmend mit weniger Hysterie und „Verbotsorgien“ auf Corona reagiert wird als in Deutschland. Nicht auszuschließen, dass ihn dieser Blick von außen geerdet hat gegen die Binnen-Panik und Verbotswut in der Blase Berlin.
Oder hat Maas den Eindruck, dass die Stimmung gekippt ist? Und man nicht mehr, wie lange Zeit, mit Forderung nach noch mehr Verboten und Einschränkungen Sympathien einfährt – sondern inzwischen umgekehrt die Zahl derjenigen, die von den Maßnahmen ermüdet sind und sie bezweifeln, stark gewachsen ist?
Will er sich gegen Kanzleramtsminister Braun positionieren? Der hatte ja gerade noch eine massive Diskriminierung von Nicht-Geimpften in Aussicht gestellt. Denen, so Braun, könnten neue Lockdowns drohen, die Geimpften erspart blieben. Das Szenario Maas schließt das aus – Ende der Maßnahmen, sobald alle ein Impfangebot bekommen haben, egal, ob es angenommen wird oder nicht.
Wie auch immer – ähnlich wie Maas hatte sich zuvor schon der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Andreas Gassen geäußert: „Spätestens im September wird für jeden Impfwilligen ein Impfangebot verfügbar sein, dann müssen eigentlich nahezu alle Corona-Maßnahmen weg“, sagte Gassen gegenüber BILD. „Jeder kann dann immer noch individuell entscheiden, ob er oder sie weiter Maske tragen will – Pflicht sollte es dann aber nicht mehr sein.“
Auch der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jan-Marco Luczak, machte Aussagen, für die man vor kurzem noch riskierte, massiv diffamiert zu werden: „Die Aufhebung von Schutzmaßnahmen ist verfassungsrechtlich zwingend“, sagte er der „Welt“.
Damit deutet sich an, dass in der öffentlichen Debatte allmählich die Corona-Scharfmacher wie Karl Lauterbach oder Markus Söder die Oberhoheit verlieren. Gerade erst hatte Söders Vize Hubert Aiwanger mit der Corona-Politik in Deutschland abgerechnet (siehe meinen Bericht hier).
Kippt damit die Stimmung? Für eine solche Schlussfolgerung wäre es noch zu früh. In großen Teilen von Politik und Medien hält sich hartnäckig das, was Aiwanger als „deutsche Lust an der ewigen Einschränkung“ bezeichnete. Allerdings geben die Zahlen aktuell den Covid-Hardlinern wenig Nahrung. Skeptiker indes befürchten, vor der Bundestagswahl im September könne es zwar zu massiven bis vollständigen Lockerungen kommen, nach dem Urnengang aber drohe dann pünktlich mit Einzug des Herbstes und damit auch der Atemwegserkrankungen, zu denen auch Covid-19 gehört, ein Lockdown-Déjà-vu.
Eine Prognose kann man guten Gewissens nicht abgeben.
Man kann nur hoffen oder beten.
Aber zumindest gibt es einen Hoffnungsschimmer.
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Bundespressekonferenz am 23. Juni
FRAGE REITSCHUSTER: Juristen sagen inzwischen: Die Hauptrechtfertigung für die Maßnahmen war der Gesundheitsschutz, was auch logisch ist. Es gibt die Auffassung, dass, wenn alle Bundesbürgern ein Impfangebot zugegangen ist und wenn jeder die Möglichkeit hatte, es dann rechtlich keine oder nur noch geringe Grundlagen für Grundrechtseinschnitte gibt. Wie sehen Sie diesen Widerspruch bzw. diesen Zwiespalt?
KAUTZ: Wen fragen Sie jetzt? Fragen Sie mich?
ZUSATZ REITSCHUSTER: Sowohl Herrn Kautz als auch Herrn Seibert, wer möchte.
SEIBERT: Wo sehen Sie einen Widerspruch? Wenn Sie uns auch das noch erklären würden.
ZUSATZFRAGE REITSCHUSTER: Ich möchte fragen, wo für Sie der Punkt erreicht ist, an dem die Grundrechtseinschränkungen nicht mehr gerechtfertigt sind, weil jeder ein Impfangebot bekommen hat. Wo sehen Sie hier den Knackpunkt? Das wäre der richtigere Ausdruck gewesen. Entschuldigung, dass ich mich hier nicht ganz genau ausgedrückt habe. Da haben Sie Recht.
KAUTZ: Das ist erst einmal eine sehr theoretische Debatte. Zum einen werden die Grundrechtseinschränkungen schon jetzt zurückgenommen, auch wenn wir noch nicht an dem Punkt sind, dass alle ein Impfangebot erhalten haben. Zum anderen weiß man nicht, wenn alle ein Impfangebot erhalten haben, wie sich die Pandemie dann entwickelt hat, ob es dann eine Mutante gibt, gegen die eine Impfung nicht wirkt. Jetzt eins zu eins zu sagen: „Wenn alle ein Impfangebot erhalten haben, können wir auf sämtliche Maßnahmen verzichten“, kann ich Ihnen so nicht prognostizieren. Es gibt natürlich eine Korrelation zwischen der Impfung der Bevölkerung und der Einschränkung von Maßnahmen. Wir hoffen auf eine ganz, ganz hohe Impfquote und darauf, dadurch auch die Maßnahmen, soweit es geht möglichst alle , möglichst schnell zurückzufahren.
SEIBERT: Aber es ist erst einmal unheimlich erfreulich, dass wir, was die Lieferungen betrifft und was das Impftempo betrifft, in der Lage sind, sagen zu können, dass wir es nach heutigem Stand wirklich auch schaffen werden, im Laufe dieses Sommers jedem, der es will, das Impfangebot zu machen. Der Appell ist, wie gesagt: Mögen es möglichst viele Menschen sein.
Bild: Shutterstock
Text: br