Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà:
Meine Knie sind weich. Wie soll ich dieser Frau in die Augen sehen? Was kann ich antworten, wenn sie mir Vorwürfe macht? Denn sie hat ja jedes Recht dazu. Tausend Gedanken springen mir durch den Kopf, als ich aus dem quietschenden Lift in dem abblätternden Plattenbau im Moskauer Norden steige und auf die Wohnungstür von Jewdokia Djomina zugehe. Was wird sie für Gefühle haben, wenn plötzlich ein Deutscher vor ihr steht? Sie, die im Konzentrationslager Ravensbrück saß. Der die Deutschen ihr ganzes Leben zerstört haben.
Die Tür öffnet sich, und ich bin erleichtert, als sie mich mit einem breiten Lächeln empfängt. Sie sagt auf Deutsch „Guten Tag“. Ich bin so verdutzt, dass ich für einen Moment selbst das Lächeln vergesse. Jewdokia Djomina führt mich direkt ins Wohnzimmer ihrer winzigen Wohnung. Der Tisch ist voll gedeckt. „Haben Sie heute eine Feier? Erwarten Sie Gäste?“, frage ich. „Nein“, sagt die alte Frau und ihre Augen erstrahlen in jugendlichem Glanz: „Das ist für Sie, Sie sollen doch nicht nur arbeiten und das Interview mit mir machen, Sie sollen auch etwas essen!“
Teures Fleisch und West-Schokolade
Ich traue meinen Augen und Ohren nicht. Was da auf dem Tisch steht, kostet sicher eine oder zwei Monatsrenten der alten Dame. Sie hat extra gekocht, teures Fleisch und sogar eine Flasche Wein und West-Schokolade aufgedeckt. „Jetzt stärken Sie sich erst mal, bevor Sie arbeiten und mich fragen!“
So sehr mich die Gastfreundschaft rührt, so schwer fällt es mir, sie anzunehmen. „Alles, was Du jetzt isst, fehlt ihr später, sie hat das mit ihren 77 Jahren nötiger als Du“, sage ich mir und greife kaum zu. Es ist das einzige Mal, dass Jewdokia Djomina ein wenig ärgerlich wird. Sie geht zum mütterlichen „Du“ über: „Mein Söhnchen, Du musst etwas essen, Du fällst mir doch vom Fleisch, wenn Du nicht zugreifst, werde ich wirklich böse!“
Sie erzählt ihre Geschichte. Die Gestapo hatte sie festgenommen, als sie zuhause mit Freunden zusammen saß – Hitlers Schergen hielten die Zusammenkunft für ein Untergrundtreffen. Mit Typhus und hohem Fieber kam Djomina 1943 ins KZ, musste Zwangsarbeit verrichten. Aus Liebe zur Heimat betrieb sie unter Lebensgefahr Sabotage, verpackte heimlich leere Patronen ohne Schießpulver, um so ihren Landsleuten an der Front Leben zu retten. Die KZ-Ärzte machten medizinische Experimente an ihr und ruinierten ihre Gesundheit. Mit einem Mal beginnt sie zu heulen, die Worte kommen kaum noch über ihre Lippen: „Ich konnte deswegen später nie Kinder bekommen. Dabei habe ich mir so sehr Kinder gewünscht.“
'Ich liebe die Deutschen'
Die Befreiung 1945 brachte Djomina neue Pein. In der Sowjetunion musste sie ständig zum Verhör. Hatte erneut Angst um ihr Leben. Stalin verdächtigte die ehemaligen KZ-Häftlinge der Spionage, der Zusammenarbeit mit den Deutschen. Djomina verstand die Welt nicht mehr; ausgerechnet sie, die unter Lebensgefahr sabotiert hat, wurde nun in der Heimat schief angesehen. Sie beschloss, über ihre Vergangenheit zu schweigen, erzählte niemandem von ihren Qualen in Deutschland, vom KZ. Erst nach der Perestroika traute sie sich wieder zu reden. 1994 las sie in der Zeitung, dass Nazi-Opfer Entschädigungen bekommen. Sie hoffte, von dem Geld ihr aufgeschwollenes Bein heilen zu können. Offiziell ist die medizinische Behandlung in Russland zwar kostenlos, doch ohne Geld wurde Djomina nicht richtig behandelt.
„Die Deutschen haben Ihnen so viel Leid zugefügt, sie haben ihr ganzes Leben zerstört, und ich komme heute als Deutscher zu Ihnen, und Sie empfangen mich wie einen Verwandten, haben einen Festtags-Tisch gedeckt. Warum?“ frage ich. Jewdokia Djomina legt meine Hand in ihre: „Ich liebe die Deutschen. Ein wunderbares Volk, Goethe, Schiller“, sagt sie mit leuchtenden Augen: „Auch in der Gefangenschaft gab es Leute, die mir Essen zugesteckt haben. Ich werde das nie vergessen. Man muss doch unterscheiden zwischen den Menschen und der Politik.“ Jewdokia Djominaschenkt schenkt mir Wein nach. „Hitler war ein Verbrecher, und viele haben sich verführen lassen, sind Faschisten geworden. Aber man darf das nicht in einen Topf werfen, viele Deutschen haben unter den Faschisten genauso gelitten wie wir. Die Politik ist das eine, die Menschen das andere“.
So wie Jewdokia Djomina denken die meisten Russen. Trotz all der unbeschreiblichen Schrecken des deutschen Angriffskrieges scheinen sie den Deutschen heute weitaus freundlicher gesinnt und weitaus besserer Meinung von ihnen zu sein als umgekehrt viele Deutsche von den Russen. Ob alt oder jung, viele können aus den Kriegsfilmen ein paar Worte Deutsch: „Hände hoch“ und „Hitler kaputt“, ausgesprochen „Сhende choch“ und „Gitler kapudd“. Deutschland ist eines der beliebtesten Länder in Russland, Deutsche werden mit offenen Armen empfangen. Und verabschiedet. Jewdokia Djomina umarmt mich vor dem Gehen kräftig und gibt mir einen Kuss auf die Wange.
Seit meinem Besuch bei der großen alten Dame sind fast sieben Jahre vergangen. Heute ist sie 84. Die Entschädigungszahlungen aus Deutschland hat sie erhalten; ihr Knie konnte sie endlich operieren lassen. Sie bekommt nur eine sehr kleine Rente, aber sie reicht für ihr bescheidendes Leben. Sagt sie zumindest. Und schließlich hat sie doch noch ein „Kind“ bekommen hat, das ihr nun auch materiell hilft: Ihr Neffe lebt jetzt bei ihr. Wohnungen sind extrem teuer in Moskau, und die Mietpreise schweißen die Generationen zusammen. „Bitte sagen Sie den Deutschen ein großes Dankeschön“, sagt Jewdokia Djomina heute: „Dank dafür, dass Sie ihre Vergangenheit nicht vergessen, für die Weisheit, sich nicht zu genieren, die Fehler ihrer Väter und Großväter offen einzugestehen.“
Nach dem wirklich unangenehmen „Job“ mit dem Lauterbach-Interview bin ich Ihnen für ein Schmerzensgeld besonders dankbar – und verspreche dafür, auch beim nächstem Mal wieder in den sauren Apfel zu beißen und wachsam an dem gefährlichen Minister dran zu bleiben! Aktuell ist (wieder) eine Unterstützung via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.
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